Der reduzierte Abgleich mit der Realität

Wie Medien unsere Vorstellung von Wirklichkeit verändern

Joachim von Gottberg im Gespräch mit Jürgen Grimm

Inwieweit stimmt unser Bild von Wirklichkeit mit dieser überein? Sie ist viel komplexer und größer, als unsere begrenzten Sinne sie wahrnehmen und unser Verstand sie verarbeiten kann. Die Medien halten explosionsartig immer mehr Sichtweisen und Informationen bereit. Kommen wir damit der Wirklichkeit näher? Oder führt das medial vermittelte Bild in die Irre, wenn wir es immer weniger an realen Erfahrungen überprüfen?

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 3/2023 (Ausgabe 105), S. 64-71

Vollständiger Beitrag als:

Die Medien bieten uns unzählige Informationen und Narrative über die Welt und das Universum an. Was bedeutet das für unsere Konstruktion des Wirklichkeitsbildes?

Der Philosoph Byung-Chul Han hat in seinem neuesten Buch Undinge. Umbrüche der Lebenswelt1 eine These aufgestellt, die ich sehr interessant finde: Das Internet schafft etwas, was uns einen Teil unserer Wirklichkeitsfähigkeit raubt. Es ist ein Unterschied, ob ich im Internet irgendetwas sehe und mich daran z. B. durch Verlinkung beteilige oder ob ich mich in der außermedialen Realität mit diesen Themen auseinandersetze oder in der Realität damit konfrontiert werde. Das mache den Unterschied zwischen „Dingen“ und „Undingen“. Dinge leisten uns Widerstand und faszinieren uns zugleich. Man kann sie anfassen, sie mit allen Sinnen spüren und sich an ihnen verletzen. Undinge können das nicht, sie folgen einer Logik des Wunsches und stellen eine Erweiterung des Egos dar. Mit Undingen „möblieren“ wir sozusagen unser Ich auf, indem wir uns mit Wunschwelten umgeben. Diese waren zu Beginn des Industriezeitalters noch sehr dinghaft und hatten die Gestalt bequemer Interieurs, also zeigten sich beispielsweise in einer behaglichen Einrichtung der Zimmer und ihrer Ausstattung mit persönlichen Erinnerungsstücken.2 Mittlerweile streifen die Wohnumgebungen ihren dinghaften Charakter zunehmend ab. Wir haben zwar noch immer unsere Kuschelecke und unseren ganz persönlichen Nippes, im Vordergrund stehen aber elektronische Wunschmaschinen: Streamingdienste, Datingplattformen, Social Media etc. Das Smartphone wird zum mobilen Interieur, das uns ständig umgibt, aber keine objektive – tastbare und riechbare – Realität mehr besitzt. Die Dinge rücken in weite Ferne, sie werden virtuell und optional, anscheinend verfügbar, allerdings nur im eingeschränkten Sinn. Daraus resultiert eine Revolution unseres Realitätsverständnisses.
 


Welche Folgen haben die Undinge für unser Realitätsmodell genau? Ist jetzt alles mit allem durch Klicks vernetzt?

