Modernes Land mit Vorreiterrolle und Visionen

In Estland setzt man im Jugendmedienschutz auf Selbstregulation

Jens Dehn

Jens Dehn arbeitet als freiberuflicher Filmjournalist.

Estland ist ein kleines Land mit großen Visionen. Im Laufe der letzten Jahre hat es sich einen Namen als Innovator in den Bereichen der Digitalisierung und der neuen Medien gemacht. Als im Sommer 2017 die EU-Ratspräsidentschaft an Estland ging, war die Neuregulierung der Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste (AVMD) eines der zentralen Ziele, die auch eine Anpassung der Regelungen zum Schutz von Minderjährigen beinhaltet. Im estnischen Kino- und TV-Alltag setzt man dagegen weniger auf eine übergeordnete Kontrolle als vielmehr auf eine Selbstregulierung der Anbieter.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 3/2018 (Ausgabe 85), S. 4-7

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Wer in den vergangenen Monaten eine Zeitung aufgeschlagen hat, ist in den Artikeln wahrscheinlich mehr als einmal über Estland gestolpert. Der kleine baltische Staat mit nur 1,3 Mio. Einwohnern bekommt viel Anerkennung für seinen fortschrittlichen Umgang mit den neuen Medien. Die Entwicklung dahin hat bereits 1992 eingesetzt: In jenem Jahr wurde das „Recht auf Information“ in der Verfassung festgeschrieben. Der Staat hat seitdem dafür Sorge zu tragen, Menschen, die keinen privaten Zugang zum Internet oder zu einem Computer haben, beides im öffentlichen Raum (z.B. in einer Bibliothek) zur Verfügung zu stellen. Die Schulen in Estland wurden bereits 1997 mit Internetzugängen ausgestattet. Kinder lernen schon früh, sich verantwortungsbewusst im Internet zu bewegen. Themen wie Datenschutz, Urheberrecht oder Fake News sind hier Teil des Lehrplans. Kostenloses WLAN ist flächendeckend gesichert. Was mediale und digitale Kompetenz angeht, ist das kleine Estland eines der führenden Länder in der Welt. Drei der bekanntesten Esten sind entsprechend auch die Klassenkameraden Jaan Tallinn, Ahti Heinla und Priit Kasesalu, die vor 15 Jahren die Kommunikationssoftware Skype entwickelten, die heutzutage auf fast allen Rechnern und Smartphones installiert ist und dafür sorgt, dass sich rund um die Welt Menschen schnell und kostengünstig miteinander unterhalten können.
 

Überschaubare Medienlandschaft

Für die Bewohner Estlands, von denen alleine rund 440.000 in der Hauptstadt Tallinn wohnen, gibt es den Estnischen Rundfunk (Eesti Rahvusringhääling [EER]), der drei TV- und fünf Radiokanäle betreibt. Zudem gibt es 30 private Radioprogramme und 19 private TV-Kanäle. Sie alle müssen dem Gesetz für Medien folgen. Die Rundfunkverträge liegen in der Verantwortung des Kulturministeriums. Allerdings überwacht und bewertet das Ministerium keine Medien – auch nicht die öffentlich-rechtlichen. Eine regulierende Funktion im Medienbereich wird von der Technischen Regulierungsbehörde (Tehnilise Järelevalve Amet [TJA]) wahrgenommen. Sie übt die staatliche Aufsicht über die Einhaltung der Anforderungen des Mediengesetzes aus und hat die Rolle eines unabhängigen Kontrolleurs. Die TJA ist eine Regierungsorganisation, die 2008 gegründet wurde und im Verwaltungsbereich des Ministeriums für Wirtschaft und Kommunikation tätig ist. Sie erteilt auch Lizenzen für Anbieter von Mediendiensten. Die Technische Regulierungsbehörde verfolgt u.a. das Ziel, die nationale Wirtschaftsrichtlinie durch Verbesserung der Sicherheit zu unterstützen und die Zuverlässigkeit der Produkte im Bereich der elektronischen Kommunikation zu erhöhen.
 

Klassifizierungssystem für Kinofilme

In Estland gibt es rund 50 Kinos mit insgesamt 80 Leinwänden, was immer noch mehr ist als in Litauen und sogar doppelt so viel wie in Lettland. 3,5 Mio. Menschen besuchen jährlich die Lichtspielhäuser. Statistisch gesehen geht somit jeder Este – Estland hat wie gesagt rund 1,3 Mio. Einwohner – 2,7-mal im Jahr ins Kino.

