„Wir als Gesellschaft müssen lernen, zu streiten!“

Christina Heinen im Gespräch mit David Lanius

Die Verrohung von Debatten im Internet und die Behauptung der Rechtspopulisten, Politiker hätten den „Bezug zum Volk“ verloren, haben die Frage aufkommen lassen, ob wir als Gesellschaft eine neue Streitkultur brauchen. tv diskurs sprach mit David Lanius, wissenschaftlicher Mitarbeiter am DebateLab des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und Mitbegründer des Forums für Streitkultur, darüber, wie man richtig streitet.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 3/2019 (Ausgabe 89), S. 16-21

Vollständiger Beitrag als:

Was verstehen Sie unter Streit?

Dass Konflikte verbal ausgehandelt werden und nicht gewaltsam.

Warum ist Streit so wichtig?

In jeder Gesellschaft gibt es Meinungs- und Interessenkonflikte. Zwar sind wir zum Glück in einer Situation, in der wir nicht vor einem akuten gewaltsamen Konflikt stehen, sondern verschiedene Meinungs- und Interessenkonflikte mehr oder weniger latent in der Gesellschaft vorhanden sind. Solche Konflikte lassen sich jedoch nicht über längere Zeit aussitzen und unter den Tisch kehren. Bisweilen mag es sinnvoll sein, manche Konflikte für eine gewisse Zeit außen vor zu lassen und nicht alles auf einmal auszuhandeln. Doch wenn zu lange nicht gestritten wird, können Konflikte zu nachhaltiger Unzufriedenheit mit der Gesellschaft als Ganzes führen und dann irgendwann gewaltsam aufbrechen.

Offenheit auf beiden Seiten ist wichtig. Dass man nicht in einen Streit hineingeht und sich zum Ziel gesetzt hat, um jeden Preis zu siegen.

Das stimmt. Aber häufig setzen sich Menschen bei einem Streit überhaupt kein bestimmtes Ziel. Das kann problematisch sein. Denn gerade, wenn wir in einem Streit vermeintlich kein Ziel verfolgen, kann der unbewusste Wunsch zu siegen die gesamte Situation bestimmen. Das ist ein Nachteil dieser völligen Offenheit.

Wie kann man konstruktiv streiten? Welche Regeln sollte man beachten, damit ein Streit sich nicht nur darum dreht, wer die Oberhand behält?

Zwei Punkte sind wichtig: Sinnvoll ist, sich ein Ziel bewusst zu machen, das sich vom bloßen Siegenwollen unterscheidet. Ein Ziel könnte sein, etwas über das Gegenüber herauszufinden. Oder über sich selbst. Häufig wissen wir nicht ganz genau, was wir denken oder wie wir zu einer bestimmten Position stehen, bevor wir das nicht artikuliert und dazu Feedback erhalten haben. Ein Streitgespräch kann also sehr produktiv sein, indem es zeigt, welche Positionen man sinnvollerweise begründen kann und welche nicht. Dann kann man seine Position entsprechend anpassen. Manchmal kann es auch ein sinnvolles Ziel sein, das Gegenüber überzeugen zu wollen – zumindest, wenn man im Hinterkopf behält, dass man unrecht haben könnte, und für Kritik offen bleibt. Der zweite und wichtigere Punkt betrifft die Haltung, die man im Streit einnimmt. Sie sollte nicht von einer Angriffs-Verteidigungs-Metaphorik getragen werden, sondern man sollte sein Gegenüber eher als Bündnispartner oder zumindest als jemanden sehen, der nicht ein Feind, sondern höchstens ein Gegner in einem freundschaftlichen Wettkampf ist. Man will das Gegenüber und seine Position nicht besiegen oder gar vernichten, sondern sieht es als Sparringspartner, mit dem man zusammen ein Thema erkundet.

Was sind typische Sackgassen bei Streitgesprächen?

Einen Strohmann aufzubauen. Das passiert in vielen Fällen unbewusst. Gemeint ist, die Position des Gegenübers auf eine Weise wiederzugeben und anzugreifen, die diese verzerrt und häufig in etwas Lächerliches überführt. Man baut, metaphorisch gesprochen, eine Strohpuppe auf, die man dann besonders leicht angreifen kann, weil sie sich nicht wehren kann – weil sie schlechter begründbar ist.

Manchmal ist es nur eine Zuspitzung, sodass selbst das Gegenüber nicht merkt, was da passiert, sondern eigentlich ganz zufrieden ist mit dieser pointierten Wiedergabe seiner Position. Damit nimmt man sich die Möglichkeit, das Streitthema differenzierter als nur pro und kontra zu betrachten. Das ist eine Falle, in die man im Alltag tatsächlich ständig tappt.