Aus den Undingen, zu denen die Wirklichkeitssimulationen der Medienwelt gehören, ergibt sich eine Tendenz zum Voluntarismus, weil der Widerstand wegfällt oder zumindest leichtgängig aus dem Weg geräumt werden kann: Ich glaube, die Wirklichkeit selbst konstruieren zu können, indem ich mich wegbeame, auf andere Kanäle wechsle oder einfach ganz abschalte. Im Gegensatz dazu ist die Wirklichkeit aber nicht so leicht zu manipulieren, sondern widersetzt sich meinen Manipulationsversuchen. Genau diese Erfahrung kommt im Internet zu kurz, es droht, etwas verloren zu gehen. Joshua Meyrowitz3 hat das in den 1980er-Jahren im Kontext des Fernsehens eine „Dislozierung von Wahrnehmung“ – die willkürliche Verteilung unseres Wahrnehmungsstandpunktes in Raum und Zeit – genannt, weil ich in der medialen Wahrnehmung den Ort, an dem ich mich realiter aufhalte, entwerte und alles in jedem Moment präsent sein kann. Dieses Phänomen wird im Internet weiter verschärft. Ich habe dort das subjektive Gefühl, alles aktiv und schnell verändern zu können, und behandle es als Teil meines Egos. Aber das ist keine wirkliche Beeinflussung, sondern nur eine intramediale Täuschung bzw. in den Internetforen ein unendliches Palavern über Veränderung. Der daraus entstehende Veränderungsoptimismus hat weitere Nebeneffekte, insbesondere wächst meine Frustrationswahrscheinlichkeit in der außermedialen Realität: Die lässt sich eben nicht an- und ausschalten. In den Plattformen stoße ich dann plötzlich auf Widersprüche und beginne eine entsprechend heiße, oft konfliktreiche Auseinandersetzung. Das könnte man als Reinszenierung von Widerstand bezeichnen, der in den Simulationswelten immer stärker verloren geht. Hatespeech und Shitstorms sind nicht zuletzt auch eine Reaktionsbildung auf ein brüchig gewordenes Wirklichkeitsverständnis. Hier gehe ich über das Konzept von Han hinaus, denn ich sehe einen Zusammenhang zwischen der Herrschaft egozentrierter Simulationswelten mit der Gewaltbereitschaft bestimmter Gruppen. Der übersteigerte Voluntarismus und die wunschzentrierte Wirklichkeitskonstruktion erzeugen Frustrationskaskaden mit depressiven oder aggressiven Konsequenzen. Ein Teil der Wut im Netz kommt aus dieser Quelle.
 


Der übersteigerte Voluntarismus und die wunschzentrierte Wirklichkeitskonstruktion erzeugen Frustrationskaskaden.



Wenn ich ein Bild der Wirklichkeit aus dem konstruiere, was ich medial wahrnehme, wird es schief?

So könnte man sagen. Wenn ich die Mediatisierung der Erfahrung übertreibe und die Anker in der außermedialen Wirklichkeit verliere, entgleitet mir die Wirklichkeit selbst. Das konnte man auch bei Corona beobachten, als wir unsere realen Kontakte reduzieren mussten, dann fast ausschließlich auf Internet und Fernsehen angewiesen waren und nur sehr wenige Kontaktmöglichkeiten zur Realität bestanden. Da stellte sich ein Unwirklichkeitsgefühl ein, was alle möglichen Formen annahm, und die subjektive Realität konnte nicht mehr durch das, was objektiv draußen geschieht, überprüft werden. Es gab auch keine Möglichkeit, im Internet diese Überprüfung vorzunehmen. Ich muss als Rezipient daraus erst einmal meinen Schluss und meine Konsequenzen ziehen und dann versuchen, dies in der Realität außerhalb umzusetzen – danach merke ich erst, ob es funktioniert oder nicht. Wenn diese Überprüfung in der Realität entfällt, bekommt das eine idiosynkratische Note: In der Selbstbezüglichkeit tritt an die Stelle einer Überprüfung am Ende das Gefühl, dass ich gar nicht mehr in der Wirklichkeit lebe und alles beliebig konstruierbar ist. Das kann auch dazu führen, dass ich partiell darunter leide.

Als wir in der Pandemie auf Zoom angewiesen waren und unsere Kollegen gar nicht mehr leibhaftig zu sehen und zu spüren bekamen, bedeutete das eine Reduzierung unserer sinnlichen Kontakte mit der Außenrealität. Wenn das überhandnimmt, kann es zu absurden Vorstellungen von Wirklichkeit führen: Ich habe monatelang im Internet einen potenziellen Partner oder eine Partnerin gedatet. Dann stehe ich plötzlich vor ihr/ihm und erleide einen Schock – einen Realitätsschock. Ich kann ihn/sie vielleicht nicht riechen oder er/sie geht mir schnell auf die Nerven und ich kann die Person nicht wie im Internet einfach wegdrücken. Unterstützt wird das dadurch, dass unsere Realitätsmodelle immer eine konstruktive Komponente haben. Das war das große Schlagwort der Philosophie des Konstruktivismus in den 1980er- und 1990er-Jahren, der aus meiner Sicht aber heute schon aufgrund der Medienentwicklung überholt ist.

