True Crime

Wer wir sind, wenn wir Leichen lesen

Torsten Körner

Dr. Torsten Körner arbeitet als freier Autor in Berlin und ist Vorsitzender in den Prüfausschüssen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Betrachtungen eines beliebten TV-Programms

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 2/2020 (Ausgabe 92), S. 76-80

Vollständiger Beitrag als:

 

The truest Crime

Wenn es True Crime gibt, was ist dann False Crime? Wo True Crime spricht, spricht jemand, denn „true“ ist die Behauptung, dass das Verbrechen wahr ist. Und „true“ ist die Feststellung, dass ein False Crime überwunden werden muss und dass ein Sprecher, ein Erzähler auftritt, der True Crime verkauft. Und dann: Wo ein Positiv ist, „true“, muss ein Komparativ vorhanden sein. Auf diesen folgt zwangsläufig ein Superlativ. Wenn diese Steigerungsabfolge unausweichlich ist, wie steigert man dann True Crime und was bedeutet das für uns, die in der Zukunft sitzenden Zuschauer, die in der Zukunft stehenden Täter und die in der Zukunft liegenden Opfer?
 

Kaltblütig

Man spricht von einem Boom. Der True-Crime-Boom. Das wahre Verbrechen boomt. Podcasts, Zeitschriften, Serien, Bücher. Neu ist das sicher nicht. Bereits von 1924 bis 1995 gab es in den USA ein Magazin mit dem Titel „True Detective“, das wahre Kriminalfälle rekonstruierte, wir denken an Truman Capotes Tatsachenroman In Cold Blood (1965, offiziell 1966) (deutsch: Kaltblütig), wir erinnern uns an den abendlichen Grusel angesichts der öffentlich-rechtlichen Verbrecherjagd mit dem biederen TV-Sheriff Eduard Zimmermann (Aktenzeichen XY… ungelöst). Der Podcast Serial und die Netflix-Dokumentation Making a Murderer funktionierten als mediale Katalysatoren und popularisierten das Format als Erzählmodell und Geschäftsmethode. Wie immer, wenn etwas boomt, verlieben sich emotionale und ökonomische Interessen, individuelle und kollektive Prägungen und kurzfristige und langfristige Mentalitäten.
 

Das Leiden anderer betrachten

„Wer sich ständig davon überraschen lässt, dass es Verderbtheit gibt, wer immer wieder mit erstaunter Enttäuschung (oder gar Unglauben) reagiert, wenn ihm vor Augen geführt wird, welche Grausamkeiten Menschen einander antun können, der ist moralisch oder psychologisch nicht erwachsen geworden.“ (vgl. Sontag 2005, S. 133)
 

Wie im Film

In Truman Capotes Kaltblütig wird der grausame Mord an einer vierköpfigen Familie im Jahr 1959 erzählt. Die Mörder hießen Perry Smith und Richard Hickock. Smith gestand später, er habe sich während des Einbruchs in das Haus der Familie Clutter wie in einem Film gefühlt, und obwohl er im Augenblick der Tat die Sinnlosigkeit des Verbrechens einsah (der vermutete Geldschrank mit mehreren Tausend Dollar war reine Fantasie), folgte er doch einem inneren Zwang, weil er wissen wollte, wie es weiterging. Smith und Hickock wurden auch von imaginären Skripten zu dieser Tat getrieben, Skripten, in denen sich mediale, biografische und historische Narrative unauflöslich ineinander verbanden. Wer also zuschaut, schaut niemals nur zu und schreibt Skripte ins eigene Fleisch. Und wer tötet, schaut sich selbst und anderen dabei zu.
 

Stummschaltung

Die Opfer sind nie gefragt worden, ob sie ihr Sterben medial reproduziert wissen wollen, sie haben post mortem kein Vetorecht gegen den Täter; während der Mörder gegen die Darstellung seiner Tat noch Einspruch erheben, um seine Bild- und Persönlichkeitsrechte streiten kann, muss das Opfer schweigen, was den Tod, das Gestorbensein, nochmals bekräftigt, denn der Tod ist die finale Stummschaltung.
 

