„Immer wieder für Überraschungen gut“

Tilmann P. Gangloff im Gespräch mit Kai Gniffke, Leonhard Dobusch

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland ist derzeit vielleicht in der größten Krise seiner fast 75-jährigen Geschichte. Das Publikum ist überaltert, die Angriffe von rechts nehmen bedrohliche Ausmaße an, sämtliche Bereiche stehen unter großem Spardruck, Beitragserhöhungen scheinen angesichts der ablehnenden Haltung gerade in den ostdeutschen Länderparlamenten illusorisch. Kai Gniffke, Intendant des SWR und Vorsitzender der ARD, spricht im Gespräch mit Tilmann P. Gangloff und dem früheren ZDF-Fernsehratsmitglied Leonhard Dobusch über die Reaktionen der ARD auf populistische Kritik, über den Dialog mit dem Publikum und den Weg in die Zukunft.

Online seit 22.02.2024: https://mediendiskurs.online/beitrag/immer-wieder-fuer-ueberraschungen-gut-beitrag-772/

 

 

Herr Gniffke, täuscht der Eindruck oder befindet sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk aktuell in seiner größten Krise?

Kai Gniffke: 53 Mio. Deutsche nutzen täglich die ARD. Halten Sie das für eine Krise?

Nun ja, Sie können nicht bestreiten, dass der Rückhalt in der Politik bröckelt. Die Angriffe nicht nur vom rechten Rand werden immer schärfer; eine notwendige Erhöhung des Beitrags, den jeder Haushalt zahlen muss, ist mehr als fraglich. Kann sich die ARD ihr teures Programm in Zukunft überhaupt noch leisten?

Gniffke: Da ist ein zentrales Missverständnis in Ihrer Frage. Unser Programm ist nicht teuer, es ist vielfältig und umfangreich. Und das ist so, weil die Politik es über die Medienstaatsverträge so beauftragt hat. Es ist unsere Pflicht, diese beauftragten Programme weiter in der Qualität zu liefern, die das Publikum von uns erwartet. Zumal wir gleichzeitig Topqualität für Radio, Fernsehen und digitale Ausspielwege entwickeln. Deshalb schichten wir in der ARD in der kommenden Beitragsperiode 250 Mio. Euro für digitale Programmangebote um.

Damit sprechen Sie ein weiteres erhebliches Problem an: Wegen des demografischen Wandels ist das treue Stammpublikum über 60. Sendet die ARD irgendwann ins Nichts?

Gniffke: Das stimmt nicht. Die Hörer von SWR3 und Dasding sind viel jünger, genauso wie die knapp 4,8 Mio. Instagram-Follower der Tagesschau. Natürlich müssen wir unser digitales Angebot weiter ausbauen. Das gemeinsame Streamingnetzwerk mit dem ZDF ist ein gutes Beispiel, wie wir uns diese Zukunft vorstellen.
 

Dr. phil. Kai Gniffke (Jahrgang 1960) hat Politikwissenschaft, Soziologie und Öffentliches Recht studiert. Als Reporter arbeitete er bei den Fernsehnachrichten des SWF in Mainz und ab 1995 als Landespolitischer Korrespondent. 1999 übernahm er die Leitung der Redaktion ARD-aktuell beim SWR in Rheinland-Pfalz. Von 2003 bis 2005 war er Zweiter Chefredakteur von ARD-aktuell. Von 2006 bis 2019 verantwortete er als Erster Chefredakteur von ARD-aktuell unter anderem Tagesschau, Tagesthemen und tagesschau.de. Seit September 2019 ist er Intendant des SWR. 2007 erhielt Gniffke den Grimme Online Award für seine Autorenschaft in einem der Tagesschau-Blogs.


 

Gezielt für die Mediathek

Für junge Leute ist 2016 das Online-Angebot funk gestartet. Es soll dafür sorgen, dass auch diese Zielgruppe öffentlich-rechtliche TV-Produktionen wahrnimmt. Täuscht der Eindruck, oder werden Hinweise auf den Hintergrund schamhaft verschwiegen? Ist das Image von ARD und ZDF bei Menschen zwischen 20 und 30 Jahren so schlecht?

Gniffke: Erneuter Einspruch: 60 % der funk-Nutzer wissen, dass es sich um ein öffentlich-rechtliches Angebot handelt. Wenn Sie im Internet die Seite funk.net besuchen, dann steht da unten rechts „funk ist ein Angebot von ARD und ZDF“. Auch bei den Social-Media-Angeboten von funk ist der Hinweis sehr deutlich. Wir verstecken jedenfalls gar nichts, und warum auch:

Wir sind stolz auf funk. Wir erreichen hier – gemeinsam mit dem ZDF – viele junge Menschen mit Inhalten, die junge Menschen interessieren. Das ist auch Teil unseres Auftrags.“

Herr Dobusch, Sie haben sich als Mitglied des ZDF-Fernsehrats regelmäßig kritisch über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geäußert. Waren Sie ein einsamer Rufer in der Wüste?

