Immersion

Gerd Hallenberger

Dr. habil. Gerd Hallenberger ist freiberuflicher Medienwissenschaftler.

Medien erleben mit allen Sinnen auf allen Kanälen – ohne das Gefühl von Zeit und Raum? Die Technik macht das zunehmend möglich. 

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 1/2024 (Ausgabe 107), S. 70-71

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Jedes Gerät, das wir benutzen, um Musik zu hören, hat eine Lautstärkeregelung. Genauso haben wir bei jeder Art von Mediennutzung eine innere Intensitätsregelung. Sind wir nur gelangweilt und möchten einfach irgendwelche Bilder, bewegt oder nicht, mit Ton oder ohne, dann gehen wir in eine Art Scan-Modus. Erregt irgendein Reiz unsere Aufmerksamkeit? Dann kann der Scan-Prozess von der näheren Beschäftigung mit dem interessierenden Objekt abgelöst werden. Die natürlich nicht lange andauern muss, denn jede Enttäuschung der Erwartungen, die zuvor zur Intensivierung der Nutzung führten, hat wahrscheinlich die Rückkehr zum Scannen zur Folge. Die nächste Intensitätsstufe ist die selektive Zuwendung, die noch die parallele Nutzung anderer Medienangebote zulässt. Bei einer fiktionalen Produktion können mich etwa Genre, Schauspieler:innen oder Plot interessieren, bei einer nonfiktionalen z. B. Thema, Argumentation oder Machart. Auf der nächsten Stufe kommt das Angebot als „Werk“ in den Blick, verbunden mit dem Anspruch, bei der Nutzung alle wichtigen Aspekte des Werkes angemessen zu würdigen.
 

Was VR-Brillen mit uns machen (Terra X plus, 09.06.2021)



Immersion geht noch einen Schritt weiter, denn dabei handelt es sich nicht nur um eine Form des Umgangs mit einem Medienangebot, sondern darum, in dieses Angebot vollständig einzutauchen, ja geradezu darin zu leben. Es wird dann Teil der unmittelbar erfahrenen eigenen Lebenswelt, äußerer Raum und äußere Zeit treten in den Hintergrund. Die gefühlte Distanz zum Medienobjekt geht gegen null. Besonders intensiv ist dieses Erlebnis bei interaktiver Mediennutzung wie beim Gaming, da ich hier tatsächlichen Einfluss auf das Geschehen habe. Ich bin mittendrin, obwohl ich meinen Platz nicht verlasse. Diese Erfahrung wird in der Regel prinzipiell als positiv empfunden – der Mensch ist nun mal ein neugieriges Lebewesen, das gerne neue Welten kennenlernt.

Immersion wird heute oft mit technischen Gadgets assoziiert, etwa mit Headsets, die den Zugang in eine virtuelle Realität ermöglichen. Aber selbst wenn es nicht gleich um alle Sinne geht, sondern nur um einen, wird mit dem Versprechen von Immersion geworben. Häufig stößt man auf dieses Argument bei Klangerlebnissen, die sich in der Technikgeschichte schon oft verändert haben. Am Anfang stand der einzelne Lautsprecher, es folgte die Stereofonie und in den 1970er-Jahren eine kurze Phase der Quadrofonie. Danach ging es nicht mehr so sehr um die Vermehrung der Zahl der Lautsprecher, sondern um die Differenzierung des Lautsprecher-Set-ups mit dem Ziel einer möglichst wirkungsvollen Verräumlichung von Klangerlebnissen. Es folgte Surround-Sound, heute vor allem in der Konfiguration 5.1, und 3-D-Sound bei Dolby Atmos oder DTS:X. Zu „immersive Audio“ gehört bei AV-Medien natürlich „immersive Video“ – wobei das entscheidende Kriterium immer schon die Differenz zu früheren Medien war.

