Corona und das Dilemma ethischer Prinzipien

Joachim von Gottberg

Prof. Joachim von Gottberg ist Chefredakteur der tv diskurs.

Zum ersten Mal in der Geschichte unserer Verfassung sind die Prinzipien des Grundgesetzes auf eine so harte Probe gestellt worden: Corona hat die Freiheitsrechte des Einzelnen auf ein Minimum reduziert, die Wirtschaft wurde komplett lahmgelegt, für viele Branchen gab es praktisch ein Berufsverbot. Dass die Bevölkerung diese Einschränkungen nicht als Willkürakt der Regierung, sondern als notwendige Reaktion auf eine gefährliche Pandemie wahrgenommen hat, ist nicht zuletzt den pluralistischen Medien zu verdanken.1

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 3/2020 (Ausgabe 93), S. 31-35

Vollständiger Beitrag als:

Als der Parlamentarische Rat unser Grundgesetz (GG) am 23. Mai 1949 verabschiedete, war sein Ziel, zumindest in Art. 1 (Menschenwürde) und Art. 20 („Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“) unumstößliche Grundprinzipien für alle staatlichen Organe festzulegen und damit die Idee einer freiheitlichen deutschen Demokratie zu garantieren. Um dies zu dokumentieren, hat man diese beiden Grundwerte mit der sogenannten „Ewigkeitsklausel“ (Art. 79 Abs. 3) geschützt: Selbst mit Zweidrittelmehrheit des Bundestages können diese Prinzipien unseres Rechtsstaates nicht abgeschafft oder relativiert werden. Damit ist der Schutz der Menschenwürde (Art. 1 GG), so gut dies juristisch möglich ist, in Stein gemeißelt. Zu den weiteren Grundrechten gehören die in Art. 2 garantierte freie Entfaltung der Persönlichkeit (Abs. 1) und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Abs. 2). Art. 4 sichert die freie Religionsausübung zu, Art. 8 sorgt für die Versammlungsfreiheit, die Privatsphäre in der eigenen Wohnung wird durch Art. 13 geschützt.
 

Widersprüchliche Prinzipien

Niemand hätte es für möglich gehalten, dass ein unsichtbares Virus diese Grundprinzipien innerhalb von wenigen Tagen außer Kraft setzen könnte. Art. 1 GG steht sich unter den gegenwärtigen Umständen selbst im Weg. Denn die Menschenwürde ist mit Selbstbestimmung verbunden, die dem Einzelnen die Entscheidung überlässt, auf welche Risiken er sich einlassen will. Eingriffe in die Selbstbestimmung wie die Gurtpflicht im Straßenverkehr sind nur erlaubt, wenn durch die Verweigerung des Gurtes andere Menschen in Gefahr geraten könnten – beispielsweise, weil ein Betroffener im Falle starker Verletzungen oder seines Todes durch das Nichtanlegen des Gurtes anderen bei einem Unfall nicht mehr helfen kann (Az. 1 BvR 331/85). Das Gleiche gilt für das Rauchverbot, das ebenfalls nur mit Blick auf den Nichtraucherschutz verfassungsgemäß ist.

Nun muss der Staat auch die Würde derjenigen Menschen schützen, die – in diesem Falle durch das Coronavirus – in Gefahr geraten könnten, weil durch die schnelle Ausbreitung der Seuche Krankenhausbetten mit entsprechenden Beatmungsgeräten knapp werden könnten, was im Falle einer Infektion vor allem bei Risikopatienten mit Vorerkrankungen den Tod bedeuten würde. Da der Schutz der Menschenwürde in Art. 1 GG als Leitwert über allem steht, auch über dem Handeln aller gesellschaftlich relevanten Organe, ist es nicht zu rechtfertigen, besondere Risikogruppen aus dem Schutz ihrer Würde herauszunehmen.
 


Christiane Hoffmann, Hauptstadtredakteurin des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“, hatte zwar Verständnis für den Shutdown, forderte aber in ihrem Leitartikel vom 28. März 2020: „[…] in den kommenden Wochen und Monaten werden wir immer wieder neu abwägen müssen. Dann stehen schwere Entscheidungen an, es wird darum gehen, welche Risiken wir eingehen, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Oder ob es eine Lösung sein kann, die besonders Gefährdeten zu isolieren? […] Wenn wir jetzt die gesundheitlich Schwächsten schützen, müssen wir sicherstellen, dass den Preis dafür langfristig nicht die wirtschaftlich Schwächsten zahlen“ (Hoffmann 2020).