Leonhard Dobusch: Den meisten Zuspruch habe ich tatsächlich aus dem öffentlich-rechtlichen Kosmos selbst erhalten, und zwar quer über alle Hierarchie-Ebenen hinweg. Ich habe mich also nie einsam gefühlt. Wenn meine Kritik etwas bewirkt hat, lag das aber immer daran, dass viele andere von innen und außen ebenfalls Druck gemacht haben.

Was ist Ihrer Ansicht nach aktuell die größte Herausforderung für ARD und ZDF?

Dobusch: Das öffentlich-rechtliche System sieht sich zunehmend einer rechtspopulistischen und neofaschistischen Kritik an ihrer vermeintlichen Voreingenommenheit ausgesetzt.

Darauf antworten ARD und ZDF oft mit einer Form von Neutralität, die im Fall von Rassismus, Demokratiefeindlichkeit und Klimawandelleugnung völlig deplatziert ist. Diese beschwichtigende Reaktion auf demokratiefeindliche Angriffe ist keine wirksame Strategie gegen Feinde des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, hier bräuchte es eher mehr statt weniger Haltung.“

Gniffke: Mir hat noch keiner schlüssig den Unterschied zwischen Haltung und Meinung erklären können. Meinung hat in der ARD einen ausdrücklich gekennzeichneten Sendeplatz zum Beispiel in den Tagesthemen, und ansonsten trennen wir sehr genau zwischen Meinung und Bericht. Es gibt im Journalismus professionelle, ethische und handwerkliche Regeln. Für mich mit meiner Tagesschau-Vergangenheit ist das auch nicht verhandelbar: Wir sollen niemandem durch eine eigene Haltung belehren; die Leute müssen sich ihre Meinung selbst bilden können.

Dobusch: Jeder journalistische Beitrag, egal welches Format, hat doch eine Haltung. Die drückt sich zum Beispiel darin aus, wer befragt wird und wer nicht. Das hat nichts mit Belehrung zu tun, sondern damit, dass wertfreier Journalismus unmöglich ist.

Gniffke: Ich würde jetzt ungern Werte und journalistische Objektivität vermischen. Natürlich gibt es keinen wertfreien Journalismus.

Ein grundlegender Wert ist dabei die Überzeugung, dass in einer Demokratie alle Menschen ihre Meinung frei äußern können, weil sie am Ende diese Welt, die sie aus unterschiedlichen Perspektiven sehen, gemeinsam gestalten wollen.“

Wir haben dabei die Aufgabe, diese Perspektiven zu vermitteln. Selbst wenn Journalisten auch ihre eigene Perspektive haben mögen, muss die im Programm in den Hintergrund treten. Dazu gibt es Regeln und Techniken. Meine Lieblingsmetapher dafür: Ein Arzt behandelt jeden kranken Menschen nach bestem Wissen und Gewissen, egal, welche Partei diese Person wählt.
 

„Umgekehrt zum klassischen Fernsehen“

Dobusch: Zu den zentralen Aufgaben öffentlich-rechtlicher Medien gehört es, zur demokratischen Meinungsbildung beizutragen. Wieso verweigern sich öffentlich-rechtliche Digitalplattformen wie etwa die Mediatheken dieser Aufgabe? Warum gibt es dort keine moderierten Räume für Debatten über öffentlich-rechtliche Inhalte?

Gniffke: Dialog findet bei uns vielfach statt, denn er ist uns wichtig. Ab 2024 gibt es in den Infowellen der ARD zweimal pro Woche Dialogformate. Die ARD-Medienhäuser haben zahlreiche weitere Angebote; wer mit uns reden will, der kann das heute schon sehr einfach tun. Ich biete zum Beispiel regelmäßig einen Live-Austausch via Instagram an, offen für alle. Ich bin noch nicht überzeugt, dass die ARD-Mediathek der beste Ort dafür ist.

Dobusch: Gerade die ARD bietet auf YouTube ganze Sendungen wie zum Beispiel das Satiremagazin extra 3 an und kümmert sich dort auch um die Kommentare, lässt zu denselben Sendungen aber keine Diskussion in der ARD-Mediathek zu.

