True-Crime-Formate: Kriterien, Standards, Good Practice

Claudia Mikat

Claudia Mikat ist Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Wie entwickeln sich Bewertungskriterien, wenn sich gesellschaftliche Maßstäbe verschieben, z. B. in Bezug auf Sprache, Gender oder Darstellungen von sexueller Gewalt? Wie beeinflussen persönliche Haltungen und Sichtweisen die Anwendung von Kriterien? Wie kann man aufnehmen, dass auch die Nutzungsweisen und Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen sich verändern – und wie kann man sie einbeziehen? Diese Fragen waren Ausgangspunkte für ein Forschungs- und Praxisprojekt zu True-Crime-Formaten, das in 2022 von der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) initiiert wurde. Aus den Ergebnissen lassen sich Schlüsse für die Bewertung der Inhalte und für Good-Practice-Ansätze für die Produktion ziehen.

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 2/2023 (Ausgabe 104), S. 58-59

Vollständiger Beitrag als:

Genreboom

Geschichten von wahren Verbrechen boomen, in Podcasts, Filmen und Fernsehsendungen. True-Crime-Formate stellen auch einen wachsenden Anteil an den FSF-Prüfungen dar. Entsprechend der inhaltlichen und formalen Vielfalt des Genres variieren die Ergebnisse zwischen Freigaben ab 12 und ab 18 Jahren. Wirkungsrisiken werden vor allem in einer potenziellen Ängstigung durch belastende Themen oder drastische Bilder gesehen sowie in desorientierenden Effekten, z. B. der Verharmlosung oder Verherrlichung von Gewalt, der Konstruktion von Täter:innen- und Feindbildern oder verzerrten Vorstellungen von Kriminalität und der Betroffenheit der eigenen Person. Darüber hinaus sind z. T. Fragen der Unzulässigkeit berührt, beispielsweise wegen des Verstoßes gegen die Menschenwürde.
 

Dramaturgische Module

In seiner Analyse des Genres identifiziert Jürgen Grimm dramaturgische und formale Gestaltungsmerkmale, die sehr unterschiedliche Wirkprozesse anstoßen können. Während eine Standard-Krimidramaturgie mit der Auflösung und Überführung des Täters oder der Täterin soziales Vertrauen wiederherstellt und befriedend wirkt, können Abweichungen vom Krimischema die Aggressivität auch erhöhen, zu Selbstjustiz animieren oder die Empathie in Richtung der Täter:innen verlagern. Wesentlich ist auch die Darstellung von Täter- und Opfergruppen – sowohl mit Blick auf angstgeprägte Weltbilder als auch auf Stigmatisierungen und Diskriminierungen von gesellschaftlichen Gruppen.

Grimm arbeitet heraus, dass die Nähe zur eigenen Lebenswelt und zu eigenen Alltagserfahrungen für die Verarbeitung entscheidend ist, und zwar im Fiktionalen wie im Nonfiktionalen. Die Behauptung von Wahrhaftigkeit verstärke nicht per se die Wirkmächtigkeit, so die These. Gefährdungspotenziale leiten sich aus den Kontexten ab.

Jürgen GrimmDas Drama der wiederhergestellten Ordnung

 

Behauptete versus gefühlte Realität

Aussagen der im medienpädagogischen Teilprojekt mitwirkenden Jugendlichen unterstreichen die Bedeutung von Lebensweltnähe und Glaubwürdigkeit. Es ist nicht nur die Behauptung, dass die Geschichte wirklich stattgefunden hat, sondern der „gefühlte Realitätsbezug“, der das Ängstigungspotenzial bestimmt. Formen psychischer, unberechenbarer Gewalt sowie lebensnahe Themen, z. B. Fälle mit kindlichen Opfern, werden besonders intensiv erlebt. Ist die Darstellung nicht plausibel, löst sie weniger Ängste aus. Zu erkennen, wie ein realistischer Eindruck mit filmischen Mitteln erzeugt wird, kann insofern eine Bewältigungshilfe sein.

Mit Blick auf desorientierendes Potenzial sind Geschlechterstereotype und Täter:innen-/Opfer-Zuschreibungen relevant. Dass überwiegend männliche Täter und weibliche Opfer in den Geschichten auftauchen, wird von den Heranwachsenden zwar wahrgenommen, aber nicht als Verzerrung der realen Kriminalstatistik erkannt. Eher wird die Stereotypisierung fortgeführt und versucht, das Täter-Opfer-Verhältnis „logisch“ zu erklären. Achim Lauber u. a. berichten, wie Jugendliche True Crime wahrnehmen.

