Verliebt in ein Karussell

Der Film JUMBO bei „Generation 14plus“

Barbara Felsmann

Barbara Felsmann ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt „Kinder- und Jugendfilm“ sowie Autorin von dokumentarischer Literatur und Rundfunk-Features.

Die Sektion „Generation“ der Berlinale ist bekannt dafür, dass sie sich immer wieder an schwierige und ungewöhnliche Themen für Kinder und Jugendliche heranwagt. In diesem Jahr überraschte die Auswahlkommission mit einem Spielfilm, der zum Nach‑, Um- und Neudenken über Sexualität herausfordert: Jumbo von der belgischen Regisseurin und Drehbuchautorin Zoé Wittock.

Online seit 25.03.2020: https://mediendiskurs.online/beitrag/verliebt-in-ein-karussell/

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„Jumbo“ ist weder der Kosename für einen Elefanten noch für ein Kuscheltier. „Jumbo“ nennt die junge in sich gekehrte Jeanne zärtlich das neue Fahrgeschäft „Move It“, das sich in einem Vergnügungspark befindet, wo sie nachts als Putzfrau arbeitet.

Jeanne lebt zurückgezogen bei ihrer Mutter Margarette, einer flotten, selbstbewussten Frau, die sich liebevoll um ihre Tochter kümmert und immer einen frechen Spruch auf den Lippen hat. So heißt es zum Abschied gewöhnlich: „Ein Kuss für dich, ein Kuss für mich und einen für deinen Vater. Schließlich hat er geholfen, dich zu machen. Oder glaubst du, es war mein Dildo?!“

Margarette wünscht sich nichts sehnlicher, als dass ihre Tochter nicht immer nur zu Hause hocken und filigrane, blinkende Karussells und Riesenräder aus Draht bauen würde. Sie sollte etwas mit Gleichaltrigen unternehmen und sich verlieben. Aber Jeanne ist und bleibt ein scheues Mädchen. Nur zu dem jungen Parkleiter Marc fasst sie etwas Vertrauen. Doch Marc will mehr, während seine Mitarbeiterin am liebsten beim „Move It“ weilt. Jeanne fühlt sich angezogen von dessen verchromten, mächtigen „Armen“, den strahlenden, farbigen Leuchten und ist fest davon überzeugt, dass Jumbo mit ihr spricht: Ein rotes Leuchten der Lampen bedeutet „Nein“, grün „Ja“. Zum ersten Mal in ihrem Leben spürt sie ein starkes Gefühl von Liebe und Begehren. Als sie ihrer Mutter von ihrer Zuneigung zu der Maschine erzählt und dass sie mit Jumbo ihren ersten Orgasmus erlebt habe, ist Margarette so irritiert, dass sie ihre Tochter vor die Tür setzt.

Ein schwieriger Weg beginnt für die beiden. Während Jeanne erwachsen wird und sich ihrer Gefühle und Bedürfnisse sicher werden muss, wird Margarette lernen, ihre Tochter so zu akzeptieren, wie sie ist.
 



Reale Vorbilder

Objektsexualität, worum es in Jumbo geht, ist eine seltene sexuelle Orientierung, die erstmals 1979 in der Öffentlichkeit bekannt wurde, als die Schwedin Eija-Riitta Eklöf die Berliner Mauer heiratete und sich von da an Eija-Riitta Eklöf-Berliner-Mauer nannte. Sie gilt als die erste Objektsexuelle der Moderne. Inspiriert für ihren Film wurde die Filmemacherin Zoé Wittock allerdings von der US-amerikanischen Bogenschützin Erika LaBrie, die 2004 durch die Eheschließung mit dem Eiffelturm weltweit durch die Medien ging und die die Filmemacherin auch persönlich kennenlernte.
 



Das Thema faszinierte Zoé Wittock in zweierlei Hinsicht: Sei wollte zum einen erkunden, wie sich die Liebe zu einem Objekt „anfühlt“, aber vor allem auch, wie die Gesellschaft mit dieser auf den ersten Blick befremdlich wirkenden sexuellen Orientierung umgeht. Dass man, was die Gesellschaft betrifft, schnell an die Grenzen stößt, hat die Filmemacherin bitter erfahren müssen. Denn es war sehr schwer, Förderung und finanzielle Unterstützung für ihr Filmprojekt zu bekommen. Trotzdem hat sie sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen lassen.
 

Achterbahn der Gefühle

Entstanden ist ein faszinierender Film, der für Toleranz und Verständnis eintritt und durch seine außergewöhnliche Visualisierung eine Ahnung davon vermittelt, was sich in der Gefühlswelt von Objektsexuellen abspielt. Von dem Fahrgeschäft „Move It“ geht in der Tat eine faszinierende Magie aus, hervorgerufen durch den Sound, die Lichteffekte und die zauberhaften Bilder, aufgenommen von Kameramann Thomas Buelens. Der Film schafft es, auch das Publikum gefangen zu nehmen und Verständnis für Jeanne entstehen zu lassen. Jeanne selbst, diese stille, unsichere, verträumte Alleingängerin wird einfühlsam und überzeugend gespielt von Noémie Merlant. Im Herbst 2019 war sie in dem preisgekrönten Film Porträt einer jungen Frau in Flammen zu erleben. Sie gibt der Geschichte eine Tiefe und Betroffenheit, der man sich nicht entziehen kann.

„Eine Achterbahnfahrt der Gefühle, verpackt in poetischen, dynamischen und leuchtenden Bildern, das ist Jugendkino, das uns flasht und begeistert“, heißt es in der Begründung der Jury, die Jumbo mit dem AG Kino Gilde 14plus-Preis, gestiftet von VISION KINO, auszeichnete.
 

Das junge Publikum

Aber auch beim jugendlichen Publikum kam der Film gut an. Der 13-jährige Yaron, Jugendreporter während der Berlinale, äußerte in einem Gespräch nach der Vorstellung, dass er von Objektsexualität vorher zwar noch nichts gehört habe, aber das Thema sehr interessant finde. Er habe die Atmosphäre im Kino als sehr aufgeschlossen empfunden, die Jugendlichen hätten die Geschichte nicht als etwas Fremdes oder etwas, wofür man sich fremdschämen müsse, aufgenommen.

In seiner Filmkritik im Blog der Freien Generation Reporter schreibt Yaron: „Alles in allem ist Jumbo ein sehr gelungener Film, den sich alle anschauen sollten, die sich vor Nacktheit in Filmen nicht ‚ekeln‘ (es gibt viel bei Jumbo) und mal Filme über außergewöhnliche Themen sehen wollen.“