Selbst ersten Filmvorführungen wurde im Nachhinein bisweilen immersive Qualität zugeschrieben, da sich die Bilder im Unterschied zur Fotografie nun bewegten und an einem Ort vorgeführt wurden, der zur Konzentration auf diese Bilder einlud. Offensiv auf immersive Qualitäten setzte der Kinofilm in der Medienkonkurrenz mit dem Fernsehen. Was CinemaScope und 3-D-Film in den 1950er-Jahren waren, sind heute IMAX oder Dolby Cinema. Nicht durchsetzen konnten sich Entwicklungen wie das D-Box-System, sich bewegende Kinositze, oder das Geruchskino, die beide auf die Einbeziehung weiterer Sinnesreize jenseits von Bild und Ton bauten.

Um das Eintauchen in ein vorgegebenes Medienangebot zu erleichtern, lässt sich auf der Angebots- wie auf der Nutzungsseite an verschiedenen Stellschrauben drehen. Auf der Nutzungsseite spielen Art und Qualität der eingesetzten Technik eine zentrale Rolle. Immersive Nutzung gelingt bei AV-Angeboten umso leichter, je größer und hochwertiger das verwendete Display ist. Ein Film aus der Star Wars-Reihe lässt sich zwar auch auf einem Handy anschauen, ein beeindruckendes visuelles Erlebnis ist dies aber nicht. Wenn derselbe Film auf einem Fernseher mit Großbildschirm gesehen wird, steigt die mögliche Erlebnisqualität schon deutlich, noch mehr bei einem Kinobesuch. Gleiches gilt für den auditiven Teil von AV-Angeboten und erst recht bei Musik: Wer sich mit Handy-Lautsprechern oder Billigkopfhörern begnügt, wird kaum im Klang baden können, dafür ist schon ein guter Kopfhörer oder eine größere Soundanlage erforderlich.
 

Why do we binge-watch? (BBC Ideas, 24.03.2020 )



Auf der Angebotsseite lässt sich das immersive Potenzial eines Medienprodukts dadurch steigern, dass noch etwas hinzukommt. Dieses „Etwas“ kann sehr unterschiedlich sein. Ein Film, dessen Kinostart von umfänglicher Presseberichterstattung begleitet wurde, hatte schon immer bessere Chancen, wahrgenommen zu werden, und lud damit auch zu intensiverer Nutzung ein. Bonusmaterial, egal ob auf DVD oder Blu-Ray, zum Download oder Streamen bereitgestellt, kann den gleichen Zweck erfüllen. Eine durchaus erfolgreiche Strategie im Audiobereich ist in dieser Hinsicht die Einbeziehung physischer Memorabilien. In ihren „Immersion Box Sets“ zu einzelnen Alben bietet die Band „Pink Floyd“ beispielsweise u. a. auch faksimilierte Konzert-Eintrittskarten, Backstage-Pässe, Fotodokumentationen, Bierdeckel oder Schals.

All dies kann natürlich nur funktionieren, wenn der Medieninhalt bei Nutzer:innen ankommt. Erst dann kann außerdem die verfügbare Angebotsmenge immersive Nutzung begünstigen. Wie beispielsweise bei Fantasyromanen, die oft nicht nur als Einzelveröffentlichung besonders lang sind, sondern gerne auch Teil vielbändiger Reihen. Dass Streamingdienste fiktionale Serien bisweilen von Anfang an mit allen Folgen zum Abruf bereitstellen, hat sogar zu einer neuen Rezeptionsweise geführt: Binge Watching. Bei dieser Extremform immersiver Mediennutzung werden komplette Serienstaffeln am Stück gesehen, oft unter Aufwendung erheblicher Lebenszeit.

Das vollständige Eintauchen in Medienwelten ist aber auch ganz ohne moderne Technik möglich. Das erste immersive Medienerlebnis hatten die meisten von uns ganz altmodisch mit einem Buch – nur mithilfe unserer Fantasie.