Die Altersklassifizierungen für Kinofilme beginnen mit „PERE“, dem estnischen Wort für Familie. Diese Bewertung schließt Filme ein, die auch für jüngste Kinozuschauerinnen und -zuschauer geeignet bzw. speziell für diese Gruppe gedacht sind. Unter die Klassifizierung „L“ fallen Filme, die für jede Altersgruppe geeignet sind und keine Auflagen bekommen haben. „PERE“ und „L“ werden als grüne Quadrate mit weißer Schrift dargestellt. Blaue Rauten stehen für die Klassifizierung „MS6“ (frei für Kinder ab 6 Jahren) und „MS12“ (nicht für Kinder unter 12 Jahren empfohlen). Rote Kreise symbolisieren die Altersstufen ab 12 und ab 14 (dunkelrot) sowie ab 16 Jahren (hellrot), wobei der Kinobesuch für Kinder und Jugendliche dieser Altersgruppen in Begleitung eines Erwachsenen generell erlaubt ist. Die Kriterien für eine Klassifizierung innerhalb dieser drei Bereiche differieren in den Formulierungen nicht sehr stark: So ist bei den Schritten „ K-12“ und „K-14“ beispielsweise angemerkt, dass der Film „harte Sprache“ enthalten könnte, wogegen bei „K-16“ von „obszöner Sprache“ die Rede ist.
 

 

Auffallend an der estnischen Bewertungsskala ist zum einen, dass es zwei Kennzeichen für das Alter von 12 Jahren gibt: „MS12“, das lediglich eine Empfehlung ausspricht (der Film könnte Inhalte haben, die für dieses Alter nicht angemessen sind), und „K-12“, das den Zugang für Kinder unter 12 Jahren eindeutig verbietet. Davon abgesehen gibt es keine Altersfreigabe ab 18 Jahren in Estland. Die Skala endet mit „K-16“.

Ein Blick auf einige aktuelle Kinostarts zeigt zudem, dass Estland tatsächlich niedriger ansetzt als etwa Deutschland: Während z.B. die Horrorfilme A Quiet Place und Ghost Stories hierzulande erst ab 16 Jahren freigegeben sind, dürfen beide Filme in Estland bereits von 12-Jährigen gesehen werden. Wesentlicher Grund hierfür dürfte sein, dass die Bewertungen von der Kinowirtschaft selbst vorgenommen werden, eine Koordination oder Regulierung von staatlicher oder unabhängiger Seite findet nicht statt.


Altersklassifizierung im Fernsehen – ein Kann, aber kein Muss

Im Bereich des Fernsehens und Radios gibt es gar keine altersspezifischen Klassifizierungen. Bei der Ausstrahlung von Filmen steht es den Sendern frei, die Einteilungen der Kinobetreiber zu übernehmen, aber das ist kein Muss. „Nach dem estnischen Gesetz für Mediendienste dürfen Fernseh- oder Radioanbieter keine Sendungen übertragen, die für Minderjährige erhebliche physische, psychische oder moralische Nachteile mit sich bringen könnten“, erklärt Mati Kaalep, Berater für audiovisuelle Angelegenheiten im estnischen Ministerium für Kultur. „Das betrifft insbesondere solche Sendungen, die Pornografie beinhalten oder Gewalt bzw. Grausamkeit verbreiten. Daher müssen sich die Anbieter von TV-Inhalten unabhängig von einer bestimmten Klassifizierung an das Gesetz halten.“ Maßgeblich hierfür ist § 19 des Mediengesetzes, der den Schutz von Minderjährigen und der Moral und die Sicherung der Rechtmäßigkeit regelt. In diesem Paragrafen ist auch festgelegt, dass bei Fernsehausstrahlungen nicht zwingend Alterskennzeichen in einer Ecke des Bildschirms angegeben werden müssen.

Die Fernsehsender dürfen Programme, in denen unangemessene Sprache vorkommt, Gewalt, Grausamkeit oder rechtswidriges Verhalten gezeigt werden, nicht in der Zeit von 06:00 bis 22:00 Uhr ausstrahlen. Werden solche Inhalte außerhalb dieses Zeitraums gesendet, so ist dem Publikum vor Beginn in einer „verständlichen Weise eine Warnung zu übermitteln, dass das nachfolgende Programm für Minderjährige ungeeignet ist“, oder – so § 19 Abs. 3 – es muss „ein relevantes Symbol über die Unangemessenheit dieses Programms für die Minderjährigen oder einige Altersgruppen der Minderjährigen während des gesamten Fernsehprogramms auf dem Bildschirm zu sehen“ sein. Wie ein solches Symbol auszusehen hat, ist hingegen nicht geregelt. Daher verzichtet man auf die direkte Kennzeichnung und blendet stattdessen vor Beginn der Ausstrahlung die beschriebene Warnung in Form einer Schrifttafel ein.

