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Eleni Ampelakiotou

Eleni Ampelakiotou ist Regisseurin und Drehbuchautorin sowie Geschäftsführerin und Creative Producer von NOW FILMS.

Wird ein zu Tränen gerührtes Publikum zum neuen Gütesiegel für politische Dokumentarfilme? Sollen politische und historische Dokumentationen das Denken aus- oder einschalten?

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 2/2019 (Ausgabe 88), S. 80-83

Vollständiger Beitrag als:

„Gefühle schaffen Fakten“, skizzierte „Bild“-Politikchef Nikolaus Blome den Ansatz für den Testlauf des Wochenmagazins „Bild Politik“, das jenseits klassischer Ressorts wie Innen- oder Außenpolitik die Rubriken „Ärger“, „Freude“ und „Neugier“ führt. Es gehe zwar um Fakten und relevante Themen, doch noch viel mehr gehe es „um die Emotionen, die darunterliegen“.1 Bemerkenswert hierbei, dass die Emotionalisierung komplexer politischer Sachverhalte als fragwürdige Kategorie nicht mehr in Zweifel gezogen wird, was angebracht wäre, wollte man nicht erneut in den Weltvereinfachungs-Gestus alter Wochenschauen verfallen, die Emotionen demagogisch für ideologische Zwecke nutzten. Die Emotionalisierung des Politischen orientiert sich am Quotengenre des „Affektfernsehens“. Von konfrontativen Talkshows über Reality-TV bis Infotainment zielt es auf das Erregungs- und Empörungspotenzial des Publikums, welches von manipulativen Strategien populistischer Bewegungen ebenso bedient wird wie von Shitstorms sozialer Netzwerke oder Hashtags wie MeToo.
 

Das autonome Gegenüber

Die einjährige redaktionelle Auseinandersetzung zwischen WDR und ARTE um den Film Franco vor Gericht: Das spanische Nürnberg? (Franco on Trial: The Spanish Nuremberg?)* der Grimme-Preis-prämierten Regisseure und Produzenten Dietmar Post und Lucía Palacios könnte laut Dietmar Post als Indiz wahrgenommen werden, gegen welche redaktionellen Widerstände sich ein klassisch politischer Dokumentarfilm inzwischen behaupten muss, der auf affektgeschwängerte Inszenierungen verzichtet.Franco vor Gericht dokumentiert mit beeindruckender Recherchegenauigkeit (und um Darstellung der Perspektiven von Opfern und Tätern bemüht) den historischen und juristischen Kontext der Anstrengungen der argentinischen Justiz, noch lebenden mutmaßlichen Tätern der Franco-Diktatur aufgrund begangener Verbrechen gegen die Menschlichkeit den Prozess zu machen, nachdem der Versuch, die Verbrechen vor einem spanischen Gericht aufzuklären, 2008 gescheitert war. Gerade die Sachlichkeit und der von jeder sentimentalen Verbrüderung mit den Opfern befreite Purismus des Films wurden den Regisseuren vom WDR zum Vorwurf gemacht.
 

Im Gespräch erläutert einer der Filmemacher, Dietmar Post, den Verlauf der Auseinandersetzung: „Der von ARTE und WDR koproduzierte Dokumentarfilm Franco vor Gericht, ausgestrahlt im Februar 2018 auf ARTE und kurz darauf auf Phoenix, wurde von der beim WDR zuständigen ARTE-Redaktion im Jahr 2017 abgenommen. Überraschenderweise wurde jedoch der Film von der WDR-Redaktion aufgrund seiner ‚Machart‘ für nicht sendbar erklärt, weil er zu wenig ‚emotionalisierend‘ und zu sehr als ‚Autorenfilm‘ erschien. […] Die Fertigstellung des Films wurde so um ein volles Jahr behindert. […] Trotz unserer signalisierten Gesprächsbereitschaft bezüglich einer gekürzten Fassung verweigerte der WDR die letzte Finanzierungsrate für die Produktion. Darüber hinaus wurde auch eine Bankbürgschaft blockiert.“2

Die Filmemacher sind keine dokumentarischen Newcomer, sondern weisen ein Gesamtwerk auf, das ästhetisch, inhaltlich und formal dem klassischen politischen Dokumentarfilm verpflichtet ist. Sie generieren ihre Glaubwürdigkeit aus eingehender Recherche und der Darstellung komplexer politischer und historischer Zusammenhänge mit sachlich nüchterner Distanz zu allen Protagonisten. Sie verzichten auf emotionalisierende Spannungsdramaturgie und nehmen Protagonisten wie Zuschauer als autonomes Gegenüber wahr:

„Ästhetisch wollten wir […] eine Offenlegung unserer Arbeitsweise zu jedem Zeitpunkt: Gesprächssituationen, die allen Beteiligten eine Gleichberechtigung geben, […] ohne Ablenkungen. Eine möglichst natürliche Gesprächssituation […]. Die Kläger müssen reden dürfen und die mutmaßlichen Täter ebenso. […] Das Gehörte und das Archivmaterial sollten uns leiten und nicht eine vorgefasste Meinung. […] So kann der Zuschauer sich selber ein Bild machen. Aussagen stehen gegen Aussagen.“3
 

Dokumentarische Ethik

Die dokumentarische Handschrift der Filmemacher war der WDR-Redaktion hinlänglich bekannt. Zudem lag der Redaktion ein 40-seitiges detailliertes Exposé vor, das das filmische Vorhaben eingehend darlegte:

„Bereits 2008, als der spanische Richter Baltasar Garzón erstmals die Fälle vor Gericht bringen wollte, kontaktierten wir ihn und wollten diesen möglichen Prozess begleiten. Als dann 2010 Garzón politisch (mit einem 11-jährigen Berufsverbot) kaltgestellt wurde, griffen Menschenrechtsanwälte das Thema auf und organisierten die erste Klage in Argentinien (der erste Kläger Darío Rivas ist in unserem Film). Wir haben uns von Beginn an für die historischen und juristischen Aspekte interessiert. […] Wer sind die mutmaßlichen Täter? Welcher politische Kontext lag vor? Wer sind die Opfer? Und warum sind sie Opfer? Welche Verbrechen wurden begangen? Welche historischen und forensischen Beweise gibt es? Welche Befehle gab es? Das heißt, wir haben von Beginn an nicht auf Emotionen […], sondern auf die Erklärung/Klärung von historischen, juristischen Aspekten, und seit der Einführung der DNA-Analysen auf forensische Aspekte Wert gelegt. […] Auch war uns wichtig, paradigmatische Fälle der einzelnen Phasen des Terrors genau zu beschreiben, weil sie für die Anklage von großer Bedeutung sind: Putsch, Krieg, Nachkriegsrepression, Exil, KZ, Folter, allgemeine Repression während der langen Diktatur, die Spätphase des Franquismus und die Phase der Transición nach Francos Tod. […] Wir sind sehr methodisch vorgegangen, weil wir im Vorfeld genau die Anklageschrift gelesen hatten. […] Ein politischer und historischer Ansatz von Beginn an.“

Die Ablehnung des WDR zwang die Produzenten, neue Wege zu gehen: „Bisher konnte man sich mit den Sendern immer einig werden. So sehen es die Verträge zwischen Sendern und Produzenten ja auch vor, dass man sich einigt. Also sagten wir uns, nun gut, wenn der WDR nicht will, dann kontaktieren wir andere Redaktionen. Phoenix war dann sofort interessiert. […] Nach über einjährigem Kampf ist dann der WDR zurückgerudert, das Geld wurde bezahlt und auch die Bürgschaft freigegeben.“4
 

Pathos und Sentiment

Fast zeitgleich zur ARTE-Ausstrahlung von Franco vor Gericht wurde ein Film mit derselben Thematik im „Panorama“-Programm der Berlinale 2018 uraufgeführt, der die Forderung nach Emotionalität zu erfüllen schien: The Silence of Others (El silencio de otros), der Emmy-prämierten Regisseure Almudena Carracedo und Robert Bahar5, unterstützt durch Pedro Almodóvar als Executive Producer.

Ausgehend vom Mirador de la Memoria, den monumentalen Skulpturen des Künstlers Francisco Cedenilla Carrasco für die Opfer des Bürgerkrieges und der Franco-Diktatur im Valle del Jerte, als narrativem Anker, in pathetischer Ästhetik in gleißendem Gegenlicht eingefangen, inszeniert The Silence of Others zu Beginn die Niederlegung eines Blumenstraußes von María Martín am Rand einer Schnellstraße, unter der ihre von Franquisten ermordete Mutter in einem Massengrab liegt. Ein persönliches Bekenntnis María Martíns: „How unjust life is. Not life. We humans we are unjust“, flankiert mit einem Schnitt auf ein niedlich schneeweißes, am Straßenrand grasendes Zicklein, wird so von der Regie zur sentimental generalisierten Ungerechtigkeit menschlicher Natur boulevardisiert. Aufnahmen von Tieren und Kindern werden auf dieselbe Weise im weiteren Verlauf wiederholt in die Narration montiert. Der Blumenstrauß wird am Autobahnrand verdorren – wie die Hoffnung María Martíns, ihre Mutter exhumieren zu können, während anonyme Hände die Skulpturen abtasten, mit wehmütiger Musik untermalt.
 


