Gefühlsecht

Claudia Mikat

Claudia Mikat ist Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Claudia Mikat, Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), über Realitäten zwischen Künstlicher Intelligenz und menschlicher Emotion.

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 3/2023 (Ausgabe 105), S. 1-1

Vollständiger Beitrag als:

Der tödliche Polizeischuss auf den 17‑jährigen Nahel Merzouk in Nanterre hat zu gewalttätigen Ausschreitungen in Frankreich geführt. Ein Handyvideo der Tat ging viral und befeuerte vor allem in den verarmten Banlieues den Zorn, der sich in brutalen Straßenschlachten entlud. Parallelen zu filmischen Umsetzungen des Themas sind nicht zu übersehen. Neben dem Klassiker La Haine, in dem Mathieu Kassovitz bereits 1995 den gesellschaftlichen Bruch im Land und die Lebenssituation von Jugendlichen in den Pariser Vororten beschrieb, ist es vor allem Romain Gavras’ Athena, eine Netflix-Produktion aus dem Jahr 2022, die das aktuelle Geschehen vorwegzunehmen scheint. Auch im Film ist der Tod eines Jugendlichen nach Polizeigewalt der Auslöser für die Unruhen, auch hier werden Videos von der Tat im Netz verbreitet und heizen die Stimmung an. #athena diente bereits bei anderen Krawallen als Referenz in den sozialen Medien, etwa an Halloween in Linz oder zur Silvesternacht in Berlin-Neukölln. Heute sind es Nutzer:innen in Paris oder Marseille, die Videos von brennenden Mülltonnen oder Polizeieinsätzen posten und mit Kommentaren wie „Athena in real Life“ versehen. „This is real friendship“, schreibt ein Jugendlicher auf TikTok. „Police killed 17 years old boy and now his friends are destroying the city for him.“ Gleichzeitig werden Bilder aus dem Film gezielt für Falschinformation verwendet. Ein Szenenfoto, das eine Gruppe von bewaffneten Jugendlichen in einem gekaperten Polizeibus zeigt, findet sich auf Twitter mit Hinweisen wie „Frankreich, Foto des Tages“ oder „Was das Fernsehen nicht zeigt“ und wird millionenfach geteilt. Offenbar ist dies eine weitere Parallele zwischen Film und Realität – dass Meinungsmache und Manipulation die Emotionen lenken:

Die Gefühle sind echt, doch die Informationen dazu gaukeln Wahrheit manchmal nur vor.


Falschinformation sät tiefes Misstrauen in Staat und Gesellschaft und bedroht so die Demokratie. Sie ist deshalb so wirkungsvoll, weil sie auf die Gefühle zielt, die oftmals stärker sind als Ratio und Fakten. Auch durch generative KI-Anwendungen ist das Thema „Falschinformation“ wieder und mit neuer Dringlichkeit in die Diskussion geraten: Zunehmende technische Perfektion und automatisierte Prozesse erleichtern die Herstellung und Verbreitung von gefälschten Informationen und Bildern. Steht uns also, wie der „Spiegel“ in einer seiner Juli-Ausgaben dieses Jahres titelte, das „Ende der Wahrheit“ bevor? Wird Realität zur Ansichtssache, weil Deepfake die Kanäle flutet und wir nicht mehr zwischen „wahr“ und „falsch“ unterscheiden können? Oder ist die Kommunikation über KI selbst von Ängsten und gefühlten Wahrheiten getragen, die den Blick auf reale Machtverhältnisse und Handlungsoptionen verstellen?

Die Antwort wird vor allem im Individuum gesucht, dessen digitale Kompetenz und Cyberresilienz gestärkt werden sollen. Der Mensch von morgen muss mediale Kommunikationsformen, ihre politischen und wirtschaftlichen Implikationen (er‑)kennen, ihre Funktionsweise verstehen und in der Lage sein, kritisch Distanz zu beziehen und Informationen zu hinterfragen – kurz, der Mensch braucht „Medienkompetenz“. Vielleicht würden wir heute weniger ängstlich auf KI schauen, wenn eine so verstandene politische Medienbildung bereits vor 30 Jahren als Schulfach eingeführt worden wäre, zu einem Zeitpunkt also, als Dieter Baacke den Begriff prägte. Möglicherweise wäre auch ein Film wie Athena nie gedreht worden, wenn man bereits aus La Haine die richtigen Schlüsse gezogen hätte. Fakt ist: Wir haben es in der Hand, gegen soziale Benachteiligung, Rassismus, Bildungsnotstand genauso wie gegen verzerrte Informationen und Fake News anzugehen. Und zwar heute und ganz real.

Ihre
Claudia Mikat