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble äußerte sich in einem „Tagesspiegel“-Interview kritisch dazu, „dass manche meinten, angesichts der Pandemie habe hinter dem Schutz des Lebens alles andere zurückzutreten. Anders als die Menschenwürde sei das Grundrecht auf Leben kein absoluter Wert, sondern durch andere Grundrechte einschränkbar […].“ (Schäuble, zitiert nach Müller-Neuhof 2020).

Ähnlich äußerte sich der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer: „Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“ (Palmer, zitiert nach „Der Tagesspiegel“, 28.04.2020).

Faktisch bedeutet das: Die Menschenwürde als der Leitwert der Verfassung unseres Staates gilt im Hinblick auf einen zweiten Grundwert, nämlich das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, nur noch bedingt.

Der Staat, so wurde Palmer verstanden, solle seine Schutzmaßnahmen selbst auf die Gefahr hin reduzieren, dass man durch Corona den Tod sogenannter Risikopatienten in Kauf nimmt.
 

Zahlreiche Beschränkungen von Grundwerten

Aber auch andere Einschränkungen des öffentlichen Lebens setzten verschiedene Grundwerte außer Kraft: Gottesdienste waren nur noch online erlaubt, der Besuch in Alten- und Pflegeheimen wurde nahezu komplett verboten. Schulen wurden geschlossen, Kinderbetreuung gab es nur noch für Eltern, bei denen mindestens ein Elternteil in einem „systemrelevanten“ Beruf arbeitete, Ämter reagierten nur noch auf Onlineanfragen. Das Grundrecht auf freie Berufsausübung (Art. 12 GG) wurde beschnitten, ganze Berufszweige konnten ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen, viele Büros stellten auf Homeoffice um. Die Reisefreiheit wurde aufgehoben, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern sperrten ihre Distrikte für Touristen aus anderen Bundesländern. Um die sozialen Folgen zu mildern, wurde die Begrenzung der Neuverschuldung, noch 2009 in Art. 109 Abs. 3 GG beschlossen, wieder aufgehoben. Der Staat drehte mit der Zustimmung ansonsten zurückhaltender Wirtschaftsfachleute den Geldhahn auf, am 3. Juni 2020 wurde ein Konjunkturprogramm von 130 Mrd. Euro beschlossen.

Eine Weile schien es, als hätten die Regierung, das Parlament, die Wirtschaftsbosse und Wirtschaftsweisen ihre Entscheidungskompetenz an Virologen, Epidemiologen und Lungenfachärzte abgegeben. Über die ersten Wochen der Krise hinweg wurde allmorgendlich die Pressekonferenz von Prof. Dr. Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), live übertragen, der die aktuellen Zahlen von Infizierten und an Corona gestorbenen Personen mitteilte. Der R-Faktor, der anzeigt, wie viele Menschen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt, schien plötzlich zur eigentlichen Währung zu werden. Die Einordnung der Lage durch Wissenschaftler wie Prof. Dr. Christian Drosten, Prof. Dr. Alexander S. Kekulé, Prof. Dr. Hendrik Streeck oder Prof. Dr. Melanie Brinkmann war wichtiger als die durch Politikerinnen und Politiker der Bundesregierung.

Obwohl der Shutdown für viele Menschen eine komplette Katastrophe darstellte, blieb es in Deutschland weitgehend ruhig. Selbst der Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung, in der Besuche praktisch verboten waren, wurde weitgehend akzeptiert.
 

Die Rolle der Medien

Proteste gab es kaum, stattdessen stiegen die Zustimmungswerte für die Bundeskanzlerin und die CDU als größte Regierungspartei in vorher für unmöglich gehaltene Höhen. Damit dies gelingen konnte, waren die Medien von entscheidender Bedeutung. Sie haben glaubhaft deutlich gemacht, welche Risiken eine Verweigerung dieser Restriktionen nach sich gezogen hätte. Rundfunk und die Printmedien haben ihr Programm komplett umgestellt. Seit Wochen gibt es keine Nachrichtensendung oder Talkshow, die nicht Corona oder die damit zusammenhängenden Probleme thematisiert hätte. Ob Markus Lanz, stern TV, maybrit illner oder Anne Will: Es ging um die Notwendigkeiten der Beschränkungen und die Bereitschaft der Menschen, die Maßnahmen auch ernst zu nehmen. Die Entwicklung der Krankheit, die Problematik der Todesfälle, die Schwierigkeiten, in diesen Zeiten die eigenen Kinder in kleinen Wohnungen zu beschäftigen, das Problem der Onlinelehre für pädagogisch nicht ausgebildete Eltern – alle Themen wurden ausführlich dargestellt. Das Land versank in einer kollektiven Coronahypnose, an der die Medien einen großen Anteil hatten.

