Die Problematisierung von Gewalt in Computerspielen

Zur Geschichte einer Themenkarriere

Jan Husemann

Bielefeld 2022: transcript
Rezensent/-in: Lothar Mikos

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 2/2023 (Ausgabe 104), S. 105-106

Vollständiger Beitrag als:

Gewalt in Computerspielen als Problem

In seiner Dissertation beschäftigt sich der Soziologe Jan Husemann mit der Bewertung und Problematisierung von Gewalt in Computerspielen, die immer wieder Thema öffentlicher Debatten ist. Ihm geht es in seiner Arbeit aber nicht um die Wirkung von Gewalt, sondern darum, wie sich verschiedene Institutionen diesem Thema annehmen und dadurch ein öffentliches Problembewusstsein schaffen. Als Untersuchungszeitraum wählt der Autor die Jahre 1984 bis 2014. So kann er über den langen Zeitraum hinweg auch Veränderungen im Problembewusstsein und in den Bewertungen nachvollziehen. Die institutionalisierten Sichtweisen analysiert er anhand der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM; heute Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz [BzKJ]), der Fachliteratur in Computerzeitschriften sowie der Sach- und Ratgeberliteratur.

Um dieses umfangreiche Material handhabbar zu machen, wählt Husemann fünf Computerspiele aus, die von der BPjM indiziert wurden: River Raid, Doom, Command & Conquer: Generals, Call of Duty: Modern Warfare II und Dead Rising 3. Für alle Spiele analysiert er zunächst die Art der Gewaltdarstellung und anschließend die Problemmuster, wie sie in den Diskursen der drei institutionellen Bereiche sichtbar werden.

Theoretisch ist die Arbeit in der Soziologie sozialer Probleme verortet. Dabei wird deutlich, dass institutionelle Deutungsmuster stets konstruiert sowie kulturell und zeitlich variabel sind (vgl. S. 30). Das zeigt sich dann später auch in der Analyse, da sich die Kriterien für die Bewertung von Gewalt in Computerspielen über die Zeit verändern. So kann Husemann für die Prüfpraxis der BPjM feststellen: „So lassen die ausgewerteten Problematisierungs- und Bewertungsstrukturen im Laufe des Untersuchungszeitraums von rund 30 Jahren eine Entwicklung von einer eher subjektiv und affektiv geprägten Prüfpraxis hin zu einer differenzierten und rationalisierten Bewertung von Computerspielgewalt erkennen. Die Versachlichung der Problematisierungsstrukturen wird im Vergleich der Prüfberichte bis 2003 und ab 2009 deutlich. Die ungefähre zeitliche Eingrenzbarkeit dieses Umbruchs lässt vermuten, dass das Inkrafttreten des Jugendschutzgesetzes (JuSchG) maßgeblichen Einfluss auf die veränderten Gewaltbewertungen gehabt haben muss“ (S. 267, H. i. O.). Während sich in der Fachliteratur keine Veränderungen zeigen, lässt sich für die Sach- und Ratgeberliteratur für den Zeitraum von 2005 bis 2011 das Problem einer schädigenden Wirkung von gewalthaltigen Computerspielen nachweisen. Der Autor vermutet, dass die Sach- und Ratgeberliteratur von der öffentlichen Debatte um „Killerspiele“ beeinflusst wurde, die nach dem Amoklauf von Erfurt entbrannte (vgl. S. 287).

Ein soziales Problem existiert gemäß dem soziologischen Ansatz, den der Autor wählt, erst, wenn es fassbar und benennbar ist und wenn es eine soziale Relevanz hat, weil Organisationen oder Institutionen zur Problembewältigung geschaffen werden (vgl. S. 31). In seiner Analyse kann Husemann zeigen, wie dies in den drei untersuchten institutionellen Bereichen geschieht. So sind die Problematisierungen von Gewalt in der Fachliteratur am geringsten, bei der Bundesprüfstelle und in der Sach- und Ratgeberliteratur erheblich höher. Allerdings befasst sich Letztere nur mit drei der fünf analysierten Computerspiele, vor allem aber mit Doom.

Autoren wie Dave Grossman, Manfred Spitzer u. a. thematisieren nicht mehr die Analyse der Arten von Gewalt und deren Inszenierung, sondern gehen direkt von einer Konditionierung der Spieler durch die Gewalt aus und stellen „somit eine unmittelbare Kausalität zwischen virtueller und realer Gewalt her“ (S. 290). Diese Literatur geht von sehr emotionalen und moralischen Bewertungen aus, die sehr subjektiv gefärbt sind.

Dagegen haben sich die Begründungen in den Indizierungsentscheidungen der BPjM mit der Zeit versachlicht: „Die situativ-statische Diskursstrategie sowie die Novellierung des Jugendschutzgesetzes liefern Erklärungsansätze, warum sich die teilweise subjektiv geprägten Prüfberichte (bis 2003) spürbar von den differenzierten und versachlichten Prüfberichten (nach 2003) unterscheiden, obwohl übergeordnete Gewaltbewertungen (Problemmuster Darstellung von Gewalt und Darstellung von Krieg) größtenteils unverändert geblieben sind“ (S. 299, H. i. O.). Und es ist nicht verwunderlich, dass in der Computerspiel-Fachliteratur zwar auf die Gewalt in den Spielen eingegangen, diese aber meist nicht negativ bewertet wird.

Das Buch von Jan Husemann macht zweierlei deutlich: 1) die Bewertung von Gewalt in Computerspielen verändert sich mit der Zeit und 2) die analysierten institutionalisierten Bereiche haben ihre eigenen Diskursregeln und ihr eigenes Problembewusstsein. Während das Kapitel über die Gewaltdefinition für einen Soziologen etwas mager geraten ist, ist die Analyse des Problembewusstseins in den drei institutionellen Bereichen sehr erhellend.

Prof. i. R. Dr. Lothar Mikos