Der radikale Konstruktivismus, der zu Beginn der Postmoderne erkenntniskritische Akzente setzte, hat seine progressive Funktion eingebüßt. Er setzt falsche Orientierungsmarken. Dass etwas konstruiert ist, wenn wir uns etwas ausdenken, ist ganz klar und eine Binsenweisheit. Die Frage ist nur, ob wir Konstruktion dann für Realität halten. Und wenn das so ist, dann fehlt etwas, um geistig gesund zu bleiben. Wer nur noch konstruiert und das Ergebnis nicht mehr überprüft, der hat etwas, was Psychiater eine Psychose nennen. Das kann sehr irrationale Züge annehmen.
 


Man darf nicht den Fehler machen, die Realität mit der Konstruktion zu identifizieren.



Ich erkläre mir einen Teil der Phänomene im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien damit, dass eine Realitätsentfernung stattfindet, die medieninduziert ist. Nicht, dass jetzt ein einzelnes Medium dazu anleitet, dass man etwas Unsinniges für Wirklichkeit hält. Das wäre die alte pädagogische These, die schon lange nicht mehr gilt, weil wir natürlich ständig mit verschiedenen medialen Informationen und dann auch noch mit der Realität konfrontiert werden. Da merken wir schnell, dass plötzlich alles anders ist. Meine Befürchtung ist vielmehr, dass aufgrund der Vorherrschaft von Undingen unsere Kompetenz, mit realen Dingen umzugehen, leidet. Wenn wir dann mit wirklichen Dingen konfrontiert sind, wollen wir Fakten nicht wahrhaben oder verfallen leicht irgendwelchen populistischen Rattenfängern. Möglicherweise entwickeln wir auch eine gewisse Bereitschaft, widrige Umstände ganz willkürlich mit moralischem Übereifer ändern zu wollen, in dem jedes Mittel recht erscheint.
 


Je mehr wir in medialen Welten leben, desto weniger können wir die reale Welt wahrnehmen?

Ja. Vor allem, wenn wir sie zum Maßstab unseres Realitätsverständnisses machen. Und das ist natürlich ein Problem, wenn z. B. Kinder nicht mehr genügend draußen spielen. Beim Klettern auf die Bäume holen sie sich dann viel schneller aufgeschlagene Knie. Diese Themen wurden auch schon im Zusammenhang mit Fernsehen diskutiert. Aber das Internet ist als Smartphone auch mobil ständig präsent und hat mehr Simulationsqualität: Es simuliert eine reale Wirklichkeit so, dass man damit auch interagieren kann – aber nur in eingeschränkter Weise. Das steigert die Verführung, Realität als konstruiert und von mir gesteuert wahrzunehmen. Wir beobachten seit einiger Zeit eine Zunahme im Hinblick auf Kontrollerwartung. Das ist ein Konzept, bei dem es um das subjektive Empfinden geht, inwieweit ich meine Umwelt und mein Schicksal beeinflussen kann oder ob ich vom Schicksal fremdbestimmt werde.

Die Selbstbestimmungsannahme ist gewachsen, aber nicht in dem positiven Sinne, dass ich selbstbewusster durch die Welt gehe, sondern eher dahin gehend, dass ich irreale Vermutungen darüber habe, was ich alles bewirken kann. Das ist auch bei DSDS zu beobachten, wenn Kandidaten mit grottenschlechten Stimmen vor ein größeres Publikum treten und nicht mehr in der Lage sind, zu erkennen, dass es wirklich keine gute Musik ist, die sie da zum Besten geben. Diese mangelnde Urteilsfähigkeit hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie gewöhnlich den Abgleich von dem, was sie selbst von sich denken, innerhalb der Medien machen, aber letztlich eine Überprüfung an der außermedialen Realität fehlt.

Der Konstruktivismus geht davon aus, dass es zwar eine Wirklichkeit gibt, die wir aber aufgrund unserer beschränkten Sinne und unseres beschränkten Denkens niemals ganz erkennen können.

