Die Gewaltdebatte um Computerspiele

Ein Rückblick auf die Diskussion in 25 Jahren „tv diskurs“ und aktuell diskutierte Problemfelder im Kontext digitaler Spiele

Tanja Witting

Dr. Tanja Witting ist Professorin für Kunst und Medien in der Sozialen Arbeit an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften in Wolfenbüttel.

Die Diskussion darüber, ob mediale Gewaltdarstellungen sozialschädliche Auswirkungen haben, hat eine lange Tradition. Insbesondere in Bezug auf digitale Spiele hat diese Frage in den letzten 25 Jahren vielfach zu höchst alarmistischen Diskussionen geführt. Auch die Fachzeitschrift  tv diskurs (seit Mai 2022 mediendiskurs) hat dieser Diskussion Raum gegeben, ohne jedoch alarmistische Impulse zu befeuern. Vielmehr standen Aufklärung über Forschungsergebnisse, Einordnung von Positionen und eine differenzierte Auseinandersetzung mit digitalen Spielen im Fokus der Beiträge.

Online seit 10.11.2022: https://mediendiskurs.online/beitrag/die-gewaltdebatte-um-computerspiele-beitrag-772/

 

 

Der alten Angst vor neuen Medien entgegenwirken: Spielerleben verstehen

Susanne Eichner bemühte sich bereits 2002 um eine differenzierte Analyse der Rezeptionsmotivation und des Rezeptionsvergnügens, das insbesondere mit der Nutzung gewalthaltiger Actiongames einhergeht. Sie hob den Spielcharakter von Games hervor und betonte, wie gut sich diese als Plattform für experimentelles Spielerleben in einem „Als-ob-Raum“ eigneten, bei denen die Fähigkeiten der Spielenden gemäß der Spielregeln auf die Probe gestellt würden. Dabei wies Eichner darauf hin, dass Ego-Shooter im Erleben der Spielenden nicht das Ziel hätten, „andere Menschen umzubringen, sondern eine spezifische Erledigungsmacht zu erlangen“ (Eichner 2002, S. 74). Eine erfolgreiche Aneignung dieser Erledigungsmacht gemäß den Spielregeln gehe mit positiven Gefühlen einher. Diese lustvolle Erfahrung werde in Multiplayer-Action-Spielen zudem noch verstärkt durch eine Komponente der Gemeinschaftsbildung und des Gemeinschaftserlebens (vgl. ebd.).

Dass die Akzeptanz von Spielregeln, die auch virtuelles Töten innerhalb eines „Als-ob-Raums“ beinhalten, nicht als moralische Entscheidung gewertet werden sollte, betonte zudem Hartmut Warkus im Interview mit tv diskurs im Jahr 2007:

Da geht es nicht um Moral. Das hat auch mit dem realen Leben nichts zu tun, denn der Spieler weiß jederzeit, dass er ein Spiel spielt“ (Warkus in Gottberg 2007a, S. 43).

Im gleichen Jahr setzte sich Jürgen Fritz in tv diskurs mit dem Verhältnis von „realer Welt“ und „virtueller Welt“ im Erleben der Spielenden auseinander: „Computerspiele […] sind zwar auch (in ihrer Form als Ware) Teile der realen Welt, ihre wesentliche Funktion (für den Nutzer) ist es jedoch, ein spielerisches Geschehen zu ermöglichen, in das Menschen handelnd eintauchen können, wobei dieses Handeln auf die virtuelle Welt begrenzt bleibt“ (Fritz 2007, S. 35). Fritz beschrieb digitale Spiele als „Wunschwelten nach Wahl“ (ebd.), die jederzeit betreten und wieder verlassen werden könnten. Während des Aufenthalts in der virtuellen Spielwelt könnten Ich-Grenzen ausgedehnt und vielfältige Rollen ausprobiert werden. Gleichwohl hätten sich Spielende dabei immer auch den zugrundeliegenden Spielregeln und ‑dynamiken zu unterwerfen.