Richtig. Das liegt daran, dass wir uns zugeschriebene Meinungen fast automatisch verteidigen wollen. Wir machen sie uns unreflektiert zu eigen – und geraten dann in die Defensive. Das kann rhetorisch geschickt ausgenutzt werden. Wenn man das nicht sofort erkennt und aufklärt, erweckt man leicht den Eindruck, den Streit zu „verlieren“ – ganz abgesehen davon, dass man dabei am Thema vorbeiredet.

Das erklärt, warum Streit oft so wenig konstruktiv ist. Weil man sich so schnell in Dynamiken verrennt, die mit der Sache nicht mehr viel zu tun haben, sondern nur damit, siegen zu wollen. Dieses Siegenwollen aufzugeben, ist nicht leicht.

Genau. Deswegen denke ich, dass die Haltung ausschlaggebend ist. Eine einfache Art, sich eine konstruktive Haltung anzueignen, ist, sich bewusst zu machen, dass man als Partner agiert. Zentral ist dabei das Wohlwollen dem anderen gegenüber.

Wenn ich nicht gleich nach den Schwachpunkten suche, sondern erst einmal unterstelle, dass die Position des Gegenübers Sinn macht …

Ich komme zu keinem Verständnis, wenn ich davon ausgehe, dass alles, was das Gegenüber vertritt, dumm ist. Ohne Wohlwollen kann man eigentlich gar nicht kommunizieren. Denn alles, was wir sprachlich formulieren, ist hochgradig mehrdeutig und unbestimmt. Häufig sorgt der Kontext für Klarheit, aber im Zweifel hat sich einer ungeschickt ausgedrückt oder der andere etwas missverstanden. Wenn man nicht davon ausgeht, dass der jeweils andere etwas grundsätzlich Vernünftiges zu sagen hat, kann man so gut wie alles in seine Äußerungen hineininterpretieren. Dann redet man aneinander vorbei. Denn man redet mit Strohmännern und nicht mit Menschen. Dann wird kein Streitgespräch im eigentlichen Sinn mehr geführt, sondern ein Streit-Schauspiel aufgeführt.

Siegen wollen und den anderen verstehen wollen, geht anscheinend schwer zusammen. Kann man nur entweder das eine oder das andere anstreben?

In einem gewissen Sinne ja. Wobei „siegen“ unterschiedlich verstanden werden kann. Man kann auch gewinnen, indem man feststellt: Ich habe hier etwas gelernt. Oder ich habe, zusammen mit meinem Gegenüber, eine Position gut begründet. Das kann durchaus meine Ursprungsposition gewesen sein. Insofern kann das bedeuten, dass ich am Schluss die andere Person von etwas überzeugt habe. Aber das muss unter der Voraussetzung des Wohlwollens passiert sein, damit beide die Position akzeptieren können, die die bestbegründete ist und nicht einfach nur die, die man zufälligerweise am Anfang hatte.

Normalerweise bewegt man sich ja in einem Umfeld, das die eigenen Wertvorstellungen weitgehend teilt. Wenn man aber auf Menschen trifft, die die eigenen Grundwerte infrage stellen, wird es schlagartig sehr schwierig mit der Verständigung.

Da kommen wir wieder zu den Zielen von Streitgesprächen zurück. In einer solchen Situation ist es illusorisch, dass man die andere Person in einem Gespräch überzeugt. Das liegt daran, dass man von so unterschiedlichen Prämissen aus startet, dass es keine gemeinsame Grundlage gibt, von der aus Argumente zu den eigenen Schlussfolgerungen führen. Das ist völlig legitim, das gilt für die andere Seite ja auch. Ein Beispiel: Ein Rechtsextremer sagt: „Flüchtlinge haben nicht die gleichen Rechte wie wir. Entsprechend dürfen sie an der Grenze im Zweifel erschossen werden.“ Darin steckt eine gewisse innere Logik. Aber ich teile eben die Prämisse nicht. Und so kommt man mit solchen Argumenten auch nirgendwohin. Daher muss man sich klarmachen, welches Ziel man in einem Gespräch mit solch fundamental Andersdenkenden sinnvollerweise verfolgen kann. Eine Möglichkeit wäre, herauszufinden, wo doch Gemeinsamkeiten liegen.

Kann man demnach nicht mit jedem streiten?

Leider nein. Nicht immer ist mein Gegenüber – oder bin ich selbst – bereit, ein tatsächliches Streitgespräch zu führen, einen argumentativen Austausch kontroverser Meinungen. Häufig geht es um strategische Sprechhandlungen für ein Publikum, darum, eine bestimmte Botschaft öffentlichkeitswirksam zu verbreiten. Manche Menschen bullshitten einfach und inszenieren sich nur als dialogbereit und redegewandt. Man sollte sich genau überlegen, ob man in ein solches Schein-Streitgespräch eintreten möchte – und falls ja, mit welchem Ziel. Mit Publikum – gerade auch, wenn es virtuell ist – sollte man sehr vorsichtig sein und sich im Zweifel vielleicht gar nicht auf das Gespräch einlassen. In einem Vieraugengespräch dagegen kann man das Gegenüber offener fragen und sich auch auf absurde Prämissen zunächst einmal einlassen. Schließlich kann die Kommunikation mit Andersdenkenden extrem erhellend sein. Denn wir laufen alle in unseren Echokammern herum. Zu sehen, dass andere Menschen Gründe haben für das, was sie tun und denken, und dass es aus ihrer Sicht häufig plausibel ist, warum sie so denken, wie sie denken, ist eine heilsame und erkenntnisbringende Erfahrung. Das heißt nicht, dass ich dafür Verständnis aufbringen muss, wenn jemand rassistisch ist, oder dass es das gar entschuldigen würde.

Redet man in einem solchen Streitgespräch dann über die gegensätzlichen Prämissen und weniger über die ganze Argumentation, die darauf aufbaut und die man zur Genüge kennt? Hinterfragt man z.B.: Warum denkt ihr, dass unsere Gesellschaft dem Untergang geweiht ist?

Ja, wobei die Argumente auch eine Rolle spielen. Ein sinnvolles Ziel in so einem Gespräch könnte sein, das Gegenüber besser zu verstehen. Und dann aber durchaus kritisch nachzufragen, warum unsere Gesellschaft vor dem Untergang stünde, wenn wir mehr Flüchtlinge aufnähmen oder ein Minarett in Berlin gebaut würde. Ich glaube, dass gerade dieses kritische Nachfragen letztlich sogar dazu führt, dass die Leute, die diese Überzeugungen haben, selbst noch einmal darüber nachdenken. Das geben sie vielleicht nicht in dem Gespräch selbst zu – so wie man es selbst häufig auch nicht gleich zugibt, wenn man merkt, dass man sich geirrt hat.

Sind Filterblasen und Echokammern ein Problem, das mit dem Internet entstanden ist oder zumindest dadurch verschärft wurde?

Filterblasen konnte die Wissenschaft bislang noch nicht nachweisen. Es gibt eine ganze Reihe von Studien, die den Filterblasen-Effekt in Zweifel ziehen. Die zeigen, dass wir – wenn überhaupt – am ehesten im Internet mit anderslautenden Meinungen konfrontiert werden. Echokammern dagegen sind, wenn auch durch das Internet in Teilen verstärkt, zuvorderst ein analoges Problem. Wir haben die natürliche Tendenz, uns mit Gleichgesinnten zu umgeben. Wir erleben kognitive Dissonanz, Unwohlsein, wenn wir mit anderen Meinungen oder Lebensweisen konfrontiert sind. Häufig ist es sogar rational, sich mit Gleichgesinnten zu umgeben. So funktionieren Parteien oder Start‑up-Unternehmen. Man versammelt Leute um sich, die gleich denken. Dann ist man besser motiviert; radikalisiert sich in einem positiven Sinn. Man nimmt diese Gruppendynamik und wandelt sie in politische oder unternehmerische Energie um. Das hat viele positive Aspekte, aber den gravierenden Nachteil, dass wir dann weniger oder gar keine Kritik mehr erfahren.

Dass man überhaupt keinen Anstoß hat, sich auch zu hinterfragen bei dem, was man wertschätzt und will.

Genau. Viele Menschen empfinden es als unangenehm, als persönlichen Angriff, wenn man ihr Handeln oder ihr Urteil kritisiert. Man sollte eine Art von Tugend, eine Haltung entwickeln, die das Kritisiertwerden in etwas Positives umwendet. Das Internet hat das Verharren in der eigenen Weltsicht aufgebrochen und an manchen Stellen ein positives Korrektiv gebildet, an anderen Stellen aber auch Echokammern verstärkt. All diese Meinungen, die es in verschiedenen Gesellschaften auf der Welt gibt, sind jetzt sichtbarer.

Viele Unternehmen wie Alphabet oder Facebook handeln mit der Aufmerksamkeit ihrer Nutzer, verkaufen sie an Unternehmen, die Werbung einstellen. Aufmerksamkeit erhält man, indem man bestimmte Dinge wie den Neuigkeitswert und die spezifischen Wünsche der Nutzer berücksichtigt. Dem Nutzer wird suggeriert, was er mutmaßlich wünscht, beispielsweise über den automatischen Vervollständiger bei Google, der nach wenigen Stichworten bestimmte Begriffe vorschlägt. Wenn man sich z.B. über das Impfen informieren möchte, zeigt Google tendenziell impfkritische Informationen an, weil wohl sehr viele Menschen, die sich aktiv mit dem Impfen auseinandersetzen, danach suchen. So entsteht ein verzerrtes, nicht repräsentatives Bild von dem, was an Wissen über das Impfen eigentlich vorhanden ist. Genauso ist es bei Facebook. Wir sind mit bestimmten Freunden verknüpft, wir liken bestimmte Initiativen oder Kommentare. Der Algorithmus ist so konstruiert, dass er die Aufmerksamkeit möglichst lange halten und einen möglichst lange auf diesen Seiten verweilen lassen soll. Aufgrund unserer natürlichen Tendenz, Bestätigendes zu bevorzugen, konsumieren wir das, was wir am liebsten wollen: gleichlautende Meinungen. Aus der Sicht der Unternehmen ist das also das richtige Geschäftsmodell. Gesamtgesellschaftlich führt es aber zu Problemen.

Sollte Ihrer Ansicht nach die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung Grenzen haben und wenn ja, wo sollte man diese ziehen?

Wenn im Zweifel jemand getötet oder verletzt wird, z.B. als Folge von Volksverhetzung oder Verleumdung, wird das Recht auf Meinungsfreiheit eingeschränkt. So sieht es unser Rechtssystem vor. Bestimmte Aussagen sind nicht einfach Meinungsäußerungen, sondern Sprechhandlungen, die etwas in der Welt verändern – z.B., wenn zu Mord aufgerufen wird. Vor allem Leute, die Volksverhetzung betreiben, berufen sich gerne auf die Meinungsfreiheit und tun so, als würde sie auf eine unzulässige Weise eingeschränkt werden. Das ist aber nicht der Fall.

Welche Rolle spielen Emotionen beim Streiten?

Emotionen haben einen schlechten Ruf, weil sie uns bisweilen blind machen für das Gegenüber, seine Ansichten und Argumente. Aber sie erfüllen auch wichtige, positive Funktionen. Ohne eine gewisse Leidenschaft oder Motivation geht man gar nicht erst in ein Gespräch. Vielleicht ist die Indifferenz und Gleichgültigkeit, die viele Menschen haben, letztlich genauso schädlich für die Streitkultur wie der Hass, die Wut und die Empörung, die in den sozialen Medien hochkochen und sich in Hate Speech verwandeln. Wir brauchen Menschen, die streiten wollen, die sich auseinandersetzen wollen mit den Problemen in unserer Gesellschaft. Die beste Art, sie kollektiv zu lösen, besteht in Streitgesprächen, die in die öffentliche Debatte getragen werden. Ich denke, dass wir gerade auch auf der privaten Ebene viel mehr Streitgespräche brauchen – wie sie z.B. durch die Initiativen „Deutschland spricht“ oder „Diskutier mit mir“ angestoßen werden. Durch das Internet gelangen sie in die Öffentlichkeit und führen dazu, dass Politikerinnen und Politiker, unsere Repräsentantinnen und Repräsentanten, bessere Entscheidungen treffen, weil sie sich an dem orientieren können, was wir, die Bürgerinnen und Bürger, denken und wollen. Diese Anbindung ist das, was die Rechtspopulistinnen und ‑populisten für sich reklamieren, sie kritisieren, dass „die Eliten“ den Bezug zum „Volk“ verloren hätten. Wenn man nicht diesen seltsamen, populistischen und sehr zynischen Weg gehen will, zu sagen: „Wir als Partei, wir kennen einfach den Volkswillen“, dann muss man in den politischen Streit gehen. Wir als Gesellschaft müssen lernen, zu streiten! Dazu braucht man Motivation und Leidenschaft, aber eben auch Wohlwollen, Kritikfähigkeit und Frustrationstoleranz.

David Lanius ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am DebateLab des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und Mitbegründer des Forums für Streitkultur.

Christina Heinen ist Hauptamtliche Vorsitzende in den Prüfausschüssen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).