Partizipation ist Demokratieförderung

Christina Heinen im Gespräch mit Waldemar Stange

Kinder und Jugendliche altersentsprechend an allen sie betreffenden Entscheidungen zu beteiligen, ist eine der zentralen Forderungen der UN-Kinderrechts­konvention. Diese wird in Deutschland bislang noch viel zu wenig umgesetzt. In jüngster Zeit werden jedoch Kinder und Jugendliche endlich vermehrt auch im Jugendmedienschutz über Beiräte mit Jugendbeteiligung und über Workshops eingebunden. Dr. Waldemar Stange, Professor i. R. an der Leuphana Universität Lüneburg, forscht seit 25 Jahren zum Thema „Partizipation“ und setzt sie in Projekten um. mediendiskurs sprach mit ihm darüber, wie die Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen gelingen kann und was sie bringt.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 2/2024 (Ausgabe 108), S. 58-63

Vollständiger Beitrag als:

Was sind die wichtigsten rechtlichen Grundlagen dafür, Kinder und Jugendliche stärker als bisher an Prozessen und womöglich auch an Entscheidungen zu beteiligen, die sie betreffen?

Ganz wesentlich ist natürlich die UN-Kinderrechtskonvention von 1989, die Deutschland 1992 ratifiziert hat und die immer noch viel zu wenig angewendet wird. Daneben ist die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen aber hierzulande in vielen anderen Gesetzen verankert, z. B. in Kommunalverfassungen, im Bundesbaugesetz, in den Schulgesetzen der Länder und, ganz entscheidend, in der Sozialgesetzgebung. Die deutsche Jugendhilfe z. B. ist vorbildlich, da ein Rechtsanspruch auf Leistungen verankert ist und an vielen Stellen strenge Partizipationsvorgaben vorhanden sind. Das schafft insgesamt in Deutschland für Kinder und Jugendliche durchaus bessere Lebensbedingungen als in vielen anderen europäischen Ländern. Es gibt allerdings hinsichtlich der Partizipation von Kindern und Jugendlichen in Deutschland dennoch ein gewaltiges Umsetzungsdefizit.

Welche Artikel der UN-Kinderrechtskonvention schreiben das Mitspracherecht von Kindern und Jugendlichen fest?

Das sind insbesondere die Art. 12 und 13, in denen es um die Berücksichtigung des Kindeswillens in allen das Kind betreffenden Angelegenheiten und um die Meinungs- und Informationsfreiheit geht. Aber Partizipation spielt auch in einigen anderen Artikeln noch eine Rolle. Ganz entscheidend ist Art. 3, welcher den Vorrang des Kindeswohls festschreibt in allen Angelegenheiten, die Kinder betreffen. Darin liegt eine ungeheure Sprengkraft. Wenn eine Kommune beispielsweise ein Bauvorhaben plant, bei dem sich die Interessen von Kindern und von Erwachsenen widersprechen, dann sind diese Interessen gegeneinander abzuwägen – und im Konfliktfall geht das Wohl der Kinder vor. Viele Kommunalpolitiker sind sich dessen nicht bewusst, insbesondere dass die UN-Kinderrechtskonvention in der Normenhierarchie – vor allem wegen der völkerrechtlichen Bindung – direkt unter dem Grundgesetz steht und als Bundesgesetz auf jeden Fall Landesrecht bricht.

Das klingt super, wird aber vermutlich so gut wie nie angewendet, oder?

In der Vergangenheit nicht, aber das ändert sich gerade. Das Bewusstsein für Kinderrechte wächst.

Die Ermessensleitlinie in allen Kinder und Jugendliche betreffenden Belangen ist die UN-Kinderrechtskonvention. In Art. 3 heißt es: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, […] ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ Kinderrechtsorganisationen versuchen regelmäßig, jemanden zu finden, der endlich einmal klagt.

Das ist das Problem: Kinder und Jugendliche können schlecht selbst klagen … Erwachsene treffen die Entscheidungen, doch sie denken sich selten in die Perspektiven von Kindern und Jugendlichen hinein.

Ich kenne in Schleswig-Holstein zwei Fälle, wo die Kommunalaufsicht Entscheidungen beanstandet hat, weil keine Beteiligung von Kindern und Jugendlichen stattfand. In einem der Fälle ging es um die Zusammenlegung von zwei Schulen. Leider kam es nicht zum Prozess, sondern die Beteiligung wurde nachgeholt. Das ist also geschickt entschärft worden. Aber Klagen werden sicher kommen. Die UN-Kinderrechtskonvention ist kein zahnloser Tiger, sondern ein ganz scharfes Schwert, wir haben es nur noch nicht ausprobiert.

