Wrestling

Wenn professioneller Sport auf professionelles Theater trifft

Gerd Hallenberger

Dr. habil. Gerd Hallenberger ist freiberuflicher Medienwissenschaftler.

Was vor über 100 Jahren als Jahrmarktsattraktion begann, ist heute zu einem überaus erfolgreichen Medienphänomen geworden. Im Grenzbereich zwischen nonfiktionaler und fiktionaler Unterhaltung angesiedelt, zwischen Sport und Theater, stellt das Wrestling eine ganz eigene kleine popkulturelle Welt dar, in der ganz besondere Regeln gelten.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 4/2018 (Ausgabe 86), S. 44-47

Vollständiger Beitrag als:

Ja, was hat das denn mit Sport zu tun?! Diese gerne mit einem Unterton von Empörung geäußerte rhetorische Frage begleitet die Geschichte dessen, was in den USA immer schon Professional Wrestling hieß und in Deutschland zunächst als Catchen bezeichnet wurde, seit seinen Anfängen. Tatsächlich unterscheidet sich Wrestling in einem zentralen Punkt grundsätzlich von konventionellem Sport: Während zu Beginn eines 100-m-Laufs oder eines Fußballspiels vollkommen offen ist, wer gewinnen wird, steht der Sieger beim Wrestling vorher fest. Trotzdem handelt es sich bei den Wrestling-Akteuren wie bei jeder konventionellen professionell betriebenen Sportart um Athleten, die viele Jahre trainiert haben, um das tun zu können, mit dem sie ihren Lebensunterhalt verdienen.

Andererseits ist Wrestling im direkten Vergleich auch in einigen Bereichen klarer Punktsieger: Wie oft kommt es beim „richtigen“ Sport beispielsweise vor, dass Sportereignisse schlicht langweilig sind? Wenn es klare Favoriten gibt, sind sie dies nicht grundlos – und die Wahrscheinlichkeit ist recht hoch, dass sie auch diesmal gewinnen werden. Typisch für den Außenseitersieg ist ja gerade, dass er selten vorkommt. Zudem sind die Sieger nicht unbedingt die interessantesten oder sympathischsten Teilnehmer – wie oft sind sie zwar nett, aber auch irgendwie langweilig? Und in aller Regel stehen Sportereignisse für sich – selbst bei wöchentlichem Ligenbetrieb wie etwa beim Fußball oder einer festen Abfolge von Turnieren wie beim Tennis fehlt ein übergeordneter Sinnzusammenhang jenseits der Addition der Ergebnisse zur Ermittlung des Meisters oder der Weltrangliste.

Wrestling kann in allen drei genannten Bereichen vorsorgen: Selbst wenn Favoriten siegen, sorgen Autoren dafür, dass der Weg zum Sieg mit vielen überraschenden Wendungen gespickt ist. Die Akteure sind immer auffällig und reizen zu emotionaler Anteilnahme, egal, ob zu Sympathie oder Antipathie. Und kein Wrestling-Match steht für sich allein – formal ist es in eine Dramaturgie aus Regelveranstaltungen und besonderen Events, inhaltlich in komplexe Storylines eingebunden.

Das alles sind natürlich keine Argumente, die im engeren Sinn mit Sport zu tun haben, aber dort, wo Sport zum Medienereignis wird, steht ja auch oft nicht der Sport an sich im Mittelpunkt. Ginge es bei Fußballweltmeisterschaften tatsächlich nur um Fußball, müssten die Zuschauerzahlen ähnlich sein wie bei Spielen von Vereinsmannschaften, sie sind jedoch wesentlich höher. Fußballweltmeisterschaften sind ein etabliertes Forum zur Inszenierung des besonderen „Wir“ von gefühlter nationaler Zugehörigkeit, das im Alltagsleben gerade keine Rolle spielt – aus dem gleichen Grund ist auch der „Medaillenspiegel“ die wichtigste Attraktion bei Olympischen Spielen, wenn man der Themensetzung der Boulevardpublizistik folgt.
 

Athletisches Körpertheater

Dass Wrestling in der heutigen Medienkultur ein so wichtiges Marktangebot geworden ist, lässt sich nicht zuletzt damit begründen, dass es sich um ein ganz besonderes Hybrid handelt. Dem ersten Anschein nach geht es offensichtlich um Sport, also um echtes und authentisches Leben, tatsächlich aber um Fiktion, also gespieltes Leben. Da Sport aufgrund seiner prinzipiellen Ergebnisoffenheit als geradezu paradigmatisch „authentisch“ gilt, fällt beim Wrestling seine Inauthentizität besonders auf. Im umgekehrten Fall würde ja auch niemand erwarten, dass bei einem Fernsehkrimi tatsächlich ein Schauspieler ermordet wird.
 


