Ausgewogenheit fällt nicht vom Himmel

Claudia Mikat

Claudia Mikat ist Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Claudia Mikat, Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), mahnt in ihrem Editorial zu mehr Besonnen- und Ausgewogenheit in der Kommunikation.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 2/2024 (Ausgabe 108), S. 1

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Mary Poppins ist nicht gut gealtert. Das hat laut „Netzwelt“ zumindest das British Board of Film Classification (BBFC) bezogen auf die Spielfilmversion des Kinderbuchklassikers festgestellt und die Altersfreigabe wegen diskriminierender Sprache angehoben. In dem Musical aus dem Jahr 1964, das im London des frühen 20. Jahrhunderts spielt, fühlt sich Ex-Kriegsmarine-Admiral Boom offenbar an den Burenkrieg erinnert und verwendet in zwei Szenen den Begriff „Hottentotten“, eine aus der Kolonialzeit stammende rassistische Beleidigung für die südwestafrikanische Volksfamilie der Khoikhoi. Trotz des historischen Kontextes, so die britische Filmklassifizierungsstelle, werde die diskriminierende Sprache im Film nicht verurteilt, was die Richtlinien für eine Freigabe ohne Altersbeschränkung überschreite. Stattdessen wird Mary Poppins mit PG – Parental Guidance – eingestuft, also der Empfehlung, den Film mit Kindern unter 8 Jahren gemeinsam anzuschauen, um den diskriminierenden Inhalt erläutern zu können.

Wie beim Thema üblich, flammte im Netz eine aufgeregte Diskussion auf, die weniger über den angemessenen Umgang mit diskriminierender Sprache verrät als über den Zustand der Debattenkultur. Und weil uns Deutschen Jim Knopf so nah ist wie den Briten ihre fliegende Nanny, beziehen viele Kommentare auch die Diskussion um die Neuauflage von Michael Endes Klassiker mit ein – hier hatte der Verlag entschieden, eine überarbeitete Kinderversion der zwei Jim Knopf-Geschichten ohne das N‑Wort und mit weniger stereotypen Beschreibungen und Illustrationen herauszugeben. Extreme Positionen stehen sich scheinbar unversöhnlich gegenüber. Auf der einen Seite ist von Zensur und Cancel Culture die Rede, man empört sich über links-grüne Moralapostel und deren Forderung, von nun an „Schaumkuss“ zu sagen. Auf der anderen Seite richtet sich die Kritik gegen die Berichterstattenden, weil sie das diskriminierende H-Wort in ihren Beiträgen überhaupt nennen und so reproduzieren.

Für Zwischentöne bleibt wenig Raum – sie wären aber notwendig, um Argumente und Gegenargumente überhaupt kennenzulernen und sich eine Meinung jenseits von Richtig oder Falsch zu bilden. Es gäbe einiges zu erzählen und zu diskutieren, beispielsweise, dass Michael Ende selbst, nachdem sein Kinderbuch in den 1960er-Jahren wegen Geschichtsklitterung in die Kritik geraten war, Änderungen vornahm und das Reiseziel der beiden Lokomotivführer von China ins fiktive Mandala verlegte. Dass es Eltern auch weiterhin freisteht, ihren Kindern die originale Ausgabe von Jim Knopf zugänglich zu machen, die Jim mit wulstigen Lippen zeigt. Dass Mary Poppins weder verändert noch verboten wurde. Dass es nicht unzumutbar ist, mit Kindern zusammen einen Film anzusehen und ihnen Unverständliches zu erklären. Dass das BBFC keine staatliche Behörde ist, sondern eine Einrichtung der Industrie, die ihre Richtlinien auf der Grundlage von Elternbefragungen ständig anpasst. Oder dass Sprache und Werte sich wandeln und es deshalb gar nicht so ungewöhnlich ist, wenn ein Verlag ein Produkt an veränderte Bedingungen anpasst.

Ausgewogene Kommunikation fällt nicht vom Himmel wie ein fantastisches Kindermädchen. Es braucht auch entsprechende Inputs, die es auf Information und Differenzierung anlegen. Wenn selbst seriöse Medien „Filmzensur!“ titeln oder vermelden, Mary Poppins sei „nicht mehr jugendfrei“, wünscht man sich auch hier mehr Besonnen- und Ausgewogenheit.

Ihre
Claudia Mikat