Kritik und Verantwortung

Irrwege der Digitalisierung und Perspektiven einer lebendigen Pädagogik

Nils B. Schulz

München 2023: Claudius
Rezensent/-in: Bernward Hoffmann

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 4/2023 (Ausgabe 106), S. 74-75

Vollständiger Beitrag als:

Irrwege und Perspektiven der Digitalisierung

Der gut lesbare Essay ist in fünf Kapitel unterteilt und aus der Innenperspektive eines Lehrers verfasst, der seit Jahren die Digitalisierung kritisch begleitet und selbst einen Kurs Medientheorie an seinem Berliner Gymnasium etabliert hat. Es beginnt mit einer Sprachkritik zur Digitalisierungsagenda im Bildungsbereich; im Blick ist vor allem das Strategiepapier der Kultusministerkonferenz (KMK) und seine Ergänzung aus dem Jahr 2021. In Sprache und Schulpraxis werde der EdTech kritiklos Einzug gewährt und zur digitalen Disruption der Schule keine Alternative gelassen. Digitale Medien im Klassenzimmer, so die zentrale pädagogische Position des Autors, trügen neben anderen Trends eines neoliberalen „Change Managements“, z. B. der Kompetenzorientierung, zu einer unguten Veränderung der Lehrerrolle bei. Als „Coachs“ und „Arrangeure“ digitaler Lernumgebungen und Tools gäben LehrerInnen die pädagogische Verantwortung ab. Das führe letztlich zum Verlust der Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden. Begeisterte und begeisternde Lehrkräfte, die strukturierten Unterricht verantworten und offene Begegnungen auch mit Widersprüchen ermöglichen, seien unabdingbare Voraussetzungen schulischen Lernens. Schüler seien Menschen und nicht eine Summe von Einzelkompetenzen, die digital überprüft werden könne.

An einigen Stellen des Buches drängt sich der Eindruck auf, der Autor summiere alle Paradoxien der Digitalisierung und formuliere daraus Bedenken (Kapitel 4). Dennoch sollte man seine nachdenkliche Kritik nicht als unzeitgemäß abtun, sondern sich auf den Reflexionsprozess einlassen. Schule kann und muss Medienmündigkeit fördern, um „digitale Medien achtsam, selbstbestimmt, bewusst, in kritischer Distanz und zeitsouverän zu nutzen“ (S. 105). Allerdings könne man diese Mündigkeit erst von jungen Menschen ab etwa 12 Jahren erwarten und die „Frühdigitalisierung“ habe da längst Spuren hinterlassen. Was daraus konkret für digitale Medien in Alltag und Schule folgt, lässt das Buch offen.

Prof. i. R. Dr. Bernward Hoffmann