Film im Film

Beim 11. DOXS-RUHR-Festival zeigen Dokumentarfilme ihren Entstehungsprozess

Barbara Felsmann

Barbara Felsmann ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt „Kinder- und Jugendfilm“ sowie Autorin von dokumentarischer Literatur und Rundfunk-Features.

„Dokumentarisches Erzählen in Zeiten digitaler Netzwerkkommunikation – was für ein Match“, heißt es im Programmheft der elften Ausgabe von DOXS RUHR. Das Dokumentarfilmfestival für Kinder und Jugendliche im Ruhrgebiet, das vom 25. Oktober bis 5. November in Bochum, Bottrop, Essen, Dortmund, Gelsenkirchen und Moers stattfand, beleuchtet dieses spannungsgeladene Verhältnis.

Online seit 20.11.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/film-im-film-beitrag-772/

 

 

27 dokumentarische und experimentelle Filme, vorrangig aus Europa, wurden in diesem Jahr gezeigt: „Filme, die von der Wirklichkeit erzählen und sich selbst dabei an die Nase fassen. Die ihre Perspektivität und ihre Entstehung sichtbar machen, mit Transparenz den Fakes das Wasser abgraben.“ (Programm 2023) In der Tat setzten sich gleich mehrere Produktionen mit dem Entstehungsprozess eines Films, insbesondere des Dokumentarfilms, auseinander, und zwar nicht nur für ein jugendliches, sondern auch für ein noch jüngeres Publikum. Ein Grund dafür sieht Festivalleiterin Gudrun Sommer in dem Umstand, dass „viele Filmemacher*innen […] auf die Möglichkeiten und Verunsicherungen digitaler Manipulation mit unbedingter Transparenz [reagieren]“ (Pressemitteilung 2023).

Dies ist in der Tat ein wichtiges Anliegen in unserer digitalen Zeit, wo vor allem im Netz unzählige Bilder und Videos herumgeistern, deren Authentizität teils schwer überprüfbar ist und fundierte Berichterstattung nur schwer von Fake News zu unterscheiden ist. Ganz abgesehen vom Vormarsch der KI, der Künstlichen Intelligenz, die für weitere Verunsicherung sorgt.
 

„Can I come home with you now?“

Angekündigt als das erste zu 100 % durch KI generierte, animierte und erzählte Kurzfilmprojekt stieß die niederländische Produktion Let’s Be Friends auf großes Interesse sowohl beim jugendlichen wie auch beim Fachpublikum. Acht Minuten lang sind hier die verschiedensten synthetischen Schauspieler*innen aneinandergereiht, teilweise aus Gruselfilmen entlehnt, dann wieder mit großen Augen und Kindergesichtern ausgestattet. Mit ebenso synthetischer Sprache, untermalt von technoiden Tönen, wenden sie sich an das Publikum. „Can I come home with you now?“, „I can make anything you like.“ oder „Let’s be friends!“ heißt es am Anfang. Sätze, die suggestiv und doch fremd klingen und damit merkwürdige Gefühle hervorrufen. Später lassen sich die KI-generierten Schauspieler*innen in kurzen Aussagen über die Unterschiede zwischen ihnen und 3D-animierten Charakteren aus und deuten an, wie KI in naher Zukunft Schauspielkarrieren beeinflussen kann.
 


Trailer Let's be Friends by Rodger Werkhoven & Arno Coenen (Dutch Rodger, 30.12.2022)



Zum tieferen Erkenntnisprozess trägt dieser Film nicht unbedingt bei und doch übt er eine unglaubliche Faszination aus. Der lange Abspann macht schließlich klar, dass für den Film nicht „100 %“ Computerprogramme wie DALL-E 2 verantwortlich zeichnen. Konzept, Skript, Schnitt, Sounddesign und Regie gehen auf die Medienkünstler Arno Coenen und Rodger Werkhoven zurück. Bedauerlicherweise konnten sie auf dem Festival selbst keine Auskunft über ihren Film geben, ein ausführliches Gespräch mit ihnen wäre sicher sehr bereichernd gewesen.
 

Der KinoForYaurr-Preis geht an …

Ebenfalls aus den Niederlanden kommt der Film Neighbour Abdi (Originaltitel: Buurman Abdi) von Douwe Dijkstra. Er wurde im Rahmen des kino.for you-Projekts vorgestellt, in dem Jugendliche bzw. junge Erwachsene ein Dokumentarfilmprogramm kuratieren und vor Publikum präsentieren.

Neighbour Abdi nimmt die dramatische Vergangenheit des Somaliers Abdiwahab Ali, genannt Abdi, in den Fokus. Nach schmerzhaften Kriegserfahrungen kam der 11‑jährige Abdi Mitte der 1990er-Jahre nach Europa. Als Jugendlicher gerät er in den Niederlanden auf die schiefe Bahn, ist an Raubüberfällen und Schlägereien beteiligt und verbringt acht Jahre im Gefängnis. Dann entdeckt er seine Leidenschaft fürs Handwerk und wird Regaldesigner. Neben seiner Werkstatt befindet sich das Trickfilmstudio von Douwe Dijkstra und so lernen die beiden sich kennen.