Die Bewertung, ob eine Sendung den Vorgaben der Gesetzgebung entspricht und demnach vor oder nach 22:00 Uhr ausgestrahlt werden darf bzw. ob vor Ausstrahlung ein Warnhinweis abgegeben werden muss oder nicht, bleibt den Sendern selbst überlassen. Auch die genaue Methode zur Überprüfung des Inhalts ist ihre eigene Entscheidung. „Ist der Inhalt eines Programms jedoch nicht eindeutig einzuschätzen“, so Mati Kaalep, „hat das Unternehmen das Recht, von einem Fachausschuss, der innerhalb des Kulturministeriums tätig ist, eine Überprüfung der Sendung und die Beurteilung ihres Inhalts anzufordern.“ Dieser Expertenausschuss besteht aus bis zu zehn Mitgliedern, einschließlich einer oder eines Vorsitzenden, die alle vom Kulturminister ernannt werden. Der Ausschuss setzt sich aus Vertreterinnen und Vertretern des Ministeriums für Kultur, von Bildungs- und Kultureinrichtungen, Gesundheitsschutz- und Strafverfolgungsbehörden, Künstlerverbänden, den Gesundheitsschutzverbänden und anderen Vereinigungen von Personen zusammen, die künstlerische Arbeiten verbreiten und ausstellen.

Diese Vorgehensweise wirkt auf den außenstehenden Betrachter auf den ersten Blick etwas „schwammig“ und wenig griffig, doch die Esten sind von ihrem System überzeugt und verweisen darauf, dass die Anzahl an Beschwerden äußerst gering ist.
 


EU-Ratspräsidentschaft 2017

Von großer Bedeutung war für Estland das zweite Halbjahr 2017, als das Land erstmals den Vorsitz im Ministerrat der Europäischen Union innehatte. Dass Themen wie Digitalisierung und die Informationsgesellschaft Schwerpunkte der estnischen EU-Ratspräsidentschaft waren, verwundert sicher nicht. Dem Kulturministerium war es besonders wichtig, die Neuregulierung der Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste (AVMD) weiter voranzutreiben, was die Slowakei ein Jahr zuvor während ihrer Ratspräsidentschaft begonnen und Malta danach fortgeführt hatte. Die AVMD-Richtlinie schafft einen Rahmen für grenzüberschreitende audiovisuelle Mediendienste wie Fernsehen und Streaming. Die erste Fassung wurde Ende der 1980er-Jahre in der Europäischen Union geschaffen, doch der Markt für Mediendienste hat sich in den vergangenen Jahrzehnten erheblich weiterentwickelt, sodass einzelne Anpassungen als nicht mehr ausreichend angesehen wurden.

Die finale Ausarbeitung und Verabschiedung der neuen Richtlinie war das zentrale Ziel der Arbeitsgruppe, deren stellvertretender Vorsitzender Mati Kaalep war. Die aktualisierte Richtlinie soll dem sich wandelnden Umfeld Rechnung tragen und auch auf neue Mediendienste anwendbar sein. So galten bislang die Regelungen zum Schutz von Minderjährigen und zum Verbot von Hassreden nur für audiovisuelle Mediendienste auf Fernseh- und Abonnementbasis (wie z.B. Netflix). Zukünftig sollen diese Anforderungen auch für Video-Sharing-Plattformen wie YouTube gelten, die in erster Linie Inhalte anbieten und verbreiten, die von ihren Nutzerinnen und Nutzern erstellt werden, für die sie selbst aber keine redaktionelle Verantwortung übernehmen. Die gleichen Regeln sollen auch für Video-Inhalte auf Social-Media-Websites wie Facebook, Twitter oder Instagram gelten.
 

Keine Verantwortung für die Inhalte von Netflix und Co.

Auch wenn die Mitgliedstaaten mit der neuen Richtlinie die Möglichkeit erhalten, die Verbreitung von Mediendiensten aus anderen Ländern bei schwerwiegenden Verstößen zu sperren – wenn diese Dienste etwa Gewalt verherrlichen oder eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen –, soll in Estland weiterhin das Herkunftslandprinzip gelten.

Auf den Umgang mit modernen Streamingangeboten wie Netflix oder Amazon angesprochen, stellt Mati Kaalep auch ganz klar fest:

Sie fallen in die Zuständigkeit anderer Länder, und nach dem Herkunftslandprinzip ist es nicht Aufgabe des Bestimmungslandes, also Estlands, die Kriterien für deren Inhalt festzulegen.“