Wrestling spielt mit der Unterscheidung von Realität und Fiktion mithilfe einer einzigartigen Variante von Theater. Alle Matches sind Teil einer großen Erzählung, die von den Kämpfern und zusätzlichem Personal auf der Bühne des Kampfrings und um ihn herum inszeniert wird. Bei dieser großen Erzählung geht es um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, in neuerer Zeit auch verstärkt darum, zu erkennen, was gut und was böse ist. Erzählt werden Geschichten über Freundschaft und Feindschaft, Loyalität und Verrat, Moral und Gerechtigkeit, angesiedelt zwischen Commedia dell’Arte (vgl. Barthes 2010, S. 18) und Soap-Opera. Nicht ohne Grund sind das Theater und die Theaterwissenschaft der berufliche Hintergrund der Autorin der ersten wichtigen Monografie über Wrestling (vgl. Mazer 1998).

Es ist ein intensives, athletisches Körpertheater, das da aufgeführt wird – und ebenso sehr auf die Mitarbeit seines Publikums angewiesen wie das Kaspertheater für Kinder. Welche Storylines für Athleten geschrieben werden und ob sie sich überhaupt beim Wrestling halten können, hängt entscheidend davon ab, wie viel Emotion sie mit ihren Auftritten erzeugen können – egal, ob in Form von Begeisterung oder Buhrufen.
 

Eine eigene Welt, eine eigene Sprache

Wie bei jedem populärkulturellen Phänomen, das lange Zeit Kult für eine Minderheit war, bevor es zum Massenerfolg wurde, haben sich auch beim Wrestling früh eine eigene Terminologie und spezifische Codes entwickelt, deren Kenntnis Expertentum bewies. Der große Medienerfolg von Wrestling seit den 1980er-Jahren und vor allem das Internet haben diese spezifische Variante von kulturellem Kapital nicht nur entwertet, sondern das Wrestling selbst zu Reaktionen gezwungen.

Wer sich auch nur peripher für Wrestling interessiert, weiß heute beispielsweise, dass Kämpfer in Faces und Heels eingeteilt werden. Ein Face, kurz für „Babyface“, ist ein „Guter“, nett, der sich immer an die Regeln hält. Ein Heel dagegen ist „böse“, kämpft unfair und setzt auch verbotene Hilfsmittel ein. Ebenfalls nicht nur echten Fans ist bekannt, dass außer Wrestlern auch zusätzliches Personal wie als „Manager“ auftretende Akteure oder andere Begleiter als Face oder Heel auftreten können.

Obwohl sich allgemein herumgesprochen hat, dass Wrestling-Matches generell gescriptet sind, kennt nicht jede(r) die Details – etwa, dass die Autoren Booker genannt werden, diese alle Storylines und Charaktere festlegen, auch den Ausgang von Matches und gelegentlich besondere Kampfaktionen. In diesem Rahmen können Wrestler durchaus improvisieren, die Stars natürlich mehr als die Anfänger. Der wichtigste Schlüsselbegriff zum Verständnis von Wrestling kann zwar wie alle anderen terminologischen Eigenheiten problemlos im Internet recherchiert werden, das damit gemeinte Konzept ist jedoch komplexerer Natur: Kayfabe.

Die Herkunft des Begriffs ist unklar, in erster Annäherung lässt er sich als wrestlingspezifische Adaption eines schauspielerischen Verständnisses von Fiktionalität interpretieren. Wie Schauspieler beim Theater agieren Wrestler als Darsteller in einem vorher festgelegten Stück und sollen ein Publikum mit ihrem Spiel überzeugen. Das Gespielte soll nicht gespielt wirken, aber Kayfabe bedeutet viel mehr, weil Wrestling im Vergleich mit konventionellem Theater ein strukturell komplexeres Erlebnis beabsichtigt – und damit fast schon mit avantgardistischem Theater verwandt ist.

Vergleicht man den Wrestling-Ring mit der Theaterbühne, fällt sofort eines auf: Die viel zitierte „vierte Wand“ fehlt. Natürlich fehlt sie allein schon deshalb, weil der Ring in der Mitte des Veranstaltungsortes steht, viel wichtiger ist aber ihr Fehlen im übertragenen Sinn: Ein Teil der Kampfhandlung findet regelmäßig außerhalb des Rings statt, Ansprachen an das Publikum sind ebenso ein zentrales Inszenierungselement wie die Interaktion zwischen Publikum und Ring durch Anfeuern oder Beschimpfen. Im umgekehrten Fall wäre es schon äußerst ungewöhnlich, wenn sich etwa bei einer Shakespeare-Inszenierung ein Teil des Publikums durch laute Anfeuerungsrufe: „Go, Hamlet, go!“ akustisch bemerkbar machen würde. Kayfabe meint nicht nur, dass Wrestler und alle anderen sichtbaren Akteure trotz Rollenfestlegung und Storylines so tun, als sei das Geschehen im Ring „echt“, dieses So-tun-als-ob bezieht sich auf alle medialen Gestaltungsmittel (wie z.B. Interviews in Wrestlingshows oder anderem Fernsehen) und schließt sogar im Prinzip das Publikum ein.