Neben der intensiven Berichterstattung über die Gefährlichkeit des Coronavirus wirkten die Medien aber auch sehr intensiv an der Konditionierung ihrer Rezipientinnen und Rezipienten mit. Sie zeigten, wie die Polizei unzulässige Menschengruppen auflöste und vereinzelt Verhaftungen vornahm. Pressekommentare drückten Unverständnis über so viel Unmoral und Verantwortungslosigkeit aus. Politiker lobten ihrerseits über die Medien eindringlich die große Bereitschaft der Menschen, sich an die jeweiligen Auflagen zu halten: Wohlverhalten wurde gelobt, Fehlverhalten massiv getadelt. Dabei kamen die realistischen Opferbilder dem Gelingen dieses hypnotischen Zustandes zu Hilfe. Aus Italien und Spanien, später auch aus den USA und Brasilien gab es Bilder und Berichte von Mengen an Särgen, die aus den Krankenhäusern geholt und irgendwo „geparkt“ werden mussten, weil die Beerdigungsinstitute völlig überfordert waren.
 

Der ethische Diskurs

Auch der Deutsche Ethikrat gab zu den ethischen Fragen der Coronakrise am 27. März 2020 eine Stellungnahme ab, die der damalige Vorsitzende Dr. Peter Dabrock, Professor für Systematische Theologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, und der Verfassungsrechtler Dr. Steffen Augsberg, Professor für Rechtswissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen, in der Bundespressekonferenz am 7. April 2020 vorstellten.
 

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Augsberg ging zunächst auf das ethische Problem der Triage ein. Art. 1 GG verbiete es dem Staat, qualitative oder quantitative Kriterien an das menschliche Leben anzulegen, jeder Mensch sei gleich viel wert, so Augsberg. Moralische Einschätzungen hätten sich an die rechtlichen Vorgaben zu halten. Man dürfe nicht verschiedene Kriterien an die Jüngeren oder Älteren anlegen. Wenn alle Plätze belegt seien und ein neuer Patient nur überlebe, wenn die Beatmung eines anderen hierfür beendet werde, werde eine im Ergebnis tödliche Handlung vorgenommen. Das Pflegepersonal könne sich in diesen Fällen an Empfehlungen von Fachgremien orientieren. Ob das in der Praxis eine hilfreiche Position ist, bleibt zweifelhaft: Egal, wie der Arzt handelt, könnte er für den Tod entweder des einen oder des anderen Patienten verantwortlich gemacht werden.

Dabrock ging auf die Frage ein, ob der begonnene Diskurs über Ausstiegsszenarien aus dem Lockdown ethisch erlaubt sei oder ob man sich in Geduld üben müsse. Zwar sei es für Lockerungen derzeit zu früh, aber es sei nie zu früh für eine öffentliche Diskussion über Öffnungsperspektiven. Die Menschen brauchten in einer solchen Situation Hoffnungsbilder. Die Stellungnahmen von Politikern zu möglichen Öffnungen würden allerdings aus Sicht des Ethikrates zu sehr den Zeitaspekt betreffen und zu wenig auf die fachlichen und sozialen Kriterien eingehen. Wenn man angekündigte Lockerungen später aufschieben oder zurücknehmen müsse, führe das zu Frustrationen – und das bedrohe die große Zustimmungsrate.

Man solle immer wieder kritisch prüfen, ob die Maßnahmen für alle oder für einzelne Gruppen weiterhin geeignet, erforderlich und angemessen, kurzum: verhältnismäßig seien. Dabei gehe es um die Bedeutung unterschiedlicher schutzwürdiger Güter und das Maß eines akzeptierbaren Risikos. Es gehe nicht nur darum, ob das Leben oder die Wirtschaft zuerst zu sichern sei, es gebe darüber hinaus weitere Solidaritätskonflikte.

Der Wille, den betroffenen Kranken zu helfen, führe oft dazu, die Opfer des Lockdowns aus dem Blick zu verlieren: Operationen würden verschoben, Präventionsuntersuchungen abgesagt, Therapien abgebrochen, Sterbende und Kranke nicht mehr so begleitet, wie es die Menschlichkeit verlange. Es gehe um die Abwägung zwischen dem medizinisch Notwendigen und dem sozial Hinnehmbaren. Deshalb seien nicht nur die Fachwissenschaftler gefragt, vielmehr müsse die Wissenschaft zusammen mit der Politik nach den besten Maßnahmen aufgrund der gegebenen Fakten suchen lassen: „Die Coronakrise ist die Stunde der demokratisch legitimierten Politik“, so Dabrock.
 