Der Frage nach der Wirkung der vielfach besonders populären gewalthaltigen Games stellte Fritz die Frage nach der Ursache für deren Beliebtheit voran. Eine Antwort sah Fritz in der kulturellen Entwicklung zur Gewaltvermeidung: Gewaltimpulse und Gewaltfantasien verlagerten sich in mediale Welten, was durchaus der kulturellen Erwünschtheit entspreche. Die Gefahr, dass diese Impulse dort eine Verstärkung erfahren und sich als Gewalthandlungen in der realen Welt entladen, sah Fritz nur in sehr spezifischen Einzelfällen als gegeben: „Bei problematischer Persönlichkeit, ungünstiger Lebenssituation und damit korrespondierende medialen Präferenzen kann sich das aggressive innere Milieu so ‚hochschaukeln‘, dass es zu aggressiven Handlungen kommt. Mit anderen Worten: Aggressiv anmutende Medienangebote machen (für sich gesehen) nicht aggressiv, sondern fügen sich verstärkend in einen Wirkungskreislauf ein, der im Wesentlichen von der Persönlichkeit, der Lebenssituation und den darauf bezogenen medialen Präferenzen bestimmt wird“ (Fritz 2007, S. 39).
 

 

Ergebnisse der Medienwirkungsforschung vermitteln

Nun sind subjektives Spielerleben das Eine und Hypothesen zur Medienwirkung durch einzelne Forschende das Andere. Der Wissenschaftsbereich der Medienwirkungsforschung beschäftigt sich seit vielen Jahren auch mit der möglichen Wirkung violenter Games. Entsprechend wurden immer wieder auch aktuelle Ergebnisse der Medienwirkungsforschung in tv diskurs publiziert:

Michael Kunczik und Astrid Zipfel haben in ihrem wissenschaftlichen Wirken der Erforschung der Wirkung medialer Gewalt stets einen großen Raum eingeräumt und regelmäßig die jeweils aktuellen Ergebnisse von Wirkungsstudien zusammengetragen. In Hinblick auf die mögliche Wirkung violenter digitaler Spiele präsentierten die Autor:innen 2006 in tv diskurs die vielfältigen Einflussfaktoren, die die Wirkung violenter Games mitbestimmen können. Die oft diffusen Ängste, dass digitale Spiele wirkmächtiger sein könnten als andere Medien, beleuchteten sie, indem sie medienspezifische Charakteristika benannten, die negative Effekte begünstigen könnten: Hier fanden die Aktivität und Aufmerksamkeit der Spielenden im gewaltgeprägten Setting Erwähnung sowie die emotionale Wirkung, wenn Gewalt im Spiel entweder belohnt oder zumindest spielintern nicht bestraft wird und dies zudem unter Bedingungen hoher Kontinuität stattfindet, die Einübungseffekte begünstigen könnten (vgl. Kunzcik/Zipfel 2006, S. 64 f.).

Zugleich stellten die Autor:innen heraus, dass die Befundlage zu den tatsächlichen Wirkungen keineswegs so eindeutig ist, wie die zuvor genannten Charakteristika vermuten lassen. So haben Experimentalstudien zwar belegt, dass violente Games zur Beschleunigung des Pulses und Erhöhung des Blutdrucks führen können – allerdings muss eine erhöhte körperliche Erregung nicht zwangsläufig zu aggressivem Verhalten führen. Ähnliches gilt für aggressive Kognitionen, die nachweislich ebenfalls durch gewalthaltige digitale Spiele gefördert werden können. Die Förderung aggressiver Emotionen – so die Auswertung von Studien – scheint eher durch Frustrationserlebnisse im Spielprozess als durch Spielinhalte befördert zu werden. In Hinblick auf die Förderung konkreter aggressiver Verhaltensweisen erwies sich die Studienlage im Jahr 2006 als uneindeutig: Die einen finden Hinweise, die anderen nicht (vgl. ebd., S. 65 f.).