Frauen und Fragezeichen

Wenn es stimmt, wie Expertinnen und Studien behaupten, dass überwiegend Frauen True-Crime-Formate konsumieren, woran mag das liegen? Man/Mann möchte hier eher Fragezeichen anbieten, um Antworten zu versuchen. Betrachtet sich die Frau als potenzielles Gewaltopfer und sucht sie deshalb Schutz durch mediale Distanz? Studiert die Frau das Täter- und Opferverhalten und zieht daraus Rückschlüsse für das eigene Leben? Sucht die Frau die ultimative Empathie-He­raus­for­de­rung? Wenn sie sich zutraut, sowohl die Opfer- als auch die Täterperspektive auszuleuchten, die Psyche im Ausnahmezustand der Tat zu rekonstruieren, wäre ihr dann nicht ein virtuoses Kunststück des Einfühlens gelungen? Sie begäbe sich dann in eine emotionale und reflexive Metaposition, die ihr größtmögliche Distanz und zugleich größtmögliche Unterhaltung böte; denn der Alltag ist ein kräftezehrendes und letztlich auch mörderisches Abenteuer, da braucht es mitunter den real studierten Mord, der das Leben in all seiner großartigen Jämmerlichkeit (bitte wenden!) auf den Punkt bringt. Will die Frau im Angesicht des Verbrechens den Sexisten und seine Denkklischees Lügen strafen? Ich bin keineswegs nur ein Emotionsbündel, unfähig, den Gräueln der Welt ins Auge zu blicken, ich bin vielmehr diejenige, die zuschaut, analysiert und die ihre Gefühle im Griff hat. Der True-Crime-Boom wird auch getragen von starken Erzählerinnen wie der Kriminalpsychologin Lydia Benecke, die das wahre Verbrechen bis in die letzten Winkel der Republik trägt: True Crime to go!
 

Der Auteur

Das Label „True Crime“ nobilitiert den Mörder, denn es macht ihn zum Auteur des Erzählens, er ist nicht nur der Täter, sondern auch der Regisseur, der Erzähler, der Handschriften-Inhaber. Er mordet, damit wir unterhalten werden. Diese Formate antizipieren den Albtraum prospektiver Opfer: Ich musste sterben, damit die Quote stimmt. Ich musste sterben, damit die Ausdifferenzierung der Formate gelingen kann. Wenn wir darüber befinden sollen – wir müssen! –, wo wir vo­yeu­ris­tische Co-Autoren des Täters werden, wo wir dem Opfer noch mal einen Schmerz zufügen, indem wir dem Täter heimlich applaudieren, müssen wir uns einem eindringlichen Verhör unterziehen, um uns selbst und andere vor den Tiefenwirkungen dieser bluttriefenden Erzählungen zu schützen. Das Verbrechen beginnt im Kopf und manchmal ist Hinsehen ein Verbrechen.
 

Einspruch

Ist True Crime der Einspruch der Wirklichkeit gegen das Diktat des aufschneiderischen Krimis oder arbeiten Fiktion und Realität längst Hand in Hand an der Fabrikation einer allgegenwärtigen medialen Nekrophilie? Ist True Crime ein Protest gegen Kunstblut? Oder verwandelt True Crime das real vergossene in künstlich vergossenes Blut? Vielleicht sind True Crime und Krimi auch Kompensationsformate, mit denen der Mensch sich seiner Endlichkeit versichert. Während kaum noch zu Hause gestorben wird und Kriminalitätsraten über Jahrhunderte im globalen Rahmen gesunken sind, bleibt dem Menschen die Neugier aufs Blut, das Böse, das Verbrechen an sich. Der Mensch muss sterben lernen, um sterben zu können. Wo ihm aber durch eine Kultur der Todesvergessenheit und der vitamingestützten Vitalität das Sterben abhandenkommt, kehrt es im Unterhaltungssektor umso machtvoller zurück. True-Crime-Formate und Tote aus aller Welt suggerieren dem Zuschauer also Sterbehorizonte und Mortalitätsraten, die längst ausgestorben sind.
 

Antithese

Kriminalfilme sind Unterhaltungsangebote für Endlichkeitsflüchtlinge. Opfer, Täter und Ermittler teilen den Tod unter sich auf, exekutieren bestimmte Rollen, damit wir aus der Sofa-Distanz an der Gewalt- und Endlichkeitserfahrung teilhaben können, ohne uns selbst mit spürbarer Todesnähe zu belasten. Je heftiger das Kunstblut im Fernsehkrimi ins Bild drängt, desto unsichtbarer wird es im Venendelta des Zuschauers. Krimis organisieren Distanzerfahrung, und unsere Kommissare sind die Eventmanager einer nekrophilen Entertainmentkultur. Aber wie alle, die an der Nadel hängen, wie alle, die reinen und keinen gestreckten Stoff wünschen, verlangt es uns nach Steigerung, einer Intensivierung des Rausches. Wie könnten wir dem Tod zugleich noch intimer begegnen und noch weiter entkommen?