Das ist der springende Punkt. In welchem Verhältnis stehen kognitive Konstruktionen zur Realität? Lassen wir einmal die Realitätsverleugnung beiseite. Genau genommen geht es um Rekonstruktion: Du bist mit einer Wirklichkeit konfrontiert und versuchst, diese Wirklichkeit für dich zu interpretieren, zu rekonstruieren, sodass du sie für dich verstehen und damit etwas anfangen kannst. Und danach folgt dann die Überprüfung. Genau die wird aber im radikal konstruktivistischen Paradigma vergessen. Man muss mit dieser Rekonstruktion praktische Probleme bewältigen. Und wenn es nicht hinhaut, muss man die Konzeption ändern.

Eine Rekonstruktion kann niemals die Realität vollständig abbilden.

So ist es. Das ist eine ständige Abstraktion. Aber das Wesentliche ist, dass mir klar ist, dass meine Konstruktion nicht die Wirklichkeit ist. Das war das Grundproblem des radikalen Konstruktivismus. Seine Vertreter haben Formulierungen gebraucht wie „Konstruktion von Wirklichkeit“ oder „erfundene Wirklichkeit“.4 Damit wurde der Eindruck erweckt, als ob man die Wirklichkeit selbst konstruieren könnte und nicht nur ein Abbild der Wirklichkeit schafft, das womöglich falsch ist. Das führt dazu, dass man in einer selbstreferenziellen Schleife von Konstruktion und Modifikation von Konstruktionen hängen bleibt und den Referenzpunkt für Wahrheit verliert. Wir brauchen aber externe Kriterien, um uns der Wahrheit anzunähern, und wir haben sie auch: Denn die Realität existiert und ich habe zumindest bedingt die Möglichkeit, meine Vermutungen zu überprüfen, indem ich sie zum Maßstab meiner Handlungen mache. Wenn ich scheitere, stimmt etwas nicht mit meinen Konstruktionen – und ich kann versuchen, es besser zu machen. Radikale Konstruktivisten behaupten, man könne über die Wirklichkeit außerhalb von Konstruktionen gar nichts aussagen. Doch, man kann. Sie leistet uns Widerstand, wenn wir Ideen in praktisches Handeln umsetzen wollen. Diese Erfahrung nutzen wir, um unsere Vorstellung von Realität und die zugehörigen Handlungsentwürfe zu korrigieren. Konstruktivisten wollen ebenfalls eine Optimierung von Konstruktionen erreichen; das bleibt aber ein geheimnisvoller Prozess, da sie nicht angeben, was eigentlich das Kriterium ist, das diese Optimierung erlaubt. Ich muss mich der objektiven Realität aussetzen und meine Realitätsmodelle daran überprüfen. Daran führt kein Weg vorbei. Daher benötige ich auch, philosophisch gesehen, einen Begriff von Realität jenseits von Konstruktionen. Man darf nicht den Fehler machen, die Realität mit der Konstruktion zu identifizieren.
 


Als Philosoph muss man dann aber einen sehr breiten Blick haben und im optimalen Fall so viel Wissen und Erkenntnis wie möglich besitzen, um der Wirklichkeit immer näher zu kommen.

Das ist der grundlegende Anspruch von Philosophie. Es ist der Versuch, menschliche Erfahrungen auf einer höheren Abstraktionsstufe zu reflektieren. Da fließen wissenschaftliche Erkenntnisse mit ein, aber auch Zeitgeist-Phänomene und persönliche Erfahrungen, die der Philosoph mit der Realität macht. Natürlich gibt es auch Traditionsbildungen in der Philosophie, die über längere Zeiträume hinweg allmählich in das allgemeine öffentliche Bewusstsein einsickern. Der Konstruktivismus ist nicht vom Himmel gefallen, sondern hat sich im Laufe des 18. Jahrhunderts entwickelt, und zwar aus der Erkenntnis des Kritizismus heraus, der die Basis der Aufklärung bildet. In der Postmoderne wird er nun aber von Verschwörungstheoretikern missbraucht, die meinen, alles und jedes infrage stellen zu können, um an die aufbrechenden Leerstellen willkürliche Konstruktionen zu setzen. Verschwörungstheoretiker schirmen sich ab, sie unterbinden damit genau den Überprüfungsprozess an der Realität, der im Lichte des radikalen Konstruktivismus gar nicht mehr möglich und nötig erscheint. Dem sollte man im Zeitalter von Fake News und viraler Gerüchte-Kommunikation im Internet keine philosophische Schützenhilfe leisten.