Achim Lauber, Lena Schmidt, Carla ZechTrue.Crime.Story. Ein medienpädagogisches Projekt zur Bewertung von AV-Inhalten durch Jugendliche

 

Sexuelle Gewalt

Geschlechtsspezifische Taten, insbesondere Gewalt gegen Frauen, machen die weiblichen Jugendlichen zum Thema. Auch Prüferinnen nehmen sexuelle Gewalttaten und Femizide intensiver wahr als ihre männlichen Kollegen, wie Eva Maria Lütticke zeigt, die die individuellen Wirkungshypothesen von Prüfenden untersucht hat (siehe unten).

Christine Linke erläutert auf der Grundlage von FSF-Prüfgutachten zu verschiedenen Ausprägungen des Genres geschlechtsspezifische Aspekte bei der Bewertung von True Crime. Sie problematisiert langfristige Wirkungen und Kultivierungseffekte, die etwa in einer erhöhten Kriminalitätsfurcht bei Mädchen und Frauen oder einer Normalisierung oder Sensationalisierung von Beziehungsgewalt liegen können. Zwar lassen sich Schlussfolgerungen für den Einzelfall nicht ableiten; ihr Plädoyer für eine differenzierte Herangehensweise an das Thema „sexuelle Gewalt“ gibt aber Anhaltspunkte für die Krimiproduktion. Sorgfältig konzipierte Formate können das Bewusstsein für das Thema schärfen und über Auswirkungen auf die Opfer aufklären. Die Benennung von Femiziden kann strukturelle Gewaltmuster in den Blick rücken, Vorab- oder Kontexthinweise können die Sensibilität für die Opfer erhöhen. Zusatzhinweise ermöglichen es den Zuschauer:innen, bewusst zu entscheiden, ob sie einen Inhalt wahrnehmen möchten oder nicht. Auch die befragten Jugendlichen würden solche Hinweise zu sensiblen Themen als Stärkung der Eigenverantwortung begrüßen.

Christine LinkeGeschlechtsspezifische Aspekte bei der Bewertung von True Crime

 

Bildethik und Visualisierung von Tod und Sterben

Neben grundsätzlichen Fragen der Pietät, des (postmortalen) Persönlichkeitsschutzes und der Menschenwürde beleuchtet Ingrid Stapf aus medienethischer Perspektive mögliche langfristige und kumulative Wirkungen, z. B. auf gesellschaftliche Bilder von Tod und Sterben. Gleichzeitig betont sie die Möglichkeiten von True Crime, Heranwachsende über Verbrechen zu informieren und aufzuklären, was zu ihrem Schutz und zur Prävention beitragen kann. Auch beunruhigende Erlebnisse können die Entwicklung und Resilienz Heranwachsender stärken, sofern sie nicht nachhaltig verunsichern, sondern Ansätze zur Bewältigung bereitstellen. Für die Produktion von True Crime ergeben sich hier Hinweise, was im Sinne von Good Practice vermieden bzw. ermöglicht werden kann. Ansatzpunkte sind die Drastik der Verbrechensdarstellung, die Beteiligung von Kindern sowie die Verwendung von Originalmaterial hinsichtlich der Erkennbarkeit von Opfern, der Charakterisierung von Täter:innen oder der Verbindung von Verbrechen mit Trophäennarrativen.

Ingrid StapfMedienethische Aspekte bei der Bewertung von True Crime

 

Zwischenfazit

Ziel des Projekts war und ist es, das Genre „True Crime“ und die Genrekompetenzen von Heranwachsenden näher zu beleuchten, um Bewertungskriterien zu präzisieren und Good-Practice-Ansätze zu entwickeln. Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, dass die bisherigen Kriterien der FSF das Genrefeld im Wesentlichen abdecken. Eva Maria Lütticke fasst Ergebnisse ihrer Untersuchung der individuellen Wirkungshypothesen von Prüfenden zusammen. Die Systematisierung von dramaturgischen Modulen und formalen Gestaltungsweisen in Verbindung mit unterschiedlichen Wirkprozessen erweist sich darüber hinaus als geeignete Grundlage für eine differenziertere Betrachtung. Es liegt nun beim Kuratorium der FSF, konkrete Schlussfolgerungen abzuleiten und ein Kriteriengerüst oder Produktionsstandards zu entwickeln. Inwieweit wiederkehrende Narrative, z. B. des männlichen Täters und weiblichen Opfers, überhaupt einbezogen werden können oder sollen, ist offen.

Eva Maria LüttickeTrue Crime im Tagesprogramm? Ein Einblick in die Kriterien und individuellen Vorstellungen von FSF-Prüfenden