Wir haben die UN-Kinderrechtskonvention nun schon seit 30 Jahren in der Schub­lade …

Tiefgreifende gesellschaftliche Transformationen erfordern Zeit. Denken Sie an die Frauenemanzipation. Gegen erhebliche Widerstände von Männern wurde die Gleichberechtigung der Geschlechter von einigen Frauen erkämpft und ins Grundgesetz geschrieben. Trotzdem benötigten Frauen noch in den 1970er-Jahren die Einwilligung ihrer Ehemänner, wenn sie arbeiten oder ein eigenes Konto eröffnen wollten, sie durften sich keine eigene Wohnung nehmen etc. Das war geltendes Recht Anfang der 1970er-Jahre, ein ganz klarer Verfassungsbruch! Rechte haben und Rechte auch ausüben zu können, ist leider nicht dasselbe. Es hat 30, 40 Jahre gedauert, bis die Vorgaben der Verfassung endlich rechtlich umgesetzt waren. Dasselbe erleben wir bei den Kindern jetzt auch. Frauen haben für ihre Emanzipation über 100 Jahre gebraucht. Ich hoffe, dass es bei den Kindern nicht 100 Jahre dauert.
 


Ganz aktuell erlebt Partizipation einen großen Aufschwung, weil es dabei natürlich um Demokratieförderung geht.“



Wir sind immer noch längst nicht da, wo wir hinwollen!

Das kommt noch dazu. Wir müssen einfach dranbleiben. Wir haben in den vergangenen 30 Jahren unglaublich viel geschafft. 1998 gab es die erste Untersuchung zur Partizipation in Deutschland, vom Deutschen Jugendinstitut. Damals haben 30 % der Kommunen angegeben, sie würden „irgendwas mit Partizipation“ machen, mit Betonung auf „irgendwas“. Heute haben wir Werte um die 70 %. Auch die beiden großen Jugend- und Kinderstudien von Bertelsmann mit 14.000 Jugendlichen und von logo! (ZDF) mit Kindern unter 14 Jahren zeigen eine positive Entwicklung hinsichtlich der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen und ihrer Mitsprachemöglichkeiten. Ganz aktuell erlebt Partizipation einen großen Aufschwung, weil es dabei natürlich um Demokratieförderung geht. Es gibt eine Vielzahl an Publikationen, darunter zahlreiche Methodensammlungen. In neueren EU-Richtlinien wird als Bedingung der Förderung von Projekten regelmäßig verlangt, dass Kinder und Jugendliche beteiligt werden. Niemand kommt mehr umhin, Kindern und Jugendlichen ein Mitspracherecht einzuräumen. Das ist eine richtig gute Entwicklung, aber es ist natürlich nicht genug. Unser Problemfall ist die Schule. In den beiden eben schon erwähnten großen Studien zeigte sich, dass die Mitsprachemöglichkeiten für Kinder und Jugendliche innerhalb ihrer Familien am größten sind; ca. 70 % der befragten Kinder und Jugendlichen geben an, dort mitentscheiden zu können. Das ist eine großartige Entwicklung, für die das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung, welches seit 2001 im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) verankert ist, eine wichtige Rolle gespielt hat. Vor 2001 waren die Werte deutlich schlechter, nur 30 % der Kinder und Jugendlichen gaben in den allerersten Untersuchungen zur Partizipation an, in ihren Familien mitentscheiden zu können.
 

 

Warum erleben Kinder und Jugendliche in ihren Schulen kaum Partizipation?

Die Schulgesetze sind überwiegend progressiv gestaltet, von der Grundschule an sind Schüler*innen in allen Gremien vertreten, aber dennoch beschreiben 70 % der befragten Kinder und Jugendlichen ihre Schule als demokratiefreien Raum. Nur 30 % der Schulen setzen Partizipation gut um. Ein Problem ist, dass Partizipation in der Ausbildung von Lehrer*innen als Thema bislang überhaupt nicht vorkommt, das Interesse daran wächst aber. Es erfordert viel Einsatz, Kinder und Jugendliche wirklich zu beteiligen, aber es lohnt sich, wenn die Schüler*innen erfahren: Ich bin Teil dieser Gemeinschaft, und ich konnte etwas bewirken! Eine bessere Demokratieerziehung gibt es nicht.

Mitunter kann man Kinder kaum beteiligen, weil z. B. Inhalte, die für Kinder beeinträchtigend sind, mit einer Altersfreigabe versehen werden. Ist die Forderung nach Beteiligung in allen Bereichen nicht wirklichkeitsfremd?