Das Internet ist also nur ein Abbild, eine Vision oder eine Darstellungsform, die uns von den Dingen selbst entfremdet?

Mit Byung-Chul Han lässt sich auch das philosophisch erklären. Han dreht im Grunde die Verdinglichungstheorie der Frankfurter Schule um, die das Kernstück des neomarxistischen Entfremdungskonstrukts bildete. Das passt in unsere Zeit, weil wir das Problem haben, dass wir den Bezug zu Dingen verlieren, weil wir uns ständig mit Undingen umgeben. Entfremdung resultiert heute weniger aus der Verdinglichung von Personen und Sachverhalten als aus dessen Gegenteil: der „Ent-dinglichung“. Dies beinhaltet die Illusion, dass ich alles sofort verändern kann. Im Elektronischen ist das möglich, in der Wirklichkeit nicht. Du kannst dich verletzen, wenn dein Bücherregal umkippt. Das kann dir in einem Dialog im Internet nicht passieren, jedenfalls nicht im physischen Sinne, psychisch natürlich schon.

Virtual Reality geht noch weiter, es fehlt nur noch der Geruch. Der soll wohl auch demnächst kommen.

Dann sind wir bei 5‑D. Interessant ist in dem Zusammenhang, dass natürlich der Film schon längst nicht mehr diese Funktion einer „Errettung der physikalischen Wirklichkeit“ erfüllt, sondern er wird inzwischen selbst als defizitär empfunden und muss ständig aufgepeppt werden: durch Special Effects, Computeranimation und 3‑D-Simulationen. Das ist so ähnlich wie bei Reality‑TV, das ebenfalls im Treibsand verlorener Widerständigkeit nach Resten von Wirklichkeitssplittern fahndet.5 Daran sieht man schon, dass es keine „echte“ Realität ist, weil sie gestützt werden muss, um ihre Gebrechen zu kaschieren. Aber Film und Reality-TV kommen der Realität immerhin näher als die Literatur.

Der größte Teil dessen, was wir glauben und als Realität wahrnehmen, erfahren wir nicht selbst, sondern durch Dritte, meist durch die Medien …

Aber ich denke, dass wir schon in einem Zustand sind, in dem wir zumindest die Dinge wieder höher bewerten müssen, die uns zugänglich sind. Wir dürfen uns nicht allein auf die vermittelten Realitäten verlassen, weil es am Realitätsmodell insgesamt etwas verändert. Nehmen wir die Debatte um die Herrschaft der Interpretationen und der Narrative: Wenn man die hat – so die These –, dann hat man auch die Herrschaft über die Realität. Das ist natürlich Unsinn, zumindest stark übertrieben. Jede Geschichte kann an der Realität scheitern. Man sieht aber die Verführung, die vom Glauben an die Herrschaft der Narrative ausgeht. Das ist sehr stark vom Internet und anderen Medien geprägt, denn die Dinge, die einem geblieben sind, die man anfassen, riechen und formen kann, sind in unserer Vorstellung von Welt immer weiter nach unten gesackt und verblasst. Ich glaube, das ist ein Verlust, das ist ein Problem. Wir müssen daher gezielt Strategien zur „Re-Verdinglichung“ unserer Umwelt entwickeln. Das ist nur möglich, wenn wir dem Nahbereich in der alltäglichen Lebenswelt wieder mehr Bedeutung verleihen und diese mit medialen Fernerfahrungen verknüpfen. Es macht einen Unterschied, ob ich die aktuellen Nachrichten aus Kiew über das Kriegsgeschehen konsumiere oder ob ich mich – zusätzlich – in der Flüchtlingshilfe an meinem Wohnort engagiere.

Aber viele Dinge entziehen sich unserer Überprüfungsmöglichkeit.

Wichtig ist, dass wir eine Plausibilitätsprüfung überhaupt noch unternehmen. Wir brauchen dafür eine Kompetenz, die aus unserer direkten Erfahrung entsteht. Ich habe etwas Ähnliches in meinem Umfeld erlebt und übertrage das dann auf die Situation, die ich beurteilen will. Das gilt selbst für das Anschauen von Science-Fiction-Filmen in ganz unbekannten Gefilden. Ohne die Folie alltäglicher Lebenserfahrung würden wir auch keinen Zwerg oder Ork aus dem Hobbit verstehen. Die Alltagswelt ist ständig präsent, und sei es, dass ich feststelle, im Film ist alles anders als in meiner Lebensumgebung.
 


