Entgrenzte Öffentlichkeit

Debattenkulturen im politischen und medialen Wandel

Simone Jung, Victor Kempf (Hrsg.)

Bielefeld 2023: transcript
Rezensent/-in: Hans-Dieter Kübler

Buchbesprechung

 

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 2/2024 (Ausgabe 108), S. 90

Vollständiger Beitrag als:

Entgrenzte Öffentlichkeit

Über die derzeit anhaltenden strukturellen Veränderungen „der“ Öffentlichkeit – seit Habermas’ Studie das demokratische Paradigma libertär-bürgerlicher Gesellschaften und Ideal des toleranten Diskurses – ist schon viel geforscht, diskutiert und publiziert worden. Verantwortlich gemacht werden vor allem das Internet, seine Plattformen und Social Media. Einerseits ermöglichen sie potenziell kommunikative Partizipation aller an Öffentlichkeit(en) via der digitalen Distributionen, sodass keine selegierenden Intermediäre mehr erforderlich sind und dadurch „Öffentlichkeit“ pluralisiert wird, andererseits fällt professionelles Gatekeeping (Strukturieren, Gewichten, Auswählen) weg, sodass öffentliche und private Kommunikation verschwimmen und Social-Media-Plattformen das Publikum in spezielle, oft konfrontative und sich ausschließende Konsum- und Usergruppen (Echokammern und Filter Bubbles) polarisieren. Öffentlichkeit erodiert dadurch – und ohne wertende Schleusen brechen sich Verrohung, Diffamierung, Bloßstellung und Hass Bahn. Deutungskämpfe verschiedenster Gruppen und Positionen sind an der Tagesordnung, mit Ausschließlichkeitsattacken wie Political Correctness und Cancel Culture wird versucht, Andersgesinnte mundtot zu machen und die mediale Oberhand zu gewinnen.

Diese Debatten und die sie treibenden Entwicklungen bzw. Deformationen von Öffentlichkeit(en) möchte der vorliegende Sammelband, entstanden an der Leuphana Universität Lüneburg, fortsetzen – allerdings ohne sich zunächst das eine oder andere Theorem über den Zerfall oder nur die Transformation der Öffentlichkeit zu eigen zu machen. Vielmehr sollen zwei strukturelle „Entgrenzungen“, die derzeit am Werk seien, ausgelotet werden, so die Herausgebenden in der Einleitung: Zum einen sehen sie die Gesellschaft durch neue Formen sozialer Konflikte zunehmend gespalten, die mit der wachsenden Heterogenisierung und gleichzeitig miteinander konkurrierenden Hegemonieansprüchen diverser Gruppen einhergehen, zum anderen verschärfen und pushen die digitalen Medien und ihre User:innen diese sozialen Konflikte öffentlichkeitswirksam als vermeintlich unvereinbar durch die verfügbaren Kanäle. Was „im Netz“ ist, ist ungleich spektakulärer und schärfer als in der persönlichen Kommunikation – und nicht rückholbar. Daher soll „die Verbindung von politisierten Öffentlichkeiten und medialen Infrastrukturen“ (S. 13) in den analytischen Fokus gerückt werden.

Von verschiedenen Disziplinen aus verfolgen die versammelten Beiträge besagte Veränderungen von Öffentlichkeit entlang drei thematischer Pfade: mit dem Schwerpunkt auf den medialen und den politischen Umbrüchen sowie mit theoretischem Zugriff auf ihre Ursachen, Formen und Konsequenzen – wobei die Texte im Hinblick auf den Buchtitel recht disparat und kaum erschöpfend ausfallen. So werden unter „Medien“ zunächst „Hashtags“ mit politisch-sozialen Anliegen thematisiert, es wird aufgezeigt, welchen Ambivalenzen sie durch Marketinginteressen unterliegen. Sodann werden Mutationen des Feuilletons zwischen traditioneller Zeitung und Twitter untersucht. Es folgt eine exemplarische Analyse der Strategien und Narrative eines bekannten Rechtspopulisten. Den Abschluss bildet eine theoretische Skizze über konstitutive Elemente der klassischen Öffentlichkeit und über Spezifika digitaler Öffentlichkeiten.

Die Beiträge mit dem Fokus auf „Politik“ beginnen mit einer Studie zu „subalterne[n] Gegenöffentlichkeiten“ am Beispiel von feministischen und kapitalismuskritischen Bewegungen; danach wird das Internet bewertet hinsichtlich seiner Optionen zur Schließung und Öffnung für marginalisierte Gruppen. Sodann werden die diskursiven Leistungen von Islamdebatten „zwischen demokratischer Aushandlung und kulturellem Rassismus“ sortiert, um endlich das Gelingen künstlerischer Öffentlichkeiten unter vermachteten Strukturbedingungen auszuloten.

Schließlich werden die unter „Theorie“ rubrizierten Beiträge mit einer grundlegenden „Diagnose einer räumlichen und zeitlichen Verstreuung der Öffentlichkeit im Zuge der Digitalisierung“ (S. 19) und ihren Potenzialen zur Rekonstitution begonnen. Sodann werden mit Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns Chancen der Artikulation von Dissens und Konsens ausgelotet. Weiters werden mit der linguistischen Sprechakttheorie „Möglichkeiten performativer Macht im öffentlichen Raum“ (S. 20) identifiziert. Schließlich werden mit Rekurs auf Bruno Latours Aktor-Netzwerk-Theorie „mediale Materialitäten“ von Öffentlichkeiten ergründet und an ästhetischen Beispielen veranschaulicht.

Statt eines eigentlich erforderlichen Fazits folgt zum Abschluss die Dokumentation einer Diskussion zwischen einer Literaturwissenschaftlerin, einer Soziologin und einer Journalistin über die sich wandelnde Rolle von Öffentlichkeit in der Wissenschaftskommunikation im Mai 2021 in Lüneburg.

Prof. i. R. Dr. Hans-Dieter Kübler