Gemeinsam stellen sie Abdis traumatische Erlebnisse nach, wobei sie auch Menschen aus der Werkstatt und Kinder aus der Nachbarschaft einbeziehen. Dabei macht der Film seine eigene Entstehung transparent: Die zerstörten Straßen von Mogadischu sind in Miniaturgröße auf dem Studiotisch nachgebaut, die jeweiligen Szenen werden vor einem Greenscreen gedreht. Immer wieder wechselt die Kamera zwischen den einzelnen Aufnahmesituationen zu den Bildern, die nach der Postproduktion im Film zu sehen sind.

Diese Machart ist eine Gratwanderung. Einerseits sind die Grausamkeiten des Krieges, an die sich Abdi erinnert, so einigermaßen auszuhalten. Denn die werden recht explizit dargestellt. Da explodieren Granaten, finden dramatische Schießereien statt, da bewerfen sich Kinder mit Steinen, wobei der kleine Abdi am Kopf verletzt wird, und da sieht der Junge den ersten Toten in seinem Leben. Für diese Szene werden zuerst die Dreharbeiten gezeigt: wie der Mann schießt, wie er fällt und von mehreren Schüssen getroffen wird. Der „Tote“ steht am Schluss lachend vor dem Greenscreen auf, ein Kind aus der Nachbarschaft schaut bei den Aufnahmen zu und fragt, was dabei so lustig sei. Dann sieht man die fertige Filmszene, an deren Schluss sich der junge Abdi zu dem Getöteten herunterbeugt und in die Schusswunde am Kopf fasst. Im O‑Ton versucht Abdi, seine Gefühle zu beschreiben. Ähnlich schwer zu ertragen ist eine Szene, in der zu sehen ist, dass an einer Leine mehrere abgetrennte Hände von Menschen hängen. Auch hier wird vorher gezeigt, mit welchem Trick diese Hände gefilmt wurden.
 

Trailer Neighbour Abdi (Douwe Dijkstra, 15.02.2023)



Neighbour Abdi wurde mit dem KinoForYaurr-Preis für den außergewöhnlichsten Film ausgezeichnet. Der Preis wurde zum ersten Mal bei DOXS RUHR vergeben. In der Begründung der Juror*innen, alle zwischen 19 und 20 Jahre alt, heißt es: „Man fühlt sich, als würde man mit einem guten Bekannten über seine Erfahrungen mit den Missständen unserer Welt sprechen. Dabei schafft es der Film, mit der Schwere eines sehr sensiblen Themas zu spielen.“ (News 2023) Der KinoForYaurr-Preis ist mit 500 Euro für die Regie dotiert und ermöglicht dem ausgezeichneten Film eine Veröffentlichung auf filmfriend, einem Streamingdienst für Bibliotheken.

Bei aller Hochachtung für die Gestalt und Intensität dieses Films hat er durchaus auch das Potenzial, ein Unbehagen, eine Ratlosigkeit hervorzurufen. Die Brüche zwischen den im Krieg erfahrenen Gewalttaten, denen die Zuschauer*innen beiwohnen, und der fröhlichen Atmosphäre bei den Dreharbeiten sind irritierend und manchmal nur schwer auszuhalten.
 

Eine sehr persönliche Geschichte als „Film im Film“

Auch im Programm für Kinder ab zwölf Jahren war ein „Film im Film“ zu finden, und zwar die niederländische Produktion Safiya the Movie. Darin wird die Geschichte der 11‑jährigen Safiya erzählt, die in einer „Bonusfamilie“, also Patchworkfamilie, lebt. Als ihre Eltern sich geschieden haben, war sie 1 Jahr alt. Nun leben Safiya und ihre Mutter mit Tareq und dessen Töchtern Celsey und Zina sowie Sohn Samir zusammen. Eigentlich ist Safiya in ihrer neuen Familie sehr glücklich, wäre da nicht das Problem mit ihrem Vater. Denn die vielen Jahre, in denen er angeblich in Spanien lebte, hat sie ihn schmerzlich vermisst. Sie hätte ihn als Vaterfigur gebraucht, hatte sich eine glückliche Familie mit Brüdern und Schwestern gewünscht. Nun aber hat sie erfahren, dass ihr Vater gar nicht in Spanien war, sondern im Gefängnis gesessen hat. Bald wird sie das erste Mal bei ihm übernachten und weiß nicht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten soll.

