Harald Schmidt

Zur Ästhetik und Praxis des Populären

Oliver Ruf, Christoph H. Winter (Hrsg.)

Bielefeld 2022: transcript
Rezensent/-in: Uwe Breitenborn

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 3/2023 (Ausgabe 105), S. 86-87

Vollständiger Beitrag als:

Es ist ein Buch für jene, zu deren Fernsehalltag noch Harald Schmidt gehörte. Das Kompendium nähert sich mit 16 zumeist kulturwissenschaftlichen Beiträgen (inklusive Vorwort und Einleitung) der TV-Ikone, die in den 1990er-Jahren zum hellsten Stern am deutschen Fernsehhimmel aufstieg.

Das Buch kann auf verschiedene Weisen gelesen werden: als intellektuelle Auseinandersetzung, als empirische Materialzusammenstellung oder als Hilfe zur Erinnerung, warum wir Schmidt liebten. Wir, das war häufig das selbst publizierende, urban orientierte, medienaffine Milieu, aber nicht nur. Vor allem die Harald Schmidt Show, die 1995 auf Sendung ging und fast 20 Jahre in wechselnden Kontexten zu sehen war (zuletzt 2014 bei Sky), hat tiefe Spuren in der TV-Geschichte Deutschlands hinterlassen. Sie war ein elitäres Projekt in einem nicht elitären Umfeld und wurde oft kontrovers diskutiert. Schmidt war ein Darling des Feuilletons, was in dem Beitrag von Christoph H. Winter gut herausgearbeitet wird. Ihm sei es lieber, so wird Schmidt zitiert, es lachten fünf Feuilletonchefs als ein Fußballstadion (S. 25, zitiert nach Sandra Kegel, FAZ, 17.05.2001), er sei einfach elitär.

Es ist schon erstaunlich, wie obsessiv z. B. die „FAZ“ Schmidt begleitete. Oliver Ruf nähert sich Harald Schmidt eher philosophisch-akrobatisch. In seinem Beitrag zur medienästhetischen Popularisierung geht es viel um die Thematisierung von Herkunft. Schmidt sei eigentlich immer dabei, nach Hause zu kommen oder heimzukehren (S. 84). Sarkastisch getöntes Lokalkolorit und Alltägliches waren hierfür signifikante Indizien.

Thomas Hecken widmet sich der Frage, inwieweit es sich bei der Harald Schmidt Show überhaupt um eine Show im klassischen Sinne handelt. Er legt die Verwendung der Begriffe „Revue“ oder „Varieté“ nahe und bietet einen detaillierten Abriss zur Geschichte dieser Formate. Die Harald Schmidt Show bot in ihrer erfolgreichsten Zeit bei SAT.1 eine eigenartige Synthese aus US-amerikanischer Late-Night-TV-Show, deutscher Kunstbühne und futuristischem Varieté“ (S. 98). Die Nachwirkungen Harald Schmidts reichen deutlich bis in die heutige Fernsehwelt hinein. Jan Böhmermann, Katrin Bauerfeind oder Klaas Heufer-Umlauf gehörten zum Schmidt’schen Kosmos, doch sein Mix aus Witz, Intellektualität und Distanz bleibt bis heute unerreicht. Barbara Hornberger nennt ihn daher den „Uneigentlichen“ (S. 99 ff.). Sie verweist u. a. auf die Perfektionierung seines spezifischen, oft selbstreferenziellen Präsentationsstils. Die inter- und intramedialen Verweise sowie die unverfrorene Wilderei in bildungsbürgerlichen Wissensbeständen wurden zum Markenzeichen. Kay Kirchmann beschreibt Schmidt als Produkttester, Designkritiker und Alltagssoziologen. So bedient sich Schmidt in seiner Show oft scheinbar banaler Gegenstände, um mittels Stil- und Funktionsanalyse gesellschaftliche Dysfunktionalitäten herauszuschälen.

