Digitale Souveränität und personale Autonomie

Herausforderungen für eine Digitalpädagogik

Caja Thimm

Dr. Caja Thimm ist Professorin für Medienwissenschaft und Intermedialität an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Sie war Sprecherin des Graduiertenkollegs „Digitale Gesellschaft“ und ist Leiterin der Research Group „Autonomy and autonomous systems“. Sie forscht seit vielen Jahren zu Onlinemedien – hier besonders zur digitalen Demokratie, Medienethik, sozialen Netzwerken und zur Mensch-Maschine-Kommunikation.

Die rasanten technologischen Entwicklungen im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz (KI), die mit ChatGPT einen globalen Durchbruch verzeichnen konnten, machen deutlich, dass ein Begriff wie „Medienkompetenz“ den Umgang mit diesen Technologien nicht mehr adäquat abbilden kann. Es soll daher nachstehend argumentiert werden, dass sich eine moderne, auf digitale (und die folgenden) Technologien ausgerichtete (Digital‑)Pädagogik mit dem Konzept der „Digitalen Souveränität“ ein Feld erschließen sollte, in dem bisher die Pädagogik kaum eine Rolle spielte.

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 2/2023 (Ausgabe 104), S. 84-87

Vollständiger Beitrag als:

Einleitung

Ende des Jahres 2022 kam die von OpenAI entwickelte textbasierte KI ChatGPT als Gratisversion auf den Markt und veränderte nicht nur durch die simple, weltweit verfügbare Nutzeroberfläche die digitale Welt, sondern schockte mit ihren interaktiven Fähigkeiten selbst überzeugte KI-Zweifler*innen. Schlagartig wurde aber auch ein Thema aufgerufen, das die Medien- und Kommunikationswissenschaft schon länger beschäftigt: Was sind heutige Medien – oder besser: Was sind „zukünftige Medien“ (Ernst/Schröter 2020)? Kann man künstliche Intelligenzen wie ChatGPT oder DALL-E (die KI-Variante zur Bildgestaltung), soziale Roboter oder automatisierte Fahrzeuge, die nichts als rollende Computer sein werden, noch mit dem alten Medienbegriff erfassen? Angesichts der rasanten technologischen Entwicklung erscheint zumindest klar, dass sich die Gegenstandsbereiche so massiv verändert haben, dass man neue terminologische Perspektiven benötigt. Und so, wie man den Medienbegriff der 1980er- oder 1990er-Jahre hinterfragen muss, gilt dies konsequenterweise auch für den Begriff der „Medienkompetenz“. Daher soll nachstehend argumentiert werden, dass eine moderne, auf digitale (und die folgenden) Technologien ausgerichtete (Digital‑)Pädagogik sich im Sinne von Technologiesouveränität ein neues Feld erschließen sollte, in dem bisher die Pädagogik kaum eine Rolle spielte.
 

Digitale Souveränität – vielfältige Begriffsdimensionen

„Digitale Souveränität ist innerhalb der letzten Jahre zu einem der zentralen Begriffe in der Digitalpolitik geworden. Es wird zunehmend klar, dass es für verschiedene Stakeholder entscheidend ist, digital souverän entscheiden und handeln zu können. Es geht um den Staat und um Behörden, um Unternehmen und Bürger*innen. Wir sprechen über die Souveränität von Infrastruktur, Daten, Algorithmen, Hardware, Software, Bildung – letztlich geht es um die Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit unserer Gesellschaft“ (GI 2020, S. 3). Mit dieser programmatischen Standortbestimmung beginnt die Gesellschaft für Informatik ihre 2020 erschienene Abhandlung zur Frage der digitalen Souveränität in der Gesellschaft. Betrachtet man die vielfältigen Debattenbeiträge zum Begriff „Digitale Souveränität“ (z. B. Wittpahl 2017), lässt sich zunächst feststellen, dass das Konzept der digitalen Souveränität in vielen Beiträgen als Leitbild für eine nachhaltige und demokratische Zukunft im digitalen Zeitalter angesehen wird (Müller u. a. 2022). Dabei gilt es, die unterschiedlichen Dimensionen von Souveränität und Selbstbestimmtheit, die sich sowohl auf die gesellschaftliche und individuelle Ebene als auch auf die Ebene von Staat und Politik, Zivilgesellschaft und Organisationen beziehen lassen, zu unterscheiden. Digitale Souveränität als Konzept wirft für alle Geltungsbereiche wichtige Fragen der Teilhabe, Transparenz und Rechenschaftspflicht auf mehreren Ebenen auf und stellt damit ein zentrales Element in Diskursen über digitale Fragen an sich dar (Couture/Toupin 2020).
 


Vielerorts hält sich die Vorstellung von den sogenannten „digital natives“, die nur aufgrund ihres Geburtszeitraumes automatisch über profunde Digitalkenntnisse verfügen.



