Und täglich grüßt die Tagesschau

Vom linearen zum digitalen Nachrichtenformat

Ulrike Brenning, Wilfried Köpke (Hrsg.)

Köln 2023: Herbert von Halem
Rezensent/-in: Tilmann P. Gangloff

Buchbesprechung

Online seit 15.12.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/und-taeglich-gruesst-die-tagesschau-beitrag-1123/

 

 

Anrufe zwischen 20:00 und 20:15 Uhr sind nicht erwünscht, denn dann läuft die Tagesschau – beim älteren Teil des ARD-Publikums gilt das vermutlich heute noch. Aus Sicht der Jüngeren mutet diese (Rezeptions-)Haltung selbstredend anachronistisch an: Wenn etwas halbwegs Wichtiges passiert, bekommen sie eine Pushnachricht auf ihr Smartphone, und im Netz sind sowieso sämtliche Nachrichten rund um die Uhr verfügbar; mit tagesschau24 betreibt die ARD zudem, ähnlich wie die anderen Sendergruppen, einen eigenen Informationskanal. Das Bonmot des früheren RTL-Chefs Helmut Thoma, die Tagesschau könne auch in Latein verlesen werden, hat deshalb nicht mehr die einstige Gültigkeit, doch eine Institution ist die 20-Uhr-Ausgabe der Tagesschau nach wie vor: 2022 hat sie im Schnitt jeden Abend gut zehn Millionen Menschen erreicht. Natürlich ist dabei viel Gewohnheit im Spiel, aber tatsächlich genießen nur wenige Medien hierzulande ein ähnlich hohes Vertrauen. Fixstern in der Informationslandschaft hat ARD-Medienforscher Stefan Geese daher seinen kenntnisreich und detailfreudig verfassten Beitrag über die gut 70-jährige Historie der Tagesschau genannt.

Für den Sammelband Und täglich grüßt die Tagesschau haben zehn Autorinnen und Autoren dieses Phänomen ergründet, das Weihnachten 1952 seinen Lauf nahm. Die Beiträge stammen aus unterschiedlichen Fachbereichen, was die Lektüre einigermaßen abwechslungsreich macht. Informations- und Erkenntnisgewinn bieten aber vor allem jene Aufsätze, die den Werdegang der Sendung unter medienpsychologischen und kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten betrachten; der Rest ist Hommage und Feuilleton. Die Rückblicke haben zwar zwangsläufig nicht viel Neues zu bieten, doch es ist durchaus reizvoll, wie Joan Kristin Bleicher die Tagesschau theologisiert und das Studio zum „heilige[n] Ort der täglichen Sinnstiftung“ erklärt (S. 18). Zumindest für die beiden Anfangsjahrzehnte ist diese Sichtweise sicher nicht falsch. Dem Sprecher käme demnach die Rolle des Priesters zu (mit Dagmar Berghoff durften erst ab 1976 auch Frauen ins Allerheiligste). Damals waren viele Menschen überzeugt, der langjährige Chefsprecher Karl-Heinz Köpcke („Mr. Tagesschau“) sei eine Art Regierungsmitglied; einige glaubten tatsächlich, er könne in ihr Wohnzimmer schauen.

Christoph Klimmt analysiert in seinem lesenswerten Aufsatz über die Medienpsychologie der Sendung die Zuwendungsmotivation des Publikums. Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: Es geht darum, das Informationsbedürfnis zu stillen. Kurioserweise können in entsprechenden Untersuchungen erstaunlich viele Befragte aber schon kurz nach der Tagesschau nicht mehr sagen, welche Themen behandelt wurden; offenbar ist neben der Ritualisierung des Fernsehabends auch eine Menge Pflichtgefühl im Spiel. Die Verstehens- und Behaltensleistung ist nach Meinung des Medienwissenschaftlers nicht nur ein Zeichen für mangelnde Aufmerksamkeit. Es gehört zum Credo des Nachrichtenjournalismus, Informationen in gebotener Kürze zu präsentieren. Dabei wird viel Hintergrundwissen vorausgesetzt und auf Redundanzen, die den Lerneffekt erhöhen würden, verzichtet. Im Grunde richtet sich die Tagesschau also an Menschen, die zum Beispiel auch Zeitung lesen. Weil deren Zahl kontinuierlich abnimmt, wird den Bildern in Zukunft womöglich eine noch größere Bedeutung zukommen. Dass optische Eindrücke ungleich stärker emotionalisieren als ein vorgetragener Text, ist eine Binsenweisheit der Wirkungsforschung. In den Fernsehnachrichten wirkt die Illustrierung der Texte allerdings oft beliebig. Klimmt fordert daher, im Zuge einer „Revision des Kerngeschäfts“ auch die „Gestaltungsroutine kritisch zu hinterfragen“ (S. 63 f.).

Damit ist das Buch in der Gegenwart angelangt, auch wenn Fabian Sickenberger in seinem kritischen Beitrag über die Afrika-Berichterstattung der Tagesschau ebenfalls erst mal zurückschaut. Angesichts der weltpolitisch zunehmenden Bedeutung des Kontinents und erst recht vor dem Hintergrund der Diskussionen über Postkolonialismus ist der Eurozentrismus nicht mehr zeitgemäß. Das Afrikabild der Deutschen mäandert seit hundert Jahren zwischen Chaos und Exotik und hat sich allenfalls graduell gewandelt. Die TV-Nachrichten tragen nicht viel dazu bei, dass sich das ändern könnte; die ohnehin spärlichen Meldungen werden von Armut, Hunger und Gewalt dominiert.

Aus Sicht der beim NDR angesiedelten zentralen Fernsehnachrichtenredaktion der ARD (ARD-aktuell) ist eine andere Frage wohl wichtiger: Wie reagiert man auf die Entwicklung der Medienlandschaft? Die Veränderungen begannen nicht erst mit der Digitalisierung in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre, sondern bereits 1963 mit der Gründung des ZDF. Größere Folgen hatte die Einführung des Privatfernsehens 1984. Die damals stetig wachsenden Reichweiten von RTL und Sat.1 haben die Seh-Erwartungen des Publikums erheblich beeinflusst. Heute ist die Tagesschau längst auch in den sozialen Netzwerken präsent: auf Instagram mit Schwerpunkten bei grafisch aufgearbeiteten Inhalten, auf TikTok mit News-Snacks im Videoformat; in jedem Fall aber ohne Krawatte.