Es geht allgemein um die Interaktion zwischen unseren direkten Realitätserfahrungen und unserer Medienerfahrung: Die müssen sinnvoll miteinander verknüpft werden.



Wenn man sich heute die Verschwörungsthemen anschaut, dann ist dafür typisch, dass die Konfrontation mit der Außenrealität unterbunden wird. Das wird durch eigene Narrative ersetzt, durch Klicks, Verlinkungen, durch Anzahl von Likes usw. Das sind alles Krücken, die eigentlich keine echte Wahrheitsprüfung darstellen. Das Bewusstsein dafür muss geschärft werden, dass alle Realitätserfahrungen in der alltäglichen Lebenswelt wurzeln und einer kritischen Prüfung bedürfen. Sie bleiben nur intakt, wenn ich sie gebührend wertschätze. Ich würde das heute auch nicht mehr so uneingeschränkt medienoptimistisch formulieren, wie ich es vielleicht noch vor fünf oder zehn Jahren getan hätte: „Es gibt die Medien, weil es keine Möglichkeit gibt, in die Ukraine zu fahren.“ Wir haben heute die Möglichkeit zu reisen und sollten unseren Primärerfahrungen wieder stärker vertrauen.

Was schlagen Sie vor?

Es geht allgemein um die Interaktion zwischen unseren direkten Realitätserfahrungen und unserer Medienerfahrung: Die müssen sinnvoll miteinander verknüpft werden. Es muss eine Balance entstehen. Ansonsten vergessen wir allzu leicht, dass wir jetzt schon Möglichkeiten haben, bestimmte Dinge in der Realität zu überprüfen. Dies ist aber die Voraussetzung dafür, uns mit anderen zu verständigen, die vielleicht ganz andere Ideen haben, aber doch in der alltäglichen Lebenswelt mit uns zusammenwirken. Hier sind die geteilten Realitäten in ihrer objektiven Wucht das Kriterium, auf das man sich beziehen kann, um scheinbar unendliche Diskussionen über Alltagsfragen – Wer bringt den Abfall runter? Wer kümmert sich um die Kindererziehung? – zu beenden. Auf der politischen Ebene ist es ähnlich. Man kann sich streiten, wie dem Klimawandel beizukommen ist. Wahrscheinlich kann das weder Deutschland noch Europa allein schaffen, sondern es bedarf einer wirklich weltweiten Initiative und eines Konsenses, der aber im Moment durch viele Konflikte verhindert wird. Am Faktum des „Klimawandels“ selbst zu zweifeln oder ihn ganz und gar zu leugnen, wäre in diesem Feld eine gigantische konstruktivistische Entgleisung und ein selbstmörderischer Irrtum obendrein. Uns bleibt, nach Brücken zwischen den Dingen und Undingen zu suchen, die die Vorzüge beider Welten vereinigen.
 

Anmerkungen:

1) Han, B.-C.: Undinge. Umbrüche der Lebenswelt. Berlin 2021

2) Anders, G.: Die Antiquiertheit des Menschen. Band 1 und 2. München 2002 (zuerst 1956)

3) Meyrowitz, J.: Die Fernsehgesellschaft. Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter. Weinheim/Basel 1987

4) Watzlawick, P. (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. München 19853; Schmidt, S. J. (Hrsg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt am Main 1991

5) Grimm, J.: From reality TV to coaching TV. Elements of theory and empirical findings towards understanding the genre. In: A. Hetsroni (Hrsg.): Reality Television. Merging the Global and the Local. New York 2010, S. 211 – 258

 

Dr. Jürgen Grimm ist Professor i. R. am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien sowie Mitglied des Kuratoriums der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen(FSF). Er forscht seit 30 Jahren zu Fernsehgewalt.

Prof. Joachim von Gottberg ist Chefredakteur der Fachzeitschrift MEDIENDISKURS.