Dieses paradoxe Suchtverlangen – mittendrin und doch außen vor – wird von den True-Crime-Formaten befriedigt. Der Tod tritt aus der Kulisse, der Täter zeigt seine Fratze, das Blut, das fließt, gerinnt und wird ganz unansehnlich, und das Opfer steht nie wieder auf. Die Tränen der Angehörigen sind echt und der Zuschauer steht, als Nichtschauspieler seines Lebens, inmitten dieses fremden Lebensfilms und ist doch ganz weit weg. True Crime ist also potenzierter Eskapismus, potenzierte Endlichkeitsflucht.
 

Sicherer Arbeitsplatz

Der Serienkiller ist, in der instabilen, postheroischen Gegenwart, ein Held der Verlässlichkeit mit stabiler Erwerbsbiografie. Er ist der radikale Freelancer, der, wenn er geschnappt wird, ausgesorgt hat. Wenn die Handschellen klicken, ist seine Existenz amtlich bestätigt, und wenn ihn jemand zu erzählen beginnt, wird sein Handwerk ad infinitum verlängert. Sein radikaler Individualismus treibt den Glauben an den freien Markt auf die Spitze. Er handelt mit Blut, und noch das letzte Tröpfchen wird genossen.
 

Hinter verschlossenen Türen

Dass das Opfer aus dem Schatten des Täters heraustreten kann, indem es True-Crime-Formate nutzt, zeigt die Dokumentation Behind Closed Doors: Narrated by Olivia Colman (BBC One, 2016). Schon der Titel signalisiert, dass Frauen gewillt sind, die Stimme zu erheben. Olivia Colman gilt spätestens seit ihrer Darstellung der Mordermittlerin in der Serie Broadchurch als starke, durch nichts umzuwerfende Frau. Sie leiht diese Stimmautorität auch den Frauen, über die hier berichtet wird. Über ein Jahr lang begleitet die Dokumentation drei Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt wurden. Das Thames Valley Police Domestic Abuse Team wird bei seiner Arbeit gezeigt, offenbar standen den Autoren nahezu sämtliche Türen offen: Man sieht die gequälten und schwer misshandelten Frauen, man sieht die Verhöre der Täter, man hört, wie die Frauen ihr Martyrium schildern, und man erlebt immer wieder, wie die Täter erneut Anlauf nehmen, um ihre Partnerinnen zu misshandeln. Die Frauen finden Gehör, finden zur Stimme, der Zuschauer begleitet einen schwierigen Prozess der Selbstermächtigung. Man möchte hoffen, dass das ein emanzipatives, ein aufklärerisches Format ist, denn die Täter bekommen hier eine Aufmerksamkeit, die sie fürchten müssen. Wie – das scheint eine entscheidende Frage bei der medienethischen Betrachtung dieser Formate zu sein – kommen die Täter jenseits der kriminologischen und justiziellen Aufarbeitung und Sanktionierung davon? Auf wem liegt der Empathie-Fokus des Formats? Und wie wird die Opferbiografie im Verhältnis zum Täter gewürdigt?
 