Die bereits am Anfang gesetzte Tonalität zwischen Pathos und Sentiment setzt sich im Pluralis Majestatis eines Offkommentars fort, der weiter generalisierend im „Wir“ eine Generation vereinnahmt, deren Eltern vermeintlich niemals von der Franco-Diktatur sprachen und somit nachfolgende Generationen in einen Zustand der Ahnungslosigkeit versetzten. Die behauptete Amnesie einer gesamten Generation, die sich offenbar keiner anderen Informationsquelle als der Eltern zu bedienen wusste, wird inszeniert in didaktisch infantilisierter Tonalität.

Auch wenn der Film versucht, das Prozedere und die Hindernisse der argentinischen Klage nachzuvollziehen, so übergeht er, außer bei den studentenbewegten Folteropfern Ende der 1960er-Jahre, zum Großteil die politischen Überzeugungen der Opfer, deren politische Gegnerschaft gerade Ursache ihrer Verfolgung und Ermordung war. Die Opfer werden vornehmlich als Väter, Mütter, Töchter und Söhne jenseits einer politischen Identität präsentiert, die sie jedoch gerade zur Zielscheibe des Franco-Regimes machte. Die emotionalen Dramen der Opfer reihen sich zu Schnipseln von Protagonisten, zu Sprech-und Emotionsblasen dynamisch montiert, bis eine Protagonistin selbst die Augen vor der Kamera verschließt.

Die argentinische Menschenrechtsanwältin Ana Messuti wird weniger zur juristischen Sachlage befragt, sondern als Trost spendende Instanz inszeniert. Leider bleibt der Einwurf der Richterin María Servini de Cubría von der Ersten Kammer des Bundesstrafgerichts in Buenos Aires von der Regie ungehört, dass es zwar emotional aufrührend sei, wenn die Opfer von Folterungen und Tötungen ihrer Verwandten berichten, dass man aber dennoch objektiv bleiben müsse. Diese Objektivität lässt der Film durch seine manipulative Bildsprache und emotionale Verbrüderungs-Inszenierung von Opfern und Regie vermissen. Demgegenüber werden die Täter als moralische Antagonisten dämonisiert und nicht in ihrer politischen Funktion innerhalb einer regierungskonformen institutionalisierten Repression politischer Gegner porträtiert.

Kritik gegen den Film regte sich nicht nur bezüglich der falschen Darstellung des Beginns der argentinischen Klage und der Fehlinformationen hinsichtlich der Finanzierung der Exhumierungen. Die Urenkelin eines Opfers, Aitana Vargas, sah sich in einem offenen Brief an den „New Yorker“ gezwungen, die im Film gezeigten Bilder einer Exhumierung wahrheitsgemäß zu korrigieren:

„So sehr ich die Arbeit der Regisseure von The Silence of Others schätze, misslingt es dem Dokumentarfilm, ein reales Porträt der Geschichte meiner Großmutter [Ascensión Mendieta, Anm. d. Red.] zu präsentieren. Der Körper, auf den sie in den dokumentarischen Aufnahmen blickt, war nicht der ihres Vaters [Timoteo Mendieta, Anm. d. Red.]. Es war der Körper eines anderen. Viele Menschen in Spanien und über die Grenzen meines Landes hinaus wissen das, da zahlreiche spanische und auswärtige Medien darüber berichteten. Meine Familie musste noch eine weitere Exhumierungsrunde durchlaufen, um meinen Urgroßvater zu finden, der Monate später lokalisiert, identifiziert und in einer nicht religiösen Zeremonie 2017 in Madrid eine würdige Bestattung fand“.6

Vom Journalisten Willy Veleta auf diese Modellierung der Faktenlage angesprochen, entgegnete die Regie: „Es ist kein Film über Daten, sondern über Gefühle und diese Einstellung mit Ascensión, dass der Totenschädel der ihres Vaters war, ist das perfekte Ende und die Familie schien einverstanden zu sein.“7

 

Trost im Meer der Tränen

Trotz mangelnder Darstellung des juristischen Kontextes der argentinischen Anklage, der politisch bedeutsamen Umstände des Scheiterns der ersten Anklage in Spanien, der Nivellierung spezifischer Unterschiede politischer Diktaturen in Chile, Kambodscha und Ruanda sowie der Modellierung von bekannten Fakten hinsichtlich einer narrativen „Stimmigkeit“ wurde The Silence of Others auf Festivals und in Printmedien affektgeschwängert gefeiert.