Das Bedürfnis nach Normalität

Die Medien spürten den Zeitpunkt, an dem die Bereitschaft für die Restriktionen allmählich abnahm. Nun tauchten auch Fachleute und Politiker auf, die eine lockerere Sicht auf die Dinge hatten. Das führte auch zu Verwirrungen, z.B. in Bezug auf die Maskenpflicht. Der Radiologe Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery, 18 Jahre lang Präsident des Marburger Bundes und seit 2019 Präsident des Weltärztebundes, stellte wie einige andere die Masken als eher gefährlich dar. Nach langem Zögern ist inzwischen in öffentlichen Verkehrsmitteln, Geschäften und Restaurants – dort allerdings nur für die Kellnerinnen und Kellner – die Maske zur Pflicht geworden.

Letztlich waren es Politiker und der Epidemiologe Hendrik Streeck, die die Wende einläuteten. Armin Laschet, Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, dessen Bundesland in Heinsberg durch die leichtfertig zugelassenen Karnevalsveranstaltungen besonders hohe Infiziertenzahlen verzeichnete, gab bei dem Bonner Epidemiologen eine repräsentative Studie in Auftrag, die nicht mehr nur die Statistiken von Infizierten und Gestorbenen zugrunde legte und damit diejenigen nicht erfasste, bei denen keine Symptome vorlagen und deshalb nicht getestet wurden.2 Von den etwa 500 durch Streeck getesteten Personen verfügten im Ergebnis 15 % bereits über Antikörper, also sehr viel mehr als die vorher bekannte Zahl der Infizierten. Die „Durchseuchungsrate“ – also der Anteil der Menschen, die aufgrund einer bereits überstandenen Erkrankung Antikörper aufweisen und deshalb mutmaßlich gegen weitere Infektionen immun sind – war größer als erwartet.
 


Armin Laschet nutzte die Vorstellung der Studie für die Forderung nach einer allmählichen Lockerung der Schutzmaßnahmen. „Wir müssen eine Lösung finden, wie wir Freiheit und Gesundheitsschutz besser in Einklang bringen können“ (Laschet, zitiert nach Voogt 2020). Sein bayerischer Amtskollege Markus Söder hingegen hielt solche Überlegungen für verfrüht. Angela Merkel warb ihrerseits für eine bundesweite Einigung auf weitere drei Wochen des Shutdowns, ebenso der Virologe Christian Drosten, der eindringlich vor einer zweiten Welle warnte, die schlimmer werden könnte als die erste.

Auch der Physiker Prof. Dr. Michael Meyer-Hermann, der die Entwicklung der Pandemie in digitalen Computermodellen nachbaute, riet zur Vorsicht: „Ich hätte es bevorzugt, wenn wir versucht hätten, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln eine totale Bremse zu ziehen, damit wir in einer absehbaren Zeit zu einer großen Normalität zurückkehren können“ (Meyer-Hermann 2020).

Aber in den Medien und auch in der Bevölkerung hatte sich die Stimmung in Richtung Lockerung gedreht. Das spürte auch Markus Söder – und plötzlich brach die Bereitschaft der Länder ab, mit Kanzlerin Merkel gemeinsam bundesweit geltende Maßnahmen zu verabreden. Söder kündigte die Öffnung der Grenzen nach Österreich an, der Tourismus kommt allmählich wieder in Gang. Inzwischen dürfen Urlauber wieder an die Nord- und Ostsee, wenn auch mit Sicherheitsabstand und Maskenpflicht. Die Medien machten diesen Prozess mit und sorgten dafür, dass in der Bevölkerung ein Bewusstsein für ein Restrisiko der zweiten Welle erhalten blieb.

Bodo Ramelow, Ministerpräsident in Thüringen, erntete zunächst viel Kritik, als er am 26. Mai 2020 in seinem Bundesland alle Coronabeschränkungen mit dem Hinweis aufhob, es gebe dort keine Infizierten mehr. Doch inzwischen ist auch die Urlaubsreise nach Spanien und Italien wieder möglich, die Schritte in Richtung Normalität werden immer größer, auch wenn die Gefahr einer zweiten Welle immer noch besteht.