Kätzchen

Abscheu empfinden und Abscheu formulieren sind zwei Paar Schuhe. Wie artikuliert man Abscheu, ohne dass dieser begriffliche Extremismus als Werbebotschaft für das Abscheuliche missverstanden werden kann? Auf einem Streamingportal findet sich ein True-Crime-Format, das den Zuschauer zum Mittäter macht und diese Unentrinnbarkeit feiert. Das Perfide daran ist nicht zuletzt, dass die Mittäterschaft der Zuschauer den Täter erst kreiert und das Eingeständnis ihrer Mitschuld dem Zuschauer der Serie als Aufklärung verkauft wird. So pflanzt sich die Mitschuld fort und wird zugleich zum Unique Selling Point. In diesem Format geht es um einen Mörder, dessen Narzissmus ihn dazu antreibt, Kätzchen zu quälen und viehisch zu töten. Der junge Mann stellt seine Taten ins Netz und wartet auf seine Follower. Er weiß, dass er damit im digitalen Weltinnenraum die größtmögliche Aufmerksamkeit findet, Aufmerksamkeit, die ihm ansonsten als Model und Möchtegernschauspieler verwehrt blieb. Tatsächlich formiert sich eine globale Empörungsgemeinschaft, die den Katzenmörder jagt und ihm damit gibt, was er will. Die Jagd beginnt, neue Kätzchen werden getötet, ein Trittbrettfahrer, der am „Ruhm“ partizipieren will, bringt sich schließlich um (Kollateralschaden), und der Katzenmörder kündigt an, bald einen Menschen töten zu wollen. Weltweit beteiligen sich Menschen nun an dieser Eskalationsspirale, und schließlich tötet der Narzisst auch einen Menschen. In drei Teilen wird die Jagd nach dem Mörder rekonstruiert. Jagdbeteiligte werden interviewt, sie masturbieren ihre Emotionen auf Bestellung noch einmal in die Kamera, der Täter wird in das Scheinwerferlicht getaucht, das er immer ersehnte, und die Kätzchen werden – in der Wiederholung – ein ums andere Mal getötet. Der Täter, das gibt er in diversen Botschaften zu verstehen, hat die Skripte verschiedener Hollywooderzeugnisse verinnerlicht und verlängert diese Skripte jetzt ins Leben. Er infiltriert die Fantasie seiner Jäger und macht sie glauben, sie jagten ihn; das Gegenteil ist der Fall. Formate wie diese gehören nicht ab 16 freigegeben (wie dort geschehen!), sie gehören verboten. An diesem Fall ließe sich auch trefflich darüber streiten, ob man Jugendschutz mit Fragebögen und Algorithmen lösen kann; denn die verheerende Botschaft ließe sich kaum über manifeste Inhalte dingfest machen. Jugendschutz beginnt wohl mit Menschenschutz, und wo dieser nicht funktioniert, ist Jugend allemal verloren.
 

Theodizee

„Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?“
Georg Büchner: Dantons Tod (vgl. Büchner 1983, S. 40)

„Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“
Georg Büchner: Woyzeck

True Crime ist nichts anderes als die Fortschreibung der ewigen Frage, wie das Böse in die Welt kam. Steckt es, selbstverfasst, im Menschen oder ist es über ihn verhängt? In beiden Fällen fragt man sich, wie Gott das zulassen konnte, wenn man den Gedanken zulassen will, dass es Gott gibt. Entweder ist er der Autor, der es uns zuschreibt, oder wir sind die Autoren, die es ihm zuschreiben. Was daraus folgt, ist Theologie, aber auch die Einsicht, dass True Crime nur ein anderes Wort für das Leben ist.
 

Maya

Der Mörder dringt in ein Schlafzimmer ein und tötet sein Opfer. Der Täter überrascht ein romantisch gestimmtes Pärchen im Wald, fesselt es, drangsaliert es, tötet es. Der Zuschauer folgt ihm. Wir betreten in doppelter Hinsicht verbotene Räume. Mit dem Mörder betreten wir private Zonen, die wir ohne ihn nie kennengelernt hätten, und dann besichtigen wir den Tatort, der gerade noch ein intimer Ruhe- oder Liebesort war. Der Täter verwandelt die Welt und wir verwandeln uns mit. Während der Täter sich über seine Opfer beugt, beugen wir uns über das ganze Fotoalbum des Schreckens, denn wir sehen nicht nur das Blut, das er vergossen hat, sondern wir sehen auch den Täter, seine Jäger, wir sehen seine Verhaftung, Aburteilung und dauerhafte Inhaftierung. Das Format nährt die Illusion der totalen, abgeschlossenen Geschichte. Da wir diese Totalität in unserem eigenen Leben nie zu fassen bekommen, suchen wir sie umso entschiedener in Storys von Mord und Mörderjagd.