In vielen aktuelleren Beiträgen wird inzwischen deutlich, dass sich die Erweiterung des Souveränitätsbegriffs auf den Bildungsbereich als eine sinnvolle Kontextualisierung verstehen lässt (Pohle/Thiel 2021). Auch eine Adaption auf die medienpädagogische Praxis erscheint ausgesprochen zielführend, wie zwei Beispiele verdeutlichen sollen. So kann z. B. Schulentwicklungsplanung unter der Prämisse digitaler Souveränität erfolgen, wie von Rau und Geritan (2021) verdeutlicht. Aber auch individuelle Handlungskompetenzen im Sinne der „tiefgreifenden Mediatisierung“ lassen sich als Aspekte digitaler Souveränität verstehen und interpretieren. So betonen Kramer u. a. (2022, S. 98) in ihren Studien zur digitalen Souveränität von Jugendlichen, dass „der souveräne Umgang mit digitalen Medien entscheidend [ist], um in einer tiefgreifend mediatisierten Welt individuelle Potentiale zu entfalten und an der Gesellschaft teilzuhaben“.

Allerdings hält sich vielerorts immer noch die hartnäckige Vorstellung von den sogenannten „digital natives“, die nur aufgrund ihres Geburtszeitraumes automatisch über profunde Digitalkenntnisse verfügen. Nichts allerdings könnte falscher und für die Debatte schädlicher sein, als der jeweils jungen Generation automatisch digitale Souveränität zuzuschreiben. Dies belegen auch die „International Computer and Information Literacy Studies“ (ICILS) zur Technikkompetenz von Kindern und Jugendlichen. Diese Langzeiterhebungen zeigen u. a., wie bedeutend die Einbettung von digitaler Kompetenzvermittlung im schulischen Alltag ist. Um digitale Souveränität zu erreichen, müssen aber digitale Kompetenzen einerseits und lebensweltliche Erfahrungen andererseits zusammenkommen. Die Verfasser*innen betonen explizit, dass die weitverbreitete Annahme, Kinder und Jugendliche würden durch das Aufwachsen in einer von neuen Technologien geprägten Welt „automatisch zu kompetenten Nutzern“, nicht zutrifft (Eickelmann u. a. 2019).
 

Digitale Selbstbestimmung, Medienkompetenz und personale Autonomie

Als ein wichtiges Element zum Verständnis von Technologiesouveränität ist für den Einzelnen das Ziel der „digitalen Selbstbestimmung“ anzuführen, das sich anhand von Begriffskomponenten wie Kompetenz, Informiertheit, Verantwortung, Willensbildung und Autonomie bestimmen lässt. In ihrem Gutachten Digitale Souveränität und Bildung kommen die Autor*innen zu dem Schluss, dass der, der „den Prozess der digitalen Transformation mitgestalten und im digitalen Raum selbständig und verantwortungsvoll handeln möchte, über digitale Souveränität verfügen [muss]“ (vbw 2018, S. 7). „Digitale Souveränität“ wird definiert mit Bezugnahme auf die in einer Gesellschaft lebenden Personen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die einen souveränen Umgang mit digitalen Medien gewährleisten (S. 12). Das Gutachten schlägt vor, den Begriff „Medienkompetenz“ als „personale Voraussetzung digitaler Souveränität“ zu verstehen und ihn als einen Baustein dem Gesamtkonzept der „Technologiesouveränität“ zuzuordnen. Medienkompetenz bezieht sich dann auf Wissen, Handlungskompetenz und Lernprozesse des Individuums im Umgang mit konventionellen als auch digitalen Medien gleichermaßen. Dabei erscheint die enge Verzahnung von sozialen mit digitalen/technologischen Kompetenzen als eine wichtige Perspektive. So spricht Stubbe (2017, S. 54) von „soziodigitaler Souveränität“. Er nimmt mit dieser Begriffsbildung eine Zielbeschreibung von Technologiesouveränität vor, die auf die gesellschaftspolitische Einbettung abzielt. Damit kann „digitale Souveränität auch als soziale Souveränität gedacht werden, die sich durch einen kompetenten und verantwortungsvollen Umgang mit Technik sowie mit ihren sozialen Auswirkungen und Chancen auszeichnet“ (S. 44). Diese Perspektivenerweiterung erscheint angesichts der vielfältigen kommunikativen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bedingtheiten und Folgen von digitaler Souveränität als eine stimmige Veranschaulichung.
 


Digitale Souveränität kann auch als soziale Souveränität gedacht werden.


 

Fazit

Für die Zielstellung, eine pädagogisch motivierte Konzeption für digitale Souveränität zu bestimmen, ist festzuhalten, dass der Umgang mit Medien und neuen Technologien wie der künstlichen Intelligenz nicht allein durch individuelle Fähigkeiten determiniert werden kann und sollte. Vielmehr sind es die konkreten Handlungspraxen und Handlungskompetenzen in einer durch „deep mediatization“ gekennzeichneten Welt, die digitale gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen (Thimm 2023). Ausgegangen werden sollte für eine digitalpädagogische Perspektive von einem Konzept der digitalen Souveränität als Leitbild für eine nachhaltige und demokratische Zukunft im digitalen Zeitalter. Gemeint sind damit Fähigkeiten und Möglichkeiten von Individuen, ihre Rolle(n) in der digitalen Welt selbstständig, selbstbestimmt und sicher ausüben zu können. Hierzu zählt u. a. das Bewusstsein, mit digitalen Kompetenzen das eigene Leben und damit auch die eigene Biografie zu gestalten. Diese Souveränität kann, wie skizziert, auf verschiedenen Ebenen beschrieben werden. Mit dem Begriff der „soziodigitalen Souveränität“ lässt sich ein damit verbundenes Bildungsziel von den politischen und ökonomischen Deutungen der Technologiesouveränität abgrenzen.

