„Die kontextbezogene Prüfung ist die wichtigste Errungenschaft der FSF.“

Christina Heinen im Gespräch mit Jürgen Grimm

Dr. Jürgen Grimm ist Professor i. R. am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien sowie Mitglied des Kuratoriums der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF). Er forscht seit 30 Jahren zu Fernsehgewalt. mediendiskurs sprach mit ihm über die Entwicklung der Bewertungspraxis und aktuelle Herausforderungen für die Einschätzung von Wirkungsrisiken durch politischen Extremismus, Rassismus und Frauenfeindlichkeit.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 2/2024 (Ausgabe 108), S. 10-13

Vollständiger Beitrag als:

Wenn Sie zurückblicken auf 30 Jahre FSF: Welche großen Entwicklungslinien bzw. Veränderungen hinsichtlich der Annahme von Wirkungsrisiken zeichnen sich ab?

Es gibt einen institutionellen und einen inhaltlichen Aspekt hinsichtlich der Bedeutung von Wirkungsprognosen für die Spruchpraxis. In institutioneller Hinsicht konnte die FSF sich an der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) orientieren, die auch als Selbstkontrolle konzipiert ist, allerdings mit staatlicher Beteiligung in Gestalt von Vertreter*innen der Obersten Landesjugendbehörden, die als Prüfer*innen in den Ausschüssen mitwirken. Im Rückblick auf die 30 Jahre funktioniert das Modell der Selbstkontrolle ohne unmittelbare Beteiligung des Staates viel besser, als wir das zunächst erwartet haben. Einfach weil die ökonomische Komponente nicht unbedingt im Widerspruch steht zu den Schutzüberlegungen. Die Sender kontrollieren sich gewissermaßen gegenseitig, um dem Konkurrenten keinen Wettbewerbsvorteil durch Nichtbeachtung von Jugendmedienschutz zu verschaffen. Sie sind im Übrigen an der Kalkulierbarkeit der Prüfrisiken interessiert und fördern daher unter Umständen auch die Verwissenschaftlichung der Prüfpraxis, um so schon in der Produktion der Kommunikate vermeiden zu können, dass ein Film nicht antragsgemäß von den FSF-Ausschüssen bewertet wird.
 


Die kontextbezogene Prüfung ist die wichtigste Errungenschaft der FSF, weil die Wirkungen nicht nur von Bildinhalten wie Blut- und Sexszenen abhängen, die in der Frühphase der FSK im Vordergrund standen, sondern von der Art und Weise der Darstellung und ihrer dramaturgischen und inhaltlichen Einbettung im Film.“



Die kontextbezogene Prüfung ist die wichtigste Errungenschaft der FSF, weil die Wirkungen nicht nur von Bildinhalten wie Blut- und Sexszenen abhängen, die in der Frühphase der FSK im Vordergrund standen, sondern von der Art und Weise der Darstellung und ihrer dramaturgischen und inhaltlichen Einbettung im Film. Diese Kontextualisierung kann der FSF quasi gutgeschrieben werden und hat sich als Allgemeingut in der Jugendschutzpraxis durchgesetzt. Die kontextabhängige Filmprüfung erlebt allerdings aktuell einen Rückschritt durch den zunehmenden Einsatz von automatisierten Verfahren, die Schwierigkeiten haben, Kontexte wie Ironie, nachfolgende Angstminimierung oder dramaturgische Einbettung in einen Happy-End-Verlauf angemessen zu berücksichtigen. Gewaltdarstellungen haben aber keinen generalisierbaren, einheitlichen Effekt, z. B. im Hinblick auf unterstellte Imitationseffekte. Vielmehr hängt das potenzielle Risiko der Wirkung auf zuschauende Kinder und Jugendliche stark von den Kontextbedingungen im Film ab. In der Kommunikationswissenschaft würde man sagen, das Framing der Gewaltdarstellung ist entscheidend dafür, wie ich die Gewalt verarbeite. Empirische Untersuchungen haben außerdem gezeigt, dass Gewalt-Modelle nicht in erster Linie vom Täterstandpunkt aus erlebt oder gar imitiert werden, sondern die Verarbeitung des Opferstandpunktes die primäre Form der Rezeption darstellt, die von vielfältigen Bedingungen im Film sowie von der sozialen Situation und der Persönlichkeit des Rezipienten beeinflusst wird. Das heißt, Menschen sind in erster Linie nicht (Gewalt‑)Täter, sondern Fluchtwesen – sie haben ihre Überlebenswahrscheinlichkeit dadurch verbessert, dass sie auf Gefahrensituationen reagieren konnten. Die Emotion Angst hat zunächst einen abschreckenden Effekt bezüglich einer Gewaltausübung und leitet das „negative Lernen“, d. h. das Vermeidungsverhalten an. Angst kann aber auch selbst zum Wirkungsrisiko werden.

Sie haben wiederholt darauf hingewiesen, dass Angst und Gewaltbefürwortung als Wirkungen keine Gegensätze sein müssen, sondern dass sich bei manchen Menschen ein „Robespierre-Affekt“ einstellen kann, d. h., dass Angsterleben in Folge von Gewalt dazu führt, dass man überbordende, vollkommen unmäßige Gegengewalt befürwortet, man denke an das Genre der Rape-and-Revenge- Filme, oder auch an

Die Wirkungsforschung kann keine sichere Prognose darüber abgeben, wie etwas im Einzelfall wirkt, sondern klärt empirisch, welche Inhalte und Kontexte welche Wirkungen wahrscheinlich machen. Angsterzeugende Gewaltdarstellungen sind oftmals, aber nicht immer unbedenklich im Hinblick auf gewaltbefürwortende bzw. ‑fördernde Wirkungen. Es gibt einerseits eine Grundbasis, die etwas mit unserer biologischen Grundausstattung zu tun hat, und es gibt andererseits Modifikatoren, die die Grundverarbeitung verändern. Und dazu gehört der „Robespierre-Affekt“. Das ist eine von Empörung geleitete Aggressionsvermittlung, aus der heraus Angst als Wirkungsrisiko in Bezug auf Gewalt dargestellt werden kann.

Angst bei der Gewaltdarstellung zu empfinden, heißt also nicht immer, dass eine Gewaltbefürwortung ausgeschlossen werden kann, sondern beides kann zusammen auftreten?

Richtig. Das ist vom Kontext im Film abhängig und auch von den Dispositionen, die die Rezipienten mitbringen. Wenn eine übermäßige Opferidentifikation stattfindet, die durch moralische Empörung ohne weitere Kommentierung nahegelegt wird, finden Aggressionseffekte statt, die sich vor allem gegen die Täter der Gewalt richten. Das wäre dann ein Beispiel für den „Robespierre-Affekt“, der Selbstjustiz-Einstellungen stärkt, wenn sie nicht vom Happy End (z. B. siegreicher Polizei) aufgefangen werden. Grundsätzlich müssen wir realistisch bleiben – mit dem zentral organisierten Jugendschutz kann man nicht irgendwelche Einzelwirkungen steuern, sondern bestenfalls Wirkungswahrscheinlichkeiten eingrenzen.

Wie kann eine sinnvolle Verzahnung von Wissenschaft und Jugendmedienschutz aussehen?

Das ist auch eine Innovation gewesen, die durch die FSF ausgelöst wurde. Die FSK, die in vielerlei Hinsicht die Startrampe für den Jugendmedienschutz in Deutschland war, ist von einem Repräsentationsmodell ausgegangen. Es wurde überlegt, welche gesellschaftlichen Gruppen zusammengebracht werden müssen, die eine „kollektive Intelligenz“ mobilisieren sollten, um den Jugendschutz gesellschaftsfähig zu machen und von staatlicher Zensur abzugrenzen. Bei den Prüfgruppen kann man aber nicht unbedingt davon ausgehen, dass die Gesellschaft insgesamt repräsentiert wird. Organisatorisch sind sie im Übrigen sehr teuer und werden mittlerweile in der FSK durch eine Vielzahl von Einzelprüfungen ergänzt. Die Frage ist auch, ob sich im Diskurs (innerhalb der Gruppe) etwas Sinnvolles deduzieren lässt, was Fortschritt darstellt. Für mich gibt es deshalb Grenzen des Repräsentationsmodells. Die wissenschaftliche Basis ist entscheidend dafür, dass ich Wirkungsrisiken bewerte und evidenzbasiert zu einer abgewogenen Entscheidung kommen kann. Hierzu benötige ich wissenschaftlich aufgeklärte und kompetente Filmprüferinnen und ‑prüfer, nicht in erster Linie Vertreter:innen von Gruppen und Organisationen.
 


Die wissenschaftliche Basis ist entscheidend dafür, dass ich Wirkungsrisiken bewerte und evidenzbasiert zu einer abgewogenen Entscheidung kommen kann.“



Durch die Verwissenschaftlichung ist eine Rationalitätsverbesserung eingetreten. Für die Sender hat die Verwissenschaftlichung zu einer größeren Planungssicherheit (vor allem im Produktionsprozess) geführt. Das stärkt das Konzept der Selbstkontrolle. Mit einem Code of Conduct haben FSF und Jugendschutzbeauftragte der Privatsender in den 1990ern und nach der Millenniumswende im Hinblick auf die seinerzeit grassierenden Nachmittagstalkshows wesentlich zu einer Bereinigung im Sinne einer größeren Sozialverträglichkeit beigetragen. Es war der Versuch, wissenschaftliche Kriterien, die für die Prüfpraxis entscheidend sind, zu verallgemeinern und diese den Produzenten an die Hand zu geben. Das ist sehr effektiv und viel tiefgreifender, als es mit einer staatlichen Überprüfung möglich wäre, da diese in der Regel ex post passiert.

In welchen Teilgebieten im Jugendmedienschutz lässt sich künstliche Intelligenz Ihrer Meinung nach sinnvoll einsetzen?

Fangen wir vielleicht an mit automatisierten Verfahren der Detektion. Das sehe ich kritisch: z. B. problematische Einzelszenen anhand äußerlicher Merkmale zu identifizieren – da laufen wir Gefahr, wieder in die 1950/60er-Jahre zurückzufallen, als Jugendschutzrelevanz an einzelnen Gewalt- und Sexszenen festgemacht wurde. Dieser verengte Blick auf Filme und ihre Wirkung wurde durch die kontextbezogene Prüfpraxis überwunden. Eine differenzierte Betrachtung lässt sich leider nicht in gleichem Maße automatisieren wie die Detektion bestimmter Darstellungsinhalte. Die Qualität des Jugendschutzes hängt aber ganz wesentlich von dem Prinzip der kontextabhängigen Prüfung ab. Klar, das ist mit Aufwand verbunden! Mit dem Aufkommen automatisierter Verfahren läuft die kontextabhängige Prüfung Gefahr, angesichts der Flut neuer Inhalte im Internet ins Hintertreffen zu geraten. Aber ich erwarte da im Moment auch keine Wunder von der KI oder eine schnelle flächendeckende Einführung. Ich sehe nicht, dass kontextgebundenes Prüfen von einer automatisierten Technik zufriedenstellend umgesetzt werden kann. Das ist nicht möglich. Da werden KI-Kreatoren auch ganz schmallippig, wenn sie erklären sollen, wie sie den Kontext operationalisieren wollen. Es müsste erst einmal für einen bestimmten Zeitraum unter kontrollierten Bedingungen geprüft werden, ob und gegebenenfalls wo die KI ein valides Ergebnis erzielt und wo nicht. So lange müsste alles doppelt geprüft werden in einer Parallelführung von klassischer Prüfung und KI-gesteuerter Prüfung, um die Grenzen auszuloten.

KI wird sicherlich nicht ganz aus dem Jugendschutz fernzuhalten sein, aber ich glaube, dass wir im Moment in der ganzen Euphorie, die dieses Thema mit sich bringt, oder auch bei den Befürchtungen, die damit einhergehen, die realitischen Möglichkeiten noch nicht richtig sehen. Daher ist es wichtig, Einrichtungen wie die FSF mit der entsprechenden Prüfpraxis im klassischen Sinne zu erhalten und Grundlagenprojekte zu machen, die immer wieder sicherstellen, dass die Algorithmen, die man für automatisierte Verfahren auflegt, auch tatsächlich qualitätssichernd sind. Und man sollte weiterhin schauen, dass das Wissen, das in 30 Jahren angesammelt wurde, nicht einfach verpufft und irgendwelchen Programmierern überlassen wird, die meistens dann doch nicht die Experten im Jugendmedienschutz sind.

Was sind also aktuell die dringlichen Herausforderungen für den Jugendmedienschutz, nicht nur im Fernsehen? Wo liegen die größten Risiken für Kinder und Jugendliche?

Das habe ich schon seit einigen Jahren kommen sehen, dass es eine Verlagerung von Wirkungsrisiken gibt. An den klassischen Risiken wie Gewaltbefürwortung und Angst wird nicht zu rütteln sein, aber die dritte Dimension, die sozial-ethische Desorientierung war immer als weichere Kategorie konzipiert und kann nicht die gleiche Definitionsklarheit und Anwendungssicherheit haben. Heute haben wir gesellschaftspolitisch gesehen Probleme mit Radikalisierungsprozessen, die meines Erachtens eher unterschätzt werden und manchmal gefährlicher für Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung sind als ein Busenblitzer oder ein gewaltbereiter Superheld im Film.
 


Heute haben wir gesellschaftspolitisch gesehen Probleme mit Radikalisierungsprozessen, die meines Erachtens eher unterschätzt werden und manchmal gefährlicher für Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung sind als ein Busenblitzer oder ein gewaltbereiter Superheld im Film.“



Ein weiteres Stichwort sind Femizide. Hier werden starke Frames gesetzt, die desorientierend wirken können. Im Vorfeld sind sexuelle Desorientierungen angesiedelt, die die „freie“ Verfügbarkeit von Frauen in der Pornografie suggerieren und zu einer habitualisierten Vergewaltigungshaltung führen können. Da hat der traditionelle Jugendmedienschutz noch Luft nach oben, sozialethische Desorientierung besser fassbar zu machen und auf der Grundlage wissenschaftlicher Untersuchungen zu einer klareren Spruchpraxis zu kommen. Probleme in diesem Bereich sind freilich nicht allein durch Jugendmedienschutz zu lösen. Sie sind eine gesellschaftliche Gesamtaufgabe. In diesem Zusammenhang müsste auch geklärt werden, in welchem Verhältnis Wirkungsrisiken im Fernsehen zu denen im Internet stehen. Es macht keinen Sinn, im Fernsehen alles akribisch zu prüfen – und im Internet steht man krisenhaften Entwicklungen hilflos gegenüber.

Die sozialethische Desorientierung ist natürlich auch das Wirkungsrisiko, an dem sich am deutlichsten gesellschaftlicher Wandel zeigt. Denken wir an das Thema „Femizide“ oder auch Rassismus. Es ist ungleich schwerer einzuschätzen und gut begründet eine Entwicklungsbeeinträchtigung zu attestieren.

Ja, das ist richtig. Das ist eine Gratwanderung: auf der einen Seite die sozialethische Desorientierung stärker auszudifferenzieren und auf bestimmte zentrale Themen hin zu fokussieren. Auf der anderen Seite sind sozialethische Entwicklungsbeeinträchtigungen sehr vielfältig und derzeit auch noch schwer nachweisbar. In der Folge sind sie hoch umstritten. Hier hat die Operationalisierung in der Prüfpraxis noch nicht das Maß erreicht, das wir für valide Bewertungen benötigen. Schon gar nicht können wir das getrost einer KI überlassen. Da muss ganz klar Zurückhaltung geübt werden.

Natürlich sind mit manifest bzw. latent rassistischen Filminhalten Wirkungsrisiken verbunden, die unter Umständen stärker entwicklungsbeeinträchtigend sind als beispielsweise eine Blutszene, die zu kurzzeitigen Irritationen führt. Das kommt mir heute viel „harmloser“ vor als Themenfelder wie fremdenfeindliche Ressentiments oder auch antidemokratische Aussagen (z. B. unzureichender Minderheitenschutz oder Herabwürdigung von Frauen) in Filmen und noch mehr im Internet, die zur Radikalisierung und Polarisierung von Kindern und Jugendlichen beitragen können. Allerdings wird die Debatte zurzeit sehr ideologisch geführt. Oftmals gehen biologisch argumentierende mit soziologischen Vorurteilszuschreibungen durcheinander: So ist „Ausländerhass“ qualitativ verschieden von „Rassismus“ und „Sexismus“, die historisch auf eine biologistische Weltsicht rekurrieren und Abwertungsurteile an rein körperlichen Merkmalen festmachen. Begriffe wie „Rassismus“ und „Frauenfeindlichkeit“ sollten daher zunächst wissenschaftlich definiert werden, bevor man sie in eine verbindliche Prüfungsmethodik überführt. Ich bevorzuge das Konzept der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ von Heitmeyer, Küpper und Zick, die diverse Vorurteilsdimensionen säuberlich trennen.

Man muss das Thema sensibel verfolgen und im Sinne der Ansammlung von Prüfkompetenz in entsprechende anwendungsfreundliche Kriterien fassen, die dann für Schulungspraxen von Prüferinnen und Prüfern genutzt werden können. Dafür nicht zuletzt wird die FSF noch mindestens weitere 30 Jahre benötigt.

Dr. Jürgen Grimm ist Professor i. R. am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien sowie Mitglied des Kuratoriums der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen(FSF).

Christina Heinen ist Hauptamtliche Prüferin in den Prüfausschüssen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).