Dieses Argument – Kinder können das noch nicht – lasse ich nicht gelten. Man kann Kinder an fast allen Prozessen mitwirken lassen, man muss nur ein geeignetes Format der Beteiligung finden, das an die Bedürfnisse der jeweiligen Altersgruppe, des Sozialraumes, der sozialen Gruppe etc. optimal angepasst ist. Ich habe schon mit Jugendlichen zusammen über Budgets einer Gemeinde entschieden und Satzungen geschrieben. Das ist alles möglich! Es gibt Gutachterausschüsse von Jugendlichen, die am Monitoring zum Nationalen Aktionsplan „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ mitwirken, einem Programm gegen Kinderarmut. Auch an den Kinder- und Jugendreports haben Kinder und Jugendliche mitgeschrieben und sich differenziert zum Stand der Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland geäußert. Die Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ) z. B. lässt Kinder zwar nicht an Indizierungsverfahren teilnehmen, aber hat einen Beirat mit Jugendbeteiligung geschaffen und veranstaltet vorbereitende Workshops. Gerade in Bereichen, wie beispielsweise auch der Jugendhilfe, in denen über die Belange von Kindern entschieden wird, muss man die Nutzer:innen von sozialen Dienstleistungen einbeziehen, ansonsten wird das Ergebnis schlecht oder gleich vollkommen nutzlos. Sie können nicht für ein Kind eine Heimerziehung als Maßnahme beschließen und erwarten, dass diese Erfolg hat, wenn das Kind nicht an der Entscheidung beteiligt war und diese Maßnahme gar nicht will. Nutzer:innenbeteiligung ist in der Industrie eine Selbstverständlichkeit – wenn auch vielleicht nicht aus demokratiepädagogischen Gründen, so doch aus Effektivitätsgründen. Im politischen und sozialen Sektor sind wir da offenbar rückständiger.
 


Dieses Argument – Kinder können das noch nicht – lasse ich nicht gelten.“



Trotzdem sind es dann meist nur die sehr gebildeten, privilegierten Jugendlichen, die in solchen Beiräten sitzen …

Auch die können die Interessen Gleichaltriger durchaus gut vertreten. Inhaltliche Repräsentativität setzt nicht unbedingt immer formale Repräsentativität voraus. Partizipation muss man pragmatisch angehen. Sicher sind zwei Jugendliche in einem Beirat von Erwachsenen nicht genug, aber es ist ein Anfang. Im Übrigen ist Partizipation kein Konzept von und für Privilegierte. Die Idee stammt aus der Heimerziehung, dort gab es die ersten Heimräte und Kinderrepubliken. Gerade in der Heimerziehung ist es enorm wichtig, dass Kinderrechte berücksichtigt werden, dass Partizipation stattfindet und dass es vor allem auch Beschwerdemöglichkeiten gibt. Das bietet einen gewissen Schutz für Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe, z. B. vor sexualisierter Gewalt.

In welcher Weise profitieren Kinder und Jugendliche noch von Partizipation?

In Studien wurde eine Vielzahl positiver Effekte nachgewiesen – sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene. Selbstwirksamkeitserfahrungen sind wichtig für die persönliche Entwicklung. Im Gemeinwesen lassen sich mehr Integration, ein Rückgang von Vandalismus und von Jugendkriminalität nachweisen. Außerdem verbessern sich natürlich die kommunalen Produkte: Schulen, Spielplätze, Skateranlagen werden besser, wenn die Nutzer an ihrer Entstehung mitgewirkt haben. An Schulen mit Partizipation steigt die Lernbereitschaft und verbessern sich Leistungen und das soziale Klima.
 


Weiterführende Literatur:

Fatke, R./Schneider, H.: Die Beteiligung junger Menschen in Familie, Schule und am Wohnort. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Kinder- und Jugendbeteiligung in Deutschland. Entwicklungsstand und Handlungsansätze. Gütersloh 2007, S. 59–84

Kamp, J.-M.: Kinderrepubliken. Geschichte, Praxis und Theorie radikaler Selbstregierung in Kinder- und Jugendheimen. Wiesbaden 2006. Abrufbar unter: http://paed.com

Schneider, H./Stange, W./Roth, R.: Kinder ohne Einfluss? Eine Studie des ZDF zur Beteiligung von Kindern in Familie, Schule und Wohnort in Deutschland 2009. In: M. Schächter (Hrsg.): Ich kann. Ich darf. Ich will. Chancen und Grenzen sinnvoller Kinderbeteiligung. Baden-Baden 2011, S. 114–152


Ausgewählte Artikel aus der UN-Kinderrechtskonvention 

Artikel 3: Wohl des Kindes
(1) Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.

Artikel 12: Berücksichtigung des Kindeswillens
(1) Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife. 
(2) Zu diesem Zweck wird dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben, in allen das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden.

Artikel 13: Meinungs- und Informationsfreiheit
(1) Das Kind hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, ungeachtet der Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere vom Kind gewählte Mittel sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben. 
 

Dr. Waldemar Stange, Professor i.R. an der Leuphana Universität Lüneburg, forscht seit 25 Jahren zum Thema „Partizipation“ und setzt sie in Projekten um.

Christina Heinen ist Hauptamtliche Prüferin in den Prüfausschüssen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).