Damit die 11‑Jährige ihre Geschichte erzählen kann, greift Regisseur Huibert van Wijk, der selbst ein Scheidungskind war und mehrere Filme zu diesem Thema gedreht hat, zu einem therapeutischen Trick. Da Safiya gern schauspielert, erarbeitet er mit ihr zusammen verschiedene Szenen, in denen sie ihre Geschichte spielt – mit Celsey und ihrer besten Freundin Armelle. Diese Rollenspiele beinhalten Erinnerungen, aber auch schmerzhafte Gefühle, von denen Safiya nur schwer erzählen kann. Dazwischen setzt van Wijk Dokumentaraufnahmen, die Safiya in ihrer neuen Familie zeigen, und Gespräche, die er mit dem Mädchen führt.

Besonders beeindruckend ist eine der letzten Szenen, als Safiya mit Armelle, die ihren Vater spielt, auf einer Bank sitzt. Safiya wendet sich an „ihn“: „Ich finde es sehr schwer, dir das im wirklichen Leben zu sagen“ und erwartet sehnlichst eine Antwort auf die Frage, wie er sich all die Jahre der Trennung gefühlt hat. Doch Armelle schaut zu Boden und meint: „Ich weiß es nicht, Safiya. Das ist deine Fantasie, also sag du es mir.“
 


Trailer Safiya The Movie (Netwerk Filmeducatie, 05.09.2022)



Safiya the Movie war zusammen mit fünf anderen Filmen für den ECFA Doc Award für den besten dokumentarischen Kinderfilm nominiert. Diesen aber vergab die internationale Fachjury an die Schweizer Produktion Ramboy, das einfühlsame Porträt eines irischen Teenagers, der von seinem Großvater auf dem Land in die Schafzucht eingeführt wird.
 

Leicht und heiter – ein Film übers Filmen

„Claude, was sind deine Vorsätze fürs neue Jahr“, fragt Enkel Gaston seinen Großvater in dem Film How I Got My Wrinkles. Er selbst hat sich vorgenommen bzw. sein Papa hat ihm geraten, nicht mehr an den Fingernägeln zu knabbern. Opa Claude dagegen muss erst überlegen und dann weiß er es: einen Film machen. Einen Film nicht für andere wie sonst, sondern nur für sich. Das alles hören wir, während ein Kalender umgeblättert wird, aus dem sich zwei schwarze Linien zu Großvater und Enkel entwickeln. Der Dialog geht weiter, denn Gaston will alles von Claude wissen: wann der Opa mit dem Film beginnt, ob Gaston darin vorkommt, wovon er handelt, was einen Realfilm von einem Trickfilm unterscheidet, warum der Opa keinen Film mit richtigen Menschen macht und wann der Film fertig ist.

Dazwischen sehen wir witzige, teils unrealistische Sequenzen, die wie abgefilmt präsentiert werden und – so wird suggeriert – durch Großvater Claude entstanden sind. Aus einer Kakaopfütze wird ein Drache, hinter einem Blatt versteckt sich ein Hexenschatten, reale Gegenstände tanzen, ein Junge verkleidet sich als Ritter, ein Autoscheibenwischer wischt die Herbstblätter weg oder es füllt sich ein Badestrand mit Hunderten von Urlauber*innen. Am Ende hat Enkel Gaston viel übers Filmemachen erfahren und Großvater Gaston hat seinen fantasievollen, spielerischen Film fertig.
 

How I Got my Wrinkles von Claude Delafosse (© Claude Delafosse)


 

Der französische Kinderbuchautor, Illustrator und Animationsfilmer Claude Delafosse erzählt hier auf eine unaufgeregte, magische Weise, wie bewegte Bilder entstehen und welche Magie von ihnen ausgeht. Auch How I Got My Wrinkles wurde in einer kino.for you-Vorstellung von Jugendlichen vorgestellt. Es ist davon auszugehen, dass dieser Film auch Kindern großen Spaß bereitet.

How I Got My Wrinkles stellt zusammen mit den 26 weiteren Filmen des DOXS RUHR eine in Unterhaltung und gesellschaftskritischem Potenzial sehr gelungene und diverse Mischung neuerer Filme dar.

 

DOXS RUHR wurde vor elf Jahren als regionales Spin-off des Duisburger doxs!-Festivals unter der Leitung von Gudrun Sommer gegründet. Initiator und Träger ist der Verein Freund*innen der Realität e.V. Seit 2022 findet DOXS RUHR unabhängig von der Duisburger Kinder- und Jugendsektion an sechs Standorten im Ruhrgebiet statt.

 
 
Quellen:

News: Applaus, Applaus: KinoForYaurr. In: doxs-ruhr.de, 30.10.2023. Abrufbar unter www.doxs-ruhr.de (letzter Zugriff: 16.11.2023)

Pressemitteilung: Reale Krisen und virtuelle Realitäten: Filme zu Klima, Krieg und KI bei DOXS RUHR. In: doxs-ruhr.de, 21.08.2023. Abrufbar unter www.doxs-ruhr.de (letzter Zugriff: 16.11.2023)

Programm: Programm. Round About Realities | DOXS RUHR N°11. In: doxs-ruhr.de. Abrufbar unter www.doxs-ruhr.de (letzter Zugriff: 16.11.2023)