Nicht zuletzt dieser Umstand verleiht Kayfabe besondere Brisanz. Einerseits ist „breaking kayfabe“ natürlich ein Illusionsbruch – wenn etwa laut Rollenzuweisung verfeindete Wrestler als Freunde „im wirklichen Leben“ zu sehen sind oder sich ein Wrestler nicht an Absprachen bezüglich eines Matchausgangs hält und sein Gegner dies öffentlich macht. Andererseits gilt für Wrestling natürlich dasselbe wie für alle anderen perfekt produzierten Medienprodukte: Interessant wird es, wenn etwas nicht funktioniert oder ein Akteur aus der Rolle fällt. „Breaking kayfabe“ kann auch neue Aufmerksamkeit erzeugen.
 

Medienstrategien und kulturelle Kontexte

Der Aufstieg des Wrestlings zu einer Medienattraktion fand in den 1980er-Jahren statt, zentraler Akteur war dabei der Wrestling-Manager Vince McMahon, der 1983 die World Wrestling Federation (WWF) von seinem Vater kaufte. Er modernisierte das Geschäft nicht nur durch die Einbeziehung aktueller Popprominenz und zeitgemäßer Inszenierungsformen, er erkannte auch das Potenzial des damals neuen Kabelfernsehens und der neuen Angebotsform Pay-per-View. Dadurch ließen sich auch bei einer traditionell eher randständigen und lokal verankerten Veranstaltungsart hohe Einnahmen generieren. Dank eines geschickten Zusammenspiels von Regelsendungen, die das Interesse an der WWF dauerhaft hochhielten, und besonderen (Pay-per-View-) Events machte McMahon die WWF, die nach einer Klage des World Wide Fund For Nature (WWF) heute World Wrestling Entertainment (WWE) heißt, bald zum Marktführer und nach dem Aufkauf des wichtigsten Konkurrenten im Jahr 2001 faktisch zum Monopolisten.

Eine wichtige Rolle spielten dabei neue Charaktere, deren schrille Kostümierung und übertriebenes Auftreten schon andeuteten, dass es hier nicht um Sport im traditionellen Sinn ging. Ein früher Erfolg war dabei die Figur Hulk Hogan, ein Wrestler im Superhelden-Outfit, der fleischgewordene Incredible Hulk. Und unglaublich war zumindest sein Erfolg: Er löste eine „Hulkamania“ aus und bescherte der WWE hohe Merchandisingerlöse. Zugleich bewies er, wie gut sich Wrestling als Medium symbolischer Erzählungen eignet – und als symbolische Bühne des konservativen Amerikas der Reagan-Zeit (vgl. Kutzelmann 2014, S. 144 ff.).

Den Beginn der „Hulkamania“ markiert ein Match gegen den Iron Sheik, der als symbolischer Stellvertreter des Irans von Ajatollah Chomeini auftrat. Nachdem 1979 die amerikanische Botschaft in Teheran von Anhängern des Ajatollahs besetzt worden war, um die Auslieferung des Schahs zu erpressen, wurden 52 Botschaftsangehörige über ein Jahr lang als Geiseln genommen – eine für die USA äußerst demütigende Episode. Im Match von Hogan gegen den Iron Sheik, das Hogan mit der Unterstützung eines lautstark „USA! USA!“ skandierenden Publikums gewann, konnte dann wenigstens symbolisch Rache geübt werden.

In neuerer Zeit haben sich die Wrestling-Charaktere deutlich verändert, nicht zuletzt, um ein etwas älteres Publikum zu erreichen – Comicfiguren sind kaum noch anzutreffen, stattdessen viele nicht so einfach zu durchschauende Charaktere, die nach eigenen Regeln spielen und leicht zwischen den Rollen „Face“ und „Heel“ wechseln können, wie etwa Stone Cold Steve Austin (vgl. ebd., S. 168 ff.).

Eines hat sich beim Wrestling jedoch nicht verändert: Egal, welches aktuelle Thema vordergründig in den Matches verhandelt wird, zentral bleibt ein anderes. Wrestling schafft es, gleichzeitig eine Parodie von Männlichkeitskonzepten aufzuführen und Männlichkeitskonzepte beispielhaft zu repräsentieren (Mazer 1998, S. 100). Die Spannung zwischen beidem lässt vor allem Angst erkennen – die Angst weißer Männer, dass ihr Panzer und Waffe gewordener harter Körper vielleicht doch nicht ausreichen wird, um ihre Welt zu retten …
 

Literatur:

Barthes, R.: Mythen des Alltags. Berlin 2010

Kutzelmann, P.: Harte Männer. Professional Wrestling in der Kultur Nordamerikas. Bielefeld 2014

Mazer, S.: Professional Wrestling. Sport and Spectacle. Jackson 1998