„Es entsteht ein Auf und Ab aus Trauer angesichts der Vergangenheit und Hoffnung, Freude und Rührung angesichts der Erfolge, die sich langsam aber sicher einstellen. Ein ungemein emotionaler, tiefgründiger und bedeutender Dokumentarfilm, der eindrucksvoll aufzeigt, wie wichtig die Aufarbeitung von Unrecht in der Geschichte Spaniens und der ganzen Welt ist. In den vergangenen vier Jahren Berlinale habe ich bis heute Nachmittag noch nie erlebt, dass sich der gesamte Saal mit Tränen in den Augen zu einer Standing Ovation für die Regisseure erhebt.“

Komplexe politische und historische Sachverhalte werden eingeebnet hinsichtlich eines verallgemeinernden „Unrechts“, aufgehoben in einem sich im tränenbeseelten Happy End tröstlicher Welterfahrung verbrüdernden „Wir“. Diese auf Affekte und Emotionen zielende dokumentarische Prosa, die sich politisch maskiert, spricht den Zuschauer jedoch nicht als politisches Subjekt an, sondern „als einen existenziell Trostbedürftigen. […] Die Fakt-Fiktion-Synthesen dienen der pastoralen Daseinsberuhigung und wirken wie eine Therapie. Sie stabilisieren Gefühle und bringen Ordnung ins Chaos. Sie machen das Komplizierte einfach und schaffen Vertrautheit mit einer skandalös unverständlichen Realität […]. Der Schrecken ist gebannt.“9

Das zu Tränen gerührte Kollektiv wähnt sich hierbei auf der moralisch sicheren Seite, während es gleichzeitig seiner eigenen Entmündigung als politisches Subjekt applaudiert. Die Vorstellung, dass politische Dokumentarfilme „ein perfektes Ende“ haben sollen, ist ein sedierendes Heilsversprechen, weil Geschichte ein nie abgeschlossener Vorgang ist, wie Dietmar Post ausführt: „Es würde dem widersprechen, was Wissenschaftler, Historiker, Psychologen und Philosophen längst erklärt haben. Deshalb favorisieren wir die offene Form des Dokumentarfilms. Die geschlossene Form meint, die Welt verstanden zu haben. Die geschlossene Form behauptet, aber beweist selten etwas. Und die geschlossene Form ist oft ideologisch blind“.10

*) ARTE-Fassung: 52 Minuten, WDR-Fassung: 45 Minuten, Phoenix-Fassung: 52 Minuten, Langfassung: 97 Minuten
 

Anmerkungen:

1) Huber, J.: Politik mit Gefühl. „Bild Politik“: Springer startet Testlauf. In: Der Tagesspiegel, 14.12.2018 (letzter Zugriff: 18.04.2019)
2) Zitiert nach einem Gespräch und Schriftwechsel mit Dietmar Post, Januar 2019
3) Ebd.
4) Ebd.
5) Leider hat die Regisseurin Almudena Carracedo trotz ihres Interesses an einem Gespräch (E-Mail vom 09.01.2019) auf konkrete Fragen nicht mehr reagiert.
6) Vargas, A.: My grandmothers story must be told. In: Medium.com, 11.01.2019 (letzter Zugriff: 18.04.2019)
7) Veleta, W.: Tres errores de ‚El silencio de otros‘. In: ctxt, Revista Contexto, Nr. 195, 14.11.2018 (letzter Zugriff: 18.04.2019)
8) Angene, J.: Berlinale-Filmkritik: ‚The Silence of Others’ von Almudena Carracedo und Robert Bahar. In: Berliner Film- und Fernsehverband. Der Berufsverband der Berliner Filmbranche, 30.03.2018 (letzter Zugriff: 18.04.2019)
9) Assheuer, T.: Die Welt als Reportage. In: Die Zeit, 01/2019, 27.12.2018 (letzter Zugriff: 18.04.2019)
10) Vgl. Anm. 2