Allen Verständnissen von Souveränität in diesem Kontext ist jedoch gemeinsam, dass sie mit einem Ziel gekoppelt sind: der Wahrung von Autonomie. Sei es auf der Ebene der personalen, politischen oder ökonomischen Autonomie: Die Infragestellung personaler Autonomie durch diverse KI-Technologien, die trotz ihrer bisher eher rudimentären Applikationsoptionen gezeigt haben, welche Autonomieverluste unter Umständen auf Menschen, Institutionen oder ganze Nationen zukommen können, sollte uns gerade in der Digitalpädagogik zu denken geben. Dass Menschen in die Lage versetzt werden, neue Technologien einschätzen zu können, ist durch die Verflechtung der Digitalisierung mit dem gesellschaftlichen Leben zu einer grundsätzlichen Frage demokratischer Teilhabe geworden. Dabei geht es darum, dass Menschen die Wirkweisen der „digitalen Logik verstehen“ (Stubbe 2017, S. 57). Fraglos erscheint dabei, dass dieses Verstehen nicht von allein entsteht, sondern dass es im Interesse eines demokratischen Gemeinwesens sein muss, diese Prozesse über Bildungsinitiativen zu fördern. Angesichts der rasanten Technologieentwicklung, die sich massiv auf alle gesellschaftlichen Sektoren auswirkt, erscheint ein demokratischer Meinungsbildungsprozess ohne digitale Souveränität in Zukunft kaum noch vorstellbar.
 



Literatur:

Couture, S./Toupin, S.: What does the notion of „sovereignty“ mean when referring to the digital? In: International Organisations Research Journal, 15/2020/4, S. 48–69

Eickelmann, B./Bos, W./Labusch, A.: Die Studie ICILS 2018 im Überblick – Zentrale Ergebnisse und mögliche Entwicklungsperspektiven. In: B. Eickelmann u. a. (Hrsg.): ICILS 2018 #Deutschland. Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern im zweiten internationalen Vergleich und Kompetenzen im Bereich Computational Thinking. Münster/New York 2019, S. 7–31

Ernst, C./Schröter, J.: Zukünftige Medien. Eine Einführung. Wiesbaden 2020

GI (Gesellschaft für Informatik): Schlüsselaspekte digitaler Souveränität. Bonn/Berlin 2020. Abrufbar unter: https://gi.de

Kramer, M./Müller, J./Thumel, M./Potzel, K.: ‚Ich wurde auf einem Bild markiert, da war so ein Mädchen und die war nackt‘. Zur Notwendigkeit von visueller Kompetenz und Digitaler Souveränität. In: MedienPädagogik, 18/2022, S. 89–117

Müller, J./Tischer, M./Thumel, M./Petschner, P.: Unboxing digitale Souveränität. Ein Scoping Review zu digitaler Souveränität von Individuen. In: Medienimpulse, 4/2022/60, 37 Seiten

Pohle, J./Thiel, T.: Digitale Souveränität. Von der Karriere eines einenden und doch problematischen Konzepts. In: C. Piallat (Hrsg.): Der Wert der Digitalisierung. Gemeinwohl in der digitalen Welt. Bielefeld 2021, S. 319–340

Rau, F./Geritan, A.: Auf dem Weg zu digital souverän agierenden Schulen. Erste Erfahrungen und Erkenntnisse eines entwicklungsorientierten Modellschulprojektes. In: MedienPädagogik, 44/2021, S. 160–184

Stubbe, J.: Von digitaler zu soziodigitaler Souveränität. In: V. Wittpahl (Hrsg.): Themenband digitale Souveränität. Bürger – Unternehmen – Staat. Heidelberg 2017, S. 43–60

Thimm, C.: Medienhandlungen, Medienpraktiken und Mediengrammatik: Handlungstheoretische Überlegungen zur ‚deep mediatization‘. In: P. Nehls/C. Thimm (Hrsg.): Digitale Kulturen, Digitale Praktiken: Empirische Zugänge zur tiefgreifenden Mediatisierung. Münster 2023, S. 22–48 (im Druck)

vbw (Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V.) (Hrsg.): Digitale Souveränität und Bildung. Gutachten. Münster 2018

Wittpahl, V. (Hrsg.): Themenband digitale Souveränität. Bürger – Unternehmen – Staat. Heidelberg 2017. Abrufbar unter: https://doi.org