Wie ist es vertretbar, die Beitragszahlenden zur Diskussion öffentlich-rechtlicher Inhalte auf private, überwachungskapitalistische Plattformen zu zwingen, für die man dann auch noch die Moderation übernimmt?“

Gniffke: Wenn wir Kommentare ermöglichen, müssen wir eine faire und respektvolle Diskussionskultur sicherstellen. Darum prüfen wir derzeit, wo und in welchem Umfang wir in der ARD-Mediathek eine Kommentarfunktion anbieten können. Bei den großen privaten Streaming-Mitbewerbern gibt es übrigens überhaupt keine Kommentarmöglichkeit.

Dobusch: Aber das ist doch der Punkt: Netflix und Disney+ sind denkbar schlechte Vorbilder für öffentlich-rechtliche Mediatheken. Dort gibt es keine Nachrichteninhalte, keine aktuelle, demokratierelevante Berichterstattung. Und eben auch keine Debatten. Deshalb ist YouTube das bessere Vorbild für Mediatheken als Netflix.

Gniffke: Nachrichten und aktuelle, demokratierelevante Berichterstattung gibt es in der ARD-Mediathek zuhauf; daran sehen Sie schon, dass Netflix kein Vorbild für uns ist. Die ARD-Mediathek stellt öffentlich-rechtliche Inhalte zur Verfügung. Wer mit uns über diese Inhalte diskutieren will, der kann das auf vielen Wegen tun. Wir haben Kommentarmöglichkeiten in der Mediathek getestet und arbeiten mit verschiedenen Redaktionen daran, sinnvolle Interaktionen und Dialogmöglichkeiten für ausgewählte Sendungen zu erarbeiten. Und Sie kennen meine Vision eines größeren Netzwerkes, das Inhalte und Dialog, öffentlich-rechtliche, andere gemeinwohl-orientierte und auch privatwirtschaftliche Inhalte vereint. Ich habe das mal „deutschsprachigen Medienmarktplatz“ genannt. Der Weg dahin ist lang, und man kommt am besten in kleinen Schritten vorwärts, wenn man nicht stolpern will. 
 

Leonhard Dobusch (Jahrgang 1980) lehrt Organisationstheorie an der Universität Innsbruck und war auf Vorschlag unter anderem des Chaos Computer Clubs ab 2016 für die Interessensgruppe „Internet“ sechs Jahre lang Mitglied des ZDF-Fernsehrats. Seit 2022 ist er Mitglied des zwölfköpfigen ZDF-Ver­wal­tungs­rats. Über die Sitzungen des Fernsehrats berichtet er auch weiterhin in seiner Kolumne auf der Website von netzpolitik.org.


 

Und was ist mit Podcasts?

Dobusch: Podcasts boomen und sind längst kein Nischenmedium mehr. Die ARD ist der wahrscheinlich mit Abstand größte Podcastanbieter in Deutschland. Warum gibt es immer noch keinen ARD-Podcast-Player, der auch das Abonnieren externer Podcasts erlauben und die ARD damit zur Podcastplattform Nummer eins machen würde?

Die ARD-Audiothek erfüllt diesen Zweck leider nicht.“

Gniffke: Das war aber auch nie ihre Aufgabe. Die ARD-Audiothek ist keine Abspielstation für beliebige Podcasts, sondern die Quelle für Inhalte, die wir als ARD verantworten. So haben wir sie von Anfang an konzipiert: einzigartig. Wo öffentlich-rechtlich draufsteht, soll man genau das auch zuverlässig bekommen.

Sie sind sich, denke ich, trotzdem einig: Die ARD muss sich verändern, und das nicht nur in Ansätzen. Die Rahmenbedingungen werden zwar in der Landespolitik entschieden, aber es wäre sicher nicht verkehrt, wenn die ARD diesen Prozess initiieren und vorantreiben würde. Kann sie das? Will sie das überhaupt?

Gniffke: Wir sind schon längst dabei. Die 250 Mio. Euro Umschichtung ins Digitale habe ich schon genannt. Um Programm effizienter zu produzieren, führen wir neue Formen der Zusammenarbeit ein, Stichwort Kompetenzcenter oder gemeinsame Programmstrecken in den Info- und Kulturwellen im Radio. Das ist alles bereits beschlossen, man wird es dieses Jahr im Programm hören und sehen. Auf diesem Wege geht es weiter.

Es ist ein bisschen wie bei funk: Man traut es der ARD zuerst nicht zu. Aber die alte Dame ist immer wieder für Überraschungen gut.“
 

Anmerkung: Dieser Artikel erschien zuerst im Südkurier.

Dr. phil. Kai Gniffke hat Politikwissenschaft, Soziologie und Öffentliches Recht studiert. Seit September 2019 ist er Intendant des SWR.

Leonhard Dobusch lehrt Organisationstheorie an der Universität Innsbruck. Seit 2022 ist er Mitglied des zwölfköpfigen ZDF-Verwaltungsrats.

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.