In eine ähnliche Richtung geht Kyra Alena Mevert, indem sie den Charme von Studioaktionen wie Wochenendeinkauf, Kinderspielplatz oder Essen im Zug analysiert. Schmidt war ein scharfer Beobachter und changierte bei diesen Szenen oft „zwischen dandyhafter Moderatorenrolle und stereotypisierter Alltagsrolle“ (S. 126). Gregor Balke analysiert die selbstreflexiv-ironische Inszenierung des Fernsehens, Felix Haenlein die scheinbare Ereignislosigkeit als gestalterisches Prinzip Schmidt’scher Inszenierungen.

Torsten Hoffmann lenkt den Blick auf die „Schriftsteller:innen-Gespräche“. In der Tat ist der Literaturbetrieb in der Show gut vertreten, ohne dass Schmidt mit den Autorinnen und Autoren ausgiebig über deren Werke spricht. Es geht meistens um andere Sachen, was eine ganz eigene Komik entfaltet.

Einige Beiträge des Bandes widmen sich episodisch speziellen Beziehungen und szenischen Miniaturen, so z. B. der Aufführung von „Claus Peymann kauft sich keine Hose, geht aber mit essen“ (Winter), dem Verhältnis zwischen Schmidt und Stuckrad-Barre (Jürgensen), dem „geteilten Habitus“ bei Schmidt und Gysi (Domgörgen), oder sind selbst eine szenische Miniatur (Krankenhagen).

Vieles wird mit diesem Band in Erinnerung gerufen. Schmidts Wucht, Schärfe, Stilsicherheit und dessen Prinzipienfestigkeit werden noch einmal sichtbar. Der Sidekick Manuel Andrack wird ebenso besprochen wie der zweite Grimme-Preis für die Pause nach 9/11. Andere TV-Formate wie Schmidteinander oder Verstehen Sie Spaß? spielen eher eine Nebenrolle.

Einige Beiträge beziehen sich auf dieselben Szenen (z. B. Schmidts Zugreise mit Andrack), wodurch, trotz verschiedener Sichtweisen, zuweilen eine gewisse Redundanz entsteht. Und schade, dass die Herausgeber nur einen sehr akademischen Buchtitel für den Meister der Pointe fanden. Es ist ein gutes Buch über deutsche TV-Geschichte, denn mit dem Ende der Harald Schmidt Show begann auch für das Fernsehen eine neue Ära. „Musste sich Schmidt in den 1990er Jahren nur der Kritik eines wahlweisen empörten, ratlosen oder begeisterten Feuilletons stellen, werden heutige TV-Formate in der schnell drehenden Logik der Social Media Plattformen nicht mehr nur ästhetisch, sondern auch moralisch von jedermann beurteilt“ (S. 111). Von seinen „Nachfolgern im TV“ wie Jan Böhmermann und Dieter Nuhr unterscheide ihn die grundsätzlich enthobene Haltung zu den Gegenständen, so Winter: „Schmidt will weder belehren noch erziehen. Aktivismus ist ihm zuwider“ (S. 66).

Am Ende des Buches gibt es ein ausführliches Interview der Herausgeber mit Harald Schmidt. Das Interview sollte man zuerst lesen, um dem Schmidt-Spirit nahe zu sein. Es hat schöne Momente:

„HS: Das ganze Buch geht nur um mich?

OR: Nur über Sie, ja.

HS: Toll. Aber ist das nicht ein bisschen spät jetzt?

CHW: Nein, das ist jetzt genau richtig“ (S. 283).

Das Buch verdeutlicht auch, welche gesellschaftlichen und medialen Grenzen sich verschoben haben. Schmidts lässige Provokationen wären im heutigen Social-Media- und Achtsamkeitsdiskurs vermutlich so nicht mehr möglich. Auf die Frage, ob die Welt ernster geworden sei, antwortet Schmidt: „Nicht ernster, aber anstrengender“ (S. 263).