Neben Wirkungseffekten wurden im gleichen Artikel auch übergeordnete Wirkungstheorien vorgestellt sowie auf weitere Einflussfaktoren wie Personenvariablen, situative Einflüsse und spezifische Inhaltsmerkmale verwiesen, wobei – so das Fazit der Autor:innen: „Der Computerspielforschung fehlt es noch an geeigneten theoretischen Erklärungskonzepten und an einer genaueren Bestimmung der möglichen Wirkungsprozessen zugrundeliegenden Mechanismen. Hinzu kommen z. T. gravierende Mängel im Forschungsdesign der vorliegenden Studien“ (ebd., S. 68 f.).

Diese Mängel waren auch in den 2010er-Jahren noch nicht vollkommen ausgemerzt und nicht alle Desiderate bezüglich der theoretischen Konzepte erfüllt, als Michael Kunzcik sich in tv diskurs erneut mit der Frage der Wirkung gewalthaltiger Computerspiele beschäftigte. Zudem galt es, sich im Kontext der Wirkungsforschung auch mit den technischen Veränderungen der digitalen Spielangebote auseinanderzusetzen: Zum Wirkungspotenzial von Virtual-Reality-Spielszenarien bei violenten Games lag damals keine konsistente Befundlage vor – ein Zustand der sich bis heute kaum geändert hat. Doch schon damals stellte Kunczik richtig heraus, dass intensives Präsenzerleben – wie es durch Virtual-Reality-Spielszenarien begünstigt wird – mit einem stärkeren gewaltsteigernden Effekt einhergehen kann. Präsenzerleben ist jedoch nicht zwingend durch Virtual-Reality-Spielszenarien gegeben, sondern kann sich auch besonders stark einstellen, wenn eigene Spielfiguren kreiert und gemäß persönlicher Entscheidungen weiterentwickelt werden können (vgl. Kunczik 2012, S. 73 f.). Unabhängig vom Gewaltgehalt kann Gaming zudem unter Wettbewerbsbedingungen und bei spielbedingter Frustration die Aggression der Spielenden erhöhen (vgl. ebd., S. 76). Trotz Identifizierung dieser Aspekte hat Kuncziks Fazit aus dem Jahr 2013 noch heute Gültigkeit:

Wirkungsprozesse sind nicht auf einfache Formeln reduzierbar. […] Einfache, allgemein einsichtige Aussagen, die schlichte Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge behaupten, sind mit Sicherheit falsch“ (Kunczik 2013, S. 64).  


Kontroversen Raum geben

Gerade die Komplexität möglicher Wirkungsprozesse begünstigte es, dass einzelne Akteuer:innen im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs bestimmte Aspekte im Wirkungsgefüge fokussierten und als dominant herausstellten: Anstelle eines abwägenden „Es-kommt-darauf-an“ wurde anderorts vielfach auf den denkbar negativsten Wirkungsverlauf verwiesen und Alarmismus als Grundhaltung etabliert, wie Alexander Grau 2007 in seiner Auseinandersetzung mit zwei Forschungsberichten über Computerspiele herausstellte (vgl. Grau 2007). Diese Tendenzen, die immer wieder den Diskurs um die Wirkung von violenten Games mitbestimmten, fanden entsprechend auch eine Abbildung in tv diskurs; allerdings wurde Studien, die einseitige oder verkürzte Wirkungszusammenhänge behaupteten, nicht unkommentiert Raum überlassen, sondern sie wurden durch weitere Studien ergänzt oder direkt kommentiert:

So war es bspw. 2006 bei der Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen zu Medienkonsum, Schulleistungen und Jugendgewalt, die dominant den Zusammenhang zwischen der Nutzung gewalthaltiger Medien, schlechterer Schulleistung und aggressiven Verhaltensweisen im Alltag mittels korrelationsstatistischer Methoden herausstellte (vgl. Pfeiffer/Kleimann 2006). Im gleichen Heft nahmen Gerhild Nieding und Peter Ohler Stellung zu dieser Studie und kritisierten Vorgehen und Schlussfolgerungen: „Das zumindest implizit zugrundeliegende Argumentationsmuster von Pfeiffer und Kleimann lässt sich wie folgt zusammenfassen: Medien im Kinderzimmer, die ein bestimmtes Mediennutzungsmuster verursachen, sind über eine kausale Kette für erhöhte Jugendkriminalität verantwortlich. Dieses suggerierte Bild einfacher Kausalverhältnisse wird jedoch dem Bedingungsgeflecht von Variablen, das aggressivem Verhalten von Jugendlichen zugrunde liegt, nicht gerecht“ (Nieding/Ohler, S. 50). Sie verwiesen darauf, dass die korrelationsstatistisch gewonnenen Daten nicht kausal interpretiert werden dürften: Aus dem gefundenen Zusammenhang zwischen Mediennutzungsdauer und Schulleistung könne nicht geschlussfolgert werden, dass der Medienkonsum verantwortlich ist für die schlechteren Schulleistungen. Genauso gut wäre denkbar – aber von Pfeiffer und Kleimann nicht in Erwägung gezogen: „Wer schlechtere Noten hat, ist frustriert und nutzt in der Folge mehr Medien (Eskapismus ist ein bekanntes Mediennutzungsmotiv)“ (ebd., S. 51). Auch eine Drittvariable könnte den gefundenen Zusammenhang bedingen – wie bspw. der sozioökonomische Status der befragten Jugendlichen und ihrer Familien.

Während Studienergebnisse andernorts oft verkürzt auf die (vermeintlichen) Ergebnisse veröffentlicht wurden, bot tv diskurs immer wieder vertiefte Einblicke in das forschungsmethodische Vorgehen und ordnete dessen Stärken und Schwächen ein.

Kontroversen in Hinblick auf violente Games können jedoch nicht nur durch Wirkungsstudien ausgelöst werden, sondern auch durch politische Initiativen, wie die von Günther Beckstein, der als Innenminister Bayerns nach dem School-Shooting von Emsdetten 2006 ein weitreichendes Verbot gewalthaltiger digitaler Spiele forderte. Auch hier bemühte sich tv diskurs um eine Versachlichung: In dem Beitrag Gewalt in Computerspielen – Grund für (noch) schärfere Gesetze entfaltete Sebastian Gutknecht 2007 nicht nur die bis dato bestehende Rechtslage und gab einen Überblick über die im Raum stehenden Verschärfungsideen, er kommentierte diese v. a. aus juristischer Perspektive. Insgesamt wurde dabei deutlich, dass die damals angestrebte Neuregelung wenig verhältnismäßig erschien und sich auf Wirkungszusammenhänge stützte, die wissenschaftlich nicht belegt waren. Vielmehr boten bereits die damals gültigen Regelungen des gesetzlichen Jugendmedienschutzes ausreichende Eingriffsmöglichkeiten (vgl. Gutknecht 2007).

Dass dem damaligen bayerischen Entwurf tendenziell eher Wertehaltungen als Forschungsergebnisse zugrunde lagen, war typisch für politische Vorstöße dieser Zeit. 2007 führte dies jedoch nicht nur zu Protesten aus der Gaming-Community heraus, sondern auch zu einer Reaktion des Deutschen Kulturrates. Im Interview mit Joachim von Gottberg erörterte Geschäftsführer Olaf Zimmermann, „dass Computerspiele zum Kulturbereich gehören und dass es sich sogar um Kunstwerke handelt, sofern sie eine gewisse Gestaltungshöhe aufweisen. Deshalb hat auch für Computerspiele der Art. 5 GG seine Gültigkeit. Das heißt, dass auch Computerspiele unter dem Schutz der Verfassung stehen und nicht einfach verboten werden können“ (Gottberg 2007b, S. 25). Die Reaktionen, die der Deutsche Kulturrat auf diese Stellungnahme erhielt, waren extrem und brachten „ein unversöhnliches Pro und Contra“ gegenüber der kommunizierten Haltung zum Ausdruck, wie es typisch für die damals meist sehr emotional geführte Debatte um gewalthaltige Computerspiele war. Dabei taugte das Statement des Deutschen Kulturrates nicht zur Vereinnahmung durch eines der beiden Lager, und Olaf Zimmermann betonte in dem angeführten Interview, dass die kulturelle Wertschätzung digitaler Spiele nicht gleichbedeutend sei mit einer Verharmlosung kritischer Inhalte: „Ich finde es absolut richtig, dass wir einen vernünftigen Kinder- und Jugendschutz haben! Doch müssen wir sehr genau darauf achten, was wirklich jugendgefährdend ist und was so problematisch ist, dass es strafrechtlichen Verboten unterliegt. Darüber hinaus ist es Aufgabe des Jugendmedienschutzes, bei den Entscheidungen zu berücksichtigen, inwieweit Kinder und Jugendliche auch darauf vorbereitet werden müssen, mit bestimmten Inhalten umgehen zu können. Das Verbieten von Medien wird uns nicht von der Tatsache befreien, dass Medienkompetenz vermittelt werden muss. Wer glaubt, dass man quasi einen Schutzwall um Kinder und Jugendliche bauen, dass man die Veröffentlichungsregeln so eng setzen kann, dass die Heranwachsenden keine gewaltverherrlichende Musik mehr hören oder keine gewaltverherrlichenden Computerspielemehr spielen – wer das glaubt, wird scheitern“ (ebd., S. 27).
 

 

Gesetzlichen Jugendmedienschutz beleuchten und hinterfragen

Die Möglichkeiten, Grenzen und Herausforderungen des gesetzlichen Jugendmedienschutzes waren immer auch Bestandteil der Debatte um gewalthaltige Computerspiele. Entsprechend beschäftigte sich Thomas Fischer 2008 mit der Frage Jugendmedienschutz – überflüssige Bevormundung oder notwendiger Gewaltschutz?“. In seinem Beitrag zeigte er zunächst auf, dass die gesellschaftliche Mediengewaltdebatte immer auch von der Einführung neuer Medien mitbestimmt wird und konstatierte an den Beispielen der Etablierung von Video, Privatfernsehen und Computerspielen: „Argumente und Vorstellungen über die Wirkung von Gewalt in den entsprechenden Medien wiederholen sich, jedoch wird in jeder Debatte eine neue, noch nie da gewesene Gefährlichkeit konstatiert, welche sich aus den spezifischen Charakteristika des jeweils neuen Mediums ergibt. Weiterhin lässt sich beobachten, dass sich als Folge des öffentlichen Diskurses spezifische Veränderungen im Jugendmedienschutz ergeben wie z. B. die Verschärfung der strafrechtlichen Kontrolle, die Stärkung der Selbstkontrolle durch Gründung einer entsprechenden Institution oder eine Novellierung der Jugendmedienschutzgesetze“ (Fischer 2008, S. 58). In Hinblick auf die Diskussion um violente Games betonte er, dass v. a. School-Shootings und die öffentliche Diskussion über eine mögliche Verbindung zwischen Computerspielnutzung und Gewalttat mögliche Änderungen des Jugendmedienschutzes moderierten und beschleunigten. Er verwies dabei auf das School-Shooting in Erfurt im April 2002 und das Inkrafttreten der Novellierung des Jugendmedienschutzgesetzes im April 2003 sowie auf das School-Shooting 2006 in Emsdetten und die nachfolgende, bereits thematisierte Forderung von Beckstein nach weitreichenden Verboten.

Dabei ist auch der medialen Berichterstattung über die genannten Ereignisse ein großes Gewicht beizumessen: Sie war vielfach nicht vom Bemühen um sachliche Aufklärung bestimmt, sondern arbeitete mit den dramaturgischen Mitteln der Skandalisierung, Emotionalisierung und Vereinfachung – wobei Fehlinformationen insbesondere über Spielinhalte und ‑mechanismen keine Seltenheit waren. In Anbetracht eines derart verzerrten öffentlichen Bildes über gewalthaltige Medien und auch Mediennutzende hatte es die Wissenschaft entsprechend schwer, sich mit ihren Ergebnissen der Medienwirkungsforschung, die eben nicht auf griffige Formeln reduzierbar sind, im öffentlichen Diskurs Gehör zu verschaffen. Für die Entscheidungen und Ausgestaltung des Jugendmedienschutzes stellt die Medienwirkungsforschung jedoch eine wesentliche Basis dar – und fand dann glücklicherweise doch Berücksichtigung. So stellte Fischer heraus, dass es weder 2002 zu der geforderten Indizierung von Counter-Strike noch 2007 zur Einführung des „Killerspiel-Verbots“ kam (vgl. Fischer 2008). Der Trend zur Versachlichung der Gewaltdebatte, der sich in diesen Entscheidungen andeutete, hat sich in den letzten Jahren durchaus fortgesetzt.

Dass die Gewaltdebatte aktuell abgeflacht ist und nicht mehr zentral die Herausforderungen des gesetzlichen Jugendmedienschutzes bestimmt, erklärte Felix Falk 2017 im Interview mit Joachim von Gottberg wie folgt: „Erstens fangen viele Populisten irgendwann an, sich mit der Medienrealität und den Argumenten auseinanderzusetzen. Zweitens sind Eltern, die heute junge Kinder haben, immer häufiger selbst Digital Natives und haben ein größeres Verständnis für Spiele. Drittens: Jeder Zweite in Deutschland spielt heute, Männer wie Frauen, und das Durchschnittsalter liegt bei 35 Jahren – mit steigender Tendenz. […] Damit sind Games zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen geworden. Das trägt zu einer Versachlichung der Debatte bei.“ (Gottberg 2017, S. 77)

Technische Neuerungen, veränderte Vertriebswege und Geschäftsmodelle sowie veränderte Spielmechanismen und Spielkulturen halten jedoch neue Herausforderungen für Jugendmedienschutz, Medienpädagogik, familiale Medienerziehung und v. a. die Spielenden selbst bereit.
 

Aktuell diskutierte Problemfelder im Kontext digitaler Spiele

Zu den aktuellen Herausforderungen, die bereits vor einigen Jahren, die Gewaltdebatte regelrecht verdrängt haben, gehört die Problematik des exzessiven Spielens und die Frage einer möglichen Computerspielabhängigkeit. Bereits 2013 betonte Michael Kunczik, dass exzessives Spielen nicht gleichzusetzen sei mit suchtartigem, pathologischen Spielen: Während Ersteres v. a. von der „Leidenschaft für Spiele(n)“ bestimmt werde, zeichne sich Computerspielabhängigkeit durch die „Dysfunktionalität des Spielens in Bezug auf andere Alltagsbereiche“ aus (vgl. Kunczik 2013).

Im gleichem Jahr wurde das Störungsbild der „Internet Gaming Disorder“ als Forschungsdiagnose in das Manual der American Psychological Association (APA) aufgenommen; 2018 erfolgte die Aufnahme der Computerspielabhängigkeit unter dem Namen „Gaming Disorder“ als eigenständiges Krankheitsbild in den ICD‑11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems). Gekennzeichnet ist Gaming Disorder gemäß ICD‑11 v. a durch drei Aspekte: 1) Kontrollverlust über die Häufigkeit und die Dauer des Spielens, 2) zunehmende Vereinnahmung durch das Spielen und schließlich 3) Fortsetzung oder Steigerung des Spielens trotz negativer Konsequenzen (vgl. WHO o. J.).

Auch wenn die Frage nach der angemessenen Spielzeit in vielen Familien ein sehr präsentes Streitthema ist, so ist die Gruppe der tatsächlich von Gaming Disorder Betroffenen prozentual gesehen eher klein: Eine aktuelle Studie der DAK in Kooperation mit dem Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf verweist auf 4,1 % pathologisch spielende Jugendliche in Deutschland (DAK 2021). So darf davon ausgegangen werden, dass Gaming für die überwältigende Mehrzahl der Spielenden unproblematisch ist. Gleichwohl ist es geboten, auf medienpädagogischer Ebene Präventionsstrategien zu entwickeln, die v. a. abhängigkeitsbegünstigende Personenvariablen und Nutzungsmuster fokussieren und Resilienzen fördern.

Im Sinne des gesetzlichen Jugendmedienschutzes gilt es, mögliche abhängigkeitsbegünstigende Spielvariablen zu identifizieren: Dabei sind v. a. glücksspielähnliche Mechanismen wie Lootboxen und sogenannte Dark Patterns in den Blick zu nehmen, die darauf abzielen, die Selbstregulationsfähigkeiten der Spielenden zu unterlaufen.

Jedoch nicht nur die Bindung an spezifische Spielmechanismen stellt eine aktuelle Herausforderung im Kontext vom Gaming dar, sondern auch die Verbindung mit einer Vielzahl, oft anonymer Mitspielenden: Dass mit den zahlreichen Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten aktueller Onlinegames auch Risikofaktoren einhergehen, betonte Laura Keller bereits 2017 und stellte heraus: Wo online kommuniziert wird, da besteht die Möglichkeit für Cybermobbing und Cybergrooming (vgl. Keller 2017), da können aber auch pornografische, extremistische und antisemitische Inhalte geteilt werden.

Es ist zu beobachten, dass nicht alle an digitalen Spielen Teilnehmende die gleichen Chancen auf ein respektvolles Miteinander haben. Toxisches Verhalten und Hatespeech trifft hier – wie auch in anderen Bereichen der Onlinekommunikation – überdurchschnittlich häufig Menschen, die als weiblich oder queer gelesen werden (Amadeu Antonio Stiftung 2021). Dabei kann sich toxisches Verhalten in Gaming-Communitys durchaus nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für Publisher:innen und Entwickler:innen von digitalen Spielen zum Imageproblem und so zum ökonomischen Risikofaktor entwickeln, da Onlinespiele des Free-to-play-Modells auf eine möglichst große Zahl von Nutzer:innen und damit auf einen regelmäßigen Zulauf neuer Spieler:innen angewiesen sind (vgl. Raczkowski 2021, S. 112). Dies könnte womöglich begünstigen, dass die Games-Industrie zukünftig eher bereit ist, sich stärker im Community-Management zu engagieren, um allen Spielenden eine sichere Teilhabe zu ermöglichen.

Insgesamt können die aktuellen Herausforderungen im Kontext von Games am besten in einem Miteinander von Akteur:innen und Maßnahmen des pädagogischen und gesetzlichen Jugendmedienschutzes unter Beteiligung der Games-Industrie und Aktivierung der Spielenden selbst bearbeitet werden, sodass möglichst vielen Gaming-Interessierten eine sichere, unschädliche Teilhabe möglich wird. Die Fachzeitschrift tv diskurs – seit ihrer 100. Ausgabe im April 2022 mediendiskurs – wird das Geschehen sicherlich auch zukünftig begleiten, indem sie Positionen und Prozesse verdeutlicht und hinterfragt!
 

Quellen:

Amadeu Antonio Stiftung: Unverpixelter Hass. Toxische und rechtsextreme Gaming-Communitys. Berlin 2021. Abrufbar unter: www.amadeu-antonio-