Momentan (Stand: Mitte Juni 2020) sind die Infektionszahlen trotz der inzwischen galoppierenden Rücknahmen der Restriktionen immer noch relativ niedrig. Im Vergleich zum Anfang der Krise, als einige wenige Infizierte das Virus aus anderen Ländern mit nach Deutschland gebracht hatten und sich Covid‑19 rasend schnell verbreitete, scheint es nun zwar einige Herde zu geben – so nach einem Gottesdienst in Frankfurt, einer Familienfeier in Göttingen und in verschiedenen Massenunterkünften von Mitarbeitern in Schlachthöfen –, aber das sind bisher einzelne, lokal begrenzte Ausbreitungen. Wenn man heute in Restaurants oder an Badestränden nach Distanz und Abstand Ausschau hält, hat man das Gefühl, Corona hätte es nie gegeben. Der Hunger der Menschen nach Normalität und Kontakt zu anderen scheint keine Grenzen zu kennen. Wir können nur hoffen, dass dies gut geht.
 

Fazit

Schon die Positionierung des Ethikrates zeigt: Zu Prinzipien unserer Grundrechte gibt es in Krisenzeiten manchmal nur sehr relative Antworten. Die Menschenwürde in Art. 1 GG gilt zwar für jeden, doch in einer Abwägung darüber, ob der Arzt eher einen Todkranken oder einen relativ Gesunden rettet, hilft das nicht weiter. Auch die Hilfestellungen von Fachverbänden können dieses Dilemma nicht ausräumen. Es ist praktisch nicht möglich, in der gegenwärtigen Krisensituation den Grundwerten unserer Verfassung konsequent zu folgen.

Das in dem Begriff der Menschenwürde implementierte Recht auf Selbstbestimmung – ebenso wie eine Reihe anderer Grundwerte wie das der freien Religionsausübung oder das Recht auf Privatheit in der eigenen Wohnung – steht in einem offensichtlichen Widerspruch zu dem Grundrecht auf Leben anderer, das – ebenfalls dem Schutz der Menschenwürde folgend – grundsätzlich nicht danach abgewogen werden darf, ob jemand möglicherweise ohnehin bald gestorben wäre.

Der Staat hat den Menschen sehr viel abverlangt und versucht, eine Balance zwischen den relevanten Grundrechten herzustellen und dabei möglichst den Schaden für die betroffenen Gruppen abzumildern. Die Medien haben den kommunikativen Teil des Prozesses recht gut gemanagt und dazu beigetragen, dass der Shutdown – zumindest bisher – ohne allzu großen Schaden abgelaufen ist.

Die Triage ist uns zum Glück in Deutschland erspart geblieben. Aber die Coronakrise hat uns gezeigt, dass die Werte unseres Grundgesetzes zwar als prinzipielle Absichtserklärungen sehr gut geeignet sind, dass es aber immer wieder Fälle gibt, in denen sich die einzelnen Prinzipien widersprechen und eine eindeutige Position nicht möglich ist. Das Ergebnis sind Konstrukte, die nach einem über die Medien geführten Diskurs durch die demokratisch legitimierte Politik entstehen müssen.
 

Anmerkungen:

1) Informationsstand: Mitte Juni 2020

2) Die Präsentation von Zwischenergebnissen der Studie durch Armin Laschet und Hendrik Streeck ist abrufbar unter: https://www.youtube.com (letzter Zugriff: 16.06.2020)


Literatur:

Ärztezeitung: Corona-Schutzmaßnahmen. Montgomery hält Maskenpflicht für falsch. In: Ärztezeitung online, 23.04.2020. Abrufbar unter: https://www.aerztezeitung.de (letzter Zugriff: 16.06.2020)

Der Tagesspiegel: Boris Palmer provoziert in Coronavirus-Krise. „Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“In: Der Tagesspiegel, 28.04.2020. Abrufbar unter: https://www.tagesspiegel.de (letzter Zugriff: 16.06.2020)

Deutscher Ethikrat: Pressekonferenz zur Coronakrise. Berlin, 07.04.2020. Abrufbar unter: https://www.youtube.com (letzter Zugriff: 16.06.2020)

Hoffmann, C.: Der Preis des Lebens. Die Pandemie zwingt der Welt eine Tabudebatte auf. In: Der Spiegel, 14/2020, 28.03.2020, S. 6

Meyer-Hermann, M.: Interview. In: ZDF heute-journal, 15.04.2020 (zitiert nach RiffReporter). Abrufbar unter: https://www.riffreporter.de (letzter Zugriff: 16.06.2020)

Müller-Neuhof, J.: Schäubles Einlassungen zu Corona. Einer muss es mal sagen. In: Der Tagesspiegel, 29.04.2020. Abrufbar unter: https://www.tagesspiegel.de (letzter Zugriff: 06.06.2020)

Voogt, G.: Wege in die Normalität. Die Erkenntnisse aus der Pressekonferenz mit Armin Laschet. In: Kölner Stadt-Anzeiger, 09.04.2020. Abrufbar unter: https://www.ksta.de (letzter Zugriff: 16.06.2020)