Viele True-Crime-Formate nähren die Hoffnung, sie könnten allmächtiger erzählen als alle anderen Akteure und Formate. Uns wird nichts weniger versprochen als die Beantwortung ganz großer Fragen: Was ist die Wahrheit und was ist der Mensch? Selbst wenn die Fragen nicht explizit aufgeworfen werden, strömen sie durch die Bilder. So etwa in der vierteiligen Dokumentation Conversation with a Killer: The Ted Bundy Tapes (Netflix). Der schon legendäre Mörder Ted Bundy, der vermutlich mehr als 30 junge Frauen vergewaltigt und umgebracht hat und 1989 hingerichtet wurde, ist ein Allzeitheld der True-Crime-Wellen, ein medialer Revenant, der immer dann wiederkehren darf und muss, wenn neue Technologien und Abspielplattformen alte Geschichten in neue Formen kleiden. Jede Generation bekommt ihren Ted Bundy, so wie noch jede Generation ihren Fritz Haarmann bekam. Die Netflix-Serie ist State of the Art, alle Reanimationstechniken werden aufgeboten, um uns Nachgeborenen den Fall so authentisch wie möglich zu präsentieren. Nicht nur der Mörder, dessen Stimme wir hören, sondern auch die Bundy-Tapes spielen in ihrer Materialität und medialen Patina eine Hauptrolle. Ein Reporter hatte den Delinquenten im Gefängnis interviewt, etwa 100 Stunden Material lagen vor. Wir sehen als durchgängiges Bildmotiv die Audiokassette in einem Toshiba-Rekorder, und während das elektromagnetische Band läuft und die Authentizität der Mörderstimme beglaubigt, wird eine ganze Medienepoche reanimiert. Ted Bundy mag 30 Frauen oder mehr ermordet haben, jetzt steht er als Hoher Priester vor der Netflix-Gemeinde und beschwört vergangene Zeiten; die zwanghafte Omnipotenz des Formats, die Steigerungslogik des digitalen Kapitalismus verspricht dem Zuschauer einen nie da gewesenen Killer, eine Begegnung mit der Bestie in nie erlebter intimer Präsenz. In dieser retrospektiven Beschwörungskultur steckt ein alchemistisch-okkultes Moment. So wie die Maya Menschenopfer brachten, um die Wettergötter gnädig zu stimmen, so reißen wir Herz um Herz aus längst gemordeten Opfern, um das Böse aufzurufen, es nervenkitzelnd von der Kette zu lassen und uns in Sicherheit zu wiegen.
 

Eingeweide

In der Antike gab es die Eingeweideschau, das prophetische Lesen der Innereien eines Opfertieres. Was lesen wir, wenn wir uns über die Toten beugen? Treibt uns der Wunsch, den fragmentierten Menschen, als den wir uns immer empfinden, zu defragmentieren? Die forensischen Techniken, die das Fernsehen immer übertreibt, in Reichweite und Geschwindigkeit, sind der Zauberstab, mit dem auch wir gerettet, rekonstruiert und zusammengesetzt werden wollen, während wir uns bei lebendigem Leib verflüchtigen. Gedichte sind stets auch Sehnsuchtsverdichtungen. In Durs Grünbeins Gedicht Monatsblut (2017) blickt ein männliches lyrisches Ich auf ein Hotelbett, auf dem, nach dem Liebesakt, ein Fleck Blut zurückblieb.

Was muß geschehen,
Vergewaltigung, Mord, ein namenloses Verbrechen –
Bis man das Blut im Labor untersucht, von Polstern
Haut- und Haarproben nimmt,
Und was würde es ändern?
Wir sind nicht mehr da.

Im True-Crime-Format wird das Opfer noch einmal zum Opfer, aber es wird auch geborgen, es bleibt, es darf nie ganz sterben, weil der Mörder ohne Opfer kein Mörder ist. Warum, fragt sich das lyrische Ich in Grünbeins Gedicht, rettet niemand das Glück oder einen Augenblick der Liebe vor dem Gemordetwerden durch Zeit, Gesellschaft, vor dem System des Warentauschs? Im digitalen Kapitalismus wird alles kommodifiziert, und echtes Blut ist ein kostbares Gut in einer Authentizitätskultur, die nach dem wahren Leben lechzt, aber es durch ihre Gier gleichsam unmöglich macht. Was den Verbrecher treibt, treibt uns auch. Was steckt in dem Gekröse? Was passiert, wenn der Blick bricht, wenn der Sterbende geht? Der Mörder will Blut lesen, wir lesen den Blutlesenden. Ist der Serienkiller also nur der depravierte Angestellte einer Kultur, die das Blutvergießen delegiert hat? Ist True Crime eine Tür, durch die wir das Reich hinter der Fassade betreten? Wer wollen wir sein, wenn wir Ted Bundy begleiten? Wer sind wir nicht, wenn wir uns an die Fersen eines Killers heften?
 

Literatur:

Büchner, G.: Dantons Tod [2. Akt, 5. Szene]. Stuttgart 1983
Büchner, G.: Woyzeck. In: Sämtliche Werke und Briefe, Band 1. Reinbek 1967 – 1971 bzw. München 19742
Grünbein, D.: Zündkerzen. Gedichte. Berlin 2017
Sontag, S.: Das Leiden anderer betrachten. Frankfurt am Main 2005
Truman, C.: In Cold Blood. New York 1965 (1966)