Winter in Paris

„The Walking Dead: Daryl Dixon“

Uli Wohlers

Dipl. Soz. Päd. Uli Wohlers ist Prüfer bei FSK und FSF. Er studierte u.a. Publizistik und Filmwissenschaft in Dublin und Lüneburg und lebt als freier Autor von Romanen und Drehbüchern in Hamburg, Berlin und Dänemark.

Programm The Walking Dead: Daryl Dixon
 Horror, USA 2023
SenderMagentaTV, ab 08.12.2023

Online seit 21.12.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/winter-in-paris-beitrag-1124/

 

 

Wenn die Metro an der Station Saint-George vorbeirattert, glücklicherweise ohne zu halten, während in ihrem Inneren die Jagd auf Menschen tobt … Wenn entspannte Parkbesucher plötzlich aufspringen und auf Passanten losgehen, um sie zu töten … Wenn Panik die Touristen von den Kaffeehaustischen reißt … – dann ist Zombieapokalypse in Frankreich!

Ein Mann passt da nicht hin, denn er kommt von einem anderen Kontinent. Der Amerikaner Daryl Dixon wurde an einen atlantischen Badestrand gespült. Er gelangt in eine kleine, von grünlicher Patina überzogene Stadt. Kein Wein mehr in den Flaschen, keine Seele zu sehen. Auf eine Harpune gestützt, pilgert er ins Inland. Die ersten Zombies attackieren ihn in einem Biomarkt. Als er in der Nähe von Lourdes, auf andere Menschen trifft, schlagen sie ihn nieder und lassen ihn liegen. Er erwacht in einem Kloster, wo die Nonne Isabelle seinen durch Zombieberührung verbrannten Arm pflegt. „Ich habe nie viel von Gott gehalten“, sagt er beim Erwachen. „Nun, er hält viel von ihnen“, antwortet sie.

Mit Isabelle, ihrer Ordensschwester Sylvie und dem zwölfjährigen Laurent begibt sich Daryl nach anfänglichem Zögern auf eine Pilgerreise quer durch Frankreich. Mit ihrem Fahrzeug, einem Maultierkarren, versuchen sie, das „Nest“ zu erreichen. Es ist die Zuflucht der „Union der Hoffnung“ in der Normandie, wo der feinsinnige Laurent seinen neuen Job antreten soll. Er wird aufgrund der schrecklichen Umstände seiner Geburt für einen Messias gehalten und gilt den Nonnen als Zeichen der Hoffnung. Dafür, dass Daryl die Gruppe beschützt, soll er in Le Havre eine Passage zurück über den Atlantik bekommen.

Als Antagonistin fungiert, neben den streunenden Beißern, die Führerin Madam Genet, die über ganz Frankreich verteilt ein Heer mörderischer Paramilitärs unterhält. Sie plant, die Sechste Französische Republik zu erschaffen. Scheußlich zeitgenössisch will sie:

Ein Frankreich ohne die Tyrannei der Eliten. Ein Land, in dem es nur Freunde und Feinde gibt.“

Madam Genets Leute versuchen, die Zombies durch Drogen zu perfekten Soldaten zu machen.

Daryl ist ein stoischer Held. Er sagt nicht viel, zeigt unter seiner Mähne kaum eine Gemütsregung und wenn es sein muss, schwingt er auch schon mal einen mittelalterlichen Morgenstern, um die Mitreisenden zu beschützen. Die Zombies, die den abbekommen, sind aber keineswegs mehr der Mittelpunkt der Geschichte. Sie sind beherrschbar geworden. Ein Orchester mit Zombies, die an Instrumente gefesselt sind, interessiert Daryl genauso wenig wie das Treffen mit Vertretern der „Union der Hoffnung“ auf dem Friedhof Père-Lachaise. Eigentlich will er nur nach Hause. Das Einzige, was Daryl wirklich beeindruckt, ist das Grab vom Landsmann Jim Morrison, der seine letzten Tage volltrunken in Paris verbrachte. Alle anderen geben vor, noch nie etwas von ihm und The Doors gehört zu haben – eine Szene, zu der eine französische Coverversion von When you’re strange erklingt.
 

Trailer The Walking Dead: Daryl Dixon (MagentaTV, 26.10.2023)



Das dystopische Frankreich bietet viele Schauwerte. Einsame, von hohem Buschwerk gerahmte Alleen, blasse Höhenzüge, verlassene Architektur. Straßen, auf denen nichts als schrottreife Autos stehen. Die noch fahrenden erinnern an kunstvolle Mad Max-Vehikel. Die präsentierten Wohnungen gleichen prächtigen Antiquitätenmärkten, Midcentury-Läden oder Wunderkammern. Auf dem Dach eines Hochhauses betreibt die „Union der Hoffnung“ Urban Gardening. Überall stehen Wasserkanister und Pallettentanks herum. Die Wohnungen sind mit Plastikfolie verhängte Baugerüste. Locationscouts, Szenenbildner und Ausstatter haben gut gearbeitet.

Vielleicht ist es dekadent, das zuzugeben: Man gewinnt diese konsumfreie Welt ohne Lichtsmog, ohne Reklame und ohne die übliche Anhäufung von Statussymbolen langsam lieb. In den Katakomben leuchtet Daryls bleiches Gesicht vor Millionen von Totenschädeln in der Dunkelheit. Hier wird die Resilienz des alten Europas beschworen, das schon so viele Apokalypsen überwunden hat. Den Schwarzen Tod zum Beispiel, der viele Millionen Menschen getötet hat.

Mit Laurent und Nest-Bewohner Azlan schippert Daryl unter der Pont Neuf hindurch die Seine flussabwärts Richtung Normandie. Zu den aus einem Grammofon erklingenden französischen Chansons angelt Laurent einen Fisch aus dem dunklen Wasser – doch er hat Gott versprochen keine Tiere zu essen. Irgendwo auf dem Weg wird diese Dystopie, dieser Horrorfilm, dieser Roadmovie und Western mit Gitarrenklängen am Lagerfeuer auch noch zu einem Buddy-Movie, wenn Laurent und Daryl, einander näherkommen. „Das Leben ist nicht fair“, sagt Daryl, „frag den Fisch.“

Wie bei The Walking Dead üblich, kommt es zu langen, tödlichen Kämpfen. Auch die fast unerträglich spannenden zwischenmenschlichen Konflikte, für die die Serie bekannt ist, fehlen hier nicht. Trotzdem ist The Walking Dead: Daryl Dixon ein eher europäisches Werk. Das offene Ende kommt als Cliffhanger für die zweite Staffel daher, die hoffentlich ebenfalls in Frankreich spielt. Von dort aus wird der inzwischen selbst etwas „untoten“ Originalserie The Walking Dead durch ihren Sprössling Daryl Dixon eine ordentliche Menge frisches Blut transfundiert. Es gibt noch jede Menge zu erzählen. Vielleicht von einem neuen Heiland – oder vom Sommer in Paris.
 


Freigegeben ab …
 

Der FSF lagen sechs Episoden und somit die gesamte erste Staffel der Serie zur Prüfung vor. Sie wurden für das Spätabendprogramm (Ausstrahlung ab 22:00 Uhr) freigegeben, verbunden mit einer Altersfreigabe ab 16 Jahren. Diskutiert wurden sie mit Blick auf die Risikodimension der übermäßigen Angsterzeugung, die Risikodimension der Gewaltbefürwortung bzw. -förderung sowie im Hinblick auf eine mögliche sozialethische Desorientierung.

Das Spin-off der Serie The Walking Dead im Subgenre Zombiedystopie bietet genretypische Auseinandersetzungen zwischen Menschen und Untoten, den Menschengruppen untereinander und serientypische Diskurse über Moral, Menschlichkeit, Vergebung und Liebe. Neben den genretypischen Tötungen der Zombies finden auch einige Gewaltspitzen von Mensch gegen Mensch statt. Doch bei diesen Szenen wurde vom FSF-Prüfausschuss keine spekulativ zugespitzte Gewaltinszenierung erkannt. Die Gewaltszenen können von 16-Jährigen als genretypisch erwartbar eingeordnet und verarbeitet werden.

Die Horrorschauwerte erreichen kein übermäßig spekulatives Niveau und wirken durch den fantastischen Erzählrahmen zudem überaus alltagsfern. Zuschauer der Altersgruppe ab 16 Jahren können das Genre einschätzen, die Wahrnehmung drastischer und expliziter Gewalthandlungen dosieren und bereits selbstständig Meidungsstrategien entwickeln. Das Horror- und Zombiegenre ist weitestgehend etabliert und kann zu jeder Zeit als Fiktion gelesen werden. Gewaltszenen sind seitens der Protagonisten reaktiv und werden nicht spekulativ oder verherrlichend dargestellt. Das Gut-Böse-Schema wurde als tragfähig bewertet, ebenso die verhandelten moralischen Diskurse. Auch zeigen sich überraschend menschliche Werte in der Verhaltensweise einiger Protagonisten und sogar Antagonisten. Die Handlung folgt den Genre- und Serienregeln, ohne etwaige Abweichungen, die nachhaltig das moralische Weltbild Jugendlicher erschüttern könnten.
 

Bitte beachten Sie:
Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.

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Sendezeiten und Altersfreigaben

 

Hinweis:
Pay-TV-Anbieter oder Streamingdienste können eine Jugendschutzsperre aktivieren, die von den Zuschauer:innen mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. In dem Fall gelten nicht die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1; § 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.

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Jugendschutz bei Streamingdiensten