Digitale Kindeswohlgefährdung

Herausforderungen und Antworten für die Soziale Arbeit

Kay Biesel, Paul Burkhard, Rahel Heeg, Olivier Steiner (Hrsg.)

Opladen/Berlin/Toronto 2023: Barbara Budrich
Rezensent/-in: Bernward Hoffmann

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 1/2024 (Ausgabe 107), S. 93-94

Vollständiger Beitrag als:

Digitale Kindeswohlgefährdung

Kindeswohlgefährdung ist ein rechtlich unspezifischer Begriff. Mit einer Änderung des Sozialgesetzbuches (SGB) VIII, das Anfang der 1990er-Jahre das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) ablöste, wurden im Jahr 2005 alle Träger der Kinder- und Jugendhilfe in die Pflicht genommen, sich fachlich in Sachen Kindeswohlgefährdung zu qualifizieren und mit dem Jugendamt beim Erkennen und der Verfolgung entsprechender Verdachtsfälle zusammenzuarbeiten. Dabei waren vor allem sexualisierte Gewalt und Missbrauch im Blick. Eine mögliche Gefährdung des Kindeswohls durch Medien war dem Jugendmedienschutz überlassen. Der vorliegende Sammelband unternimmt nun den Versuch, die Diskurse um Onlinerisiken und Kinderschutz zusammenzuführen.

Die Einführung und zwei Rahmenbeiträge des Sammelbandes stammen von den Herausgebern, alle an der Hochschule für Soziale Arbeit, FH Nordwestschweiz, tätig. Veränderte Sozialisationsbedingungen für Heranwachsende im Kontext der Digitalisierung werden skizziert; Mediennutzung durch Kinder und Jugendliche und auch der subjektive Nutzen für sie werden differenziert und aktuell beschrieben. Bekannt ist, dass den vielfältigen Potenzialen ebenso vielfältige Risiken gegenüberstehen. Anders als bei sonstigen Diskussionen um Kindeswohlgefährdung ist der Raum nicht mehr primär die Familie, und Kinder und Jugendliche sind im Bereich digitaler Medien nicht nur Opfer, sie werden auch zu Tätern, etwa beim Sexting oder Cybermobbing. Das macht das 3-C-Modell digitaler Risiken deutlich: Content, Contact, Conduct; vor allem die Interaktionsrisiken sind oft schwer zu identifizieren. Diese Problematik wurde in Deutschland mit der Erneuerung des Jugendschutzgesetzes im Jahr 2021 und der Gründung der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ) aufgegriffen.

Leitthema des Buches ist eine differenzierte Einschätzung, wann bzw. welche Risiken eine Gefährdung des Kindeswohls bedeuten könnten. Der Begriff „digitale Kindeswohlgefährdung“ meint

Gefährdungen von Heranwachsenden, welche durch die Nutzung digitaler Medien entstehen und zu nicht zufälligen Verletzungen, zu körperlicher und seelischer Schädigung und/oder zu Entwicklungsbeeinträchtigungen führen können“ (S. 26).

Die primäre Zielgruppe des Bandes sind Studierende und Praktiker in allen Feldern der Sozialen Arbeit, aber auch für andere PädagogInnen im Kontakt mit Kindern und Jugendlichen ist der Band wichtig. Im sozialarbeiterischen Diskurs um Kindeswohlgefährdung spielte die Digitalisierung bislang nur marginal eine Rolle. In der Medienpädagogik während der Ausbildung im Sozialwesen werden neben einem vorrangig „produktiven und gelingenden Umgang mit digitalen Medien“ (S. 12) auch die Risiken thematisiert. Nahezu alle Risikoaspekte, die in Einzelbeiträgen des Buches aufgegriffen werden (Sexting, Cybermobbing, Cybergrooming, Fotografische Selbstdarstellung, Hatespeech, Gaming Disorder, Onlinesucht), sind in Deutschland Themen der Medienpädagogik. Allerdings ist der Diskurs um Kindeswohlgefährdung damit nur in seltenen Fällen verbunden, diese Lücke schließt der Band. In allen Beiträgen ist das Bemühen deutlich, vor und neben den Risiken auch die überwiegend positive Nutzung digitaler Medien durch Kinder und Jugendliche zu betonen. Die Mehrheit der Heranwachsenden kommt mit den digitalen Medien und den verfügbaren Ressourcen gut zurecht. Das Recht junger Menschen auf Teilhabe an und mit digitalen Medien ist ein wichtiges Gut, das gegen den Schutzgedanken abzuwägen ist. Der angehängte Beitrag zu ethischen Aspekten behandelt mit einem Blick in die Zukunft das ethische Dilemma, wie man „positive Freiheiten schützen und gleichzeitig Bedrohungen abwehren“ kann.

Durchgängig sind die Beiträge bemüht, den Stand wissenschaftlicher Forschung zu den jeweiligen Themenaspekten angemessen zu berücksichtigen. Eine kritisch differenzierte Bewertung gelingt nicht immer. Da werden z. B. im Beitrag über Cybermobbing Einzelergebnisse zahlreicher Veröffentlichungen als Belege angeführt und zu einer Art Gesamtergebnis summiert. Das suggeriert dem Leser eine verfälschende Eindeutigkeit. Anders dagegen werden im Cybergrooming-Beitrag Studienergebnisse mit Hinweis auf methodische Unterschiede und Aussagekraft eingeordnet. Erhellend ist dabei der in einer Studie rekonstruierte Ablauf eines Cybergroomings.

Die Vorschläge zur Prävention und Bearbeitung der Problemlagen sind relativ allgemein und ähnlich in medienpädagogischen Veröffentlichungen zu finden: Fortbildungen in der Thematik für SozialarbeiterInnen, Elterninformation, Präventionsmanagement an Schulen, Förderung einer kritischen Medienkompetenz der Heranwachsenden in allen pädagogischen Bereichen … Das alles sind Bestandteile einer „Grundbildung Medien“ bzw. einer Förderung von Medienkompetenz, wie sie seit inzwischen mehr als zwei Jahrzehnten gefordert wird. Im abschließend resümierenden Beitrag wird ein „Modell des digitalen Kinderschutzes“ mit den vier Säulen „Sensibilisierung und Bildung“, „Beratung und Hilfe“, „Überwachung und Regulierung“ sowie „Gefahrenabwehr und Strafverfolgung“ vorgestellt. Verschiedene Gruppen von Akteuren werden den Feldern zugeordnet – mit einem Fokus darauf, was Soziale Arbeit jeweils zu einer gelingenden Problembearbeitung beitragen kann. Zwei wichtige Kooperationspartner dabei könnten und sollten Institutionen der Medienpädagogik und des Jugendmedienschutzes sein.

Prof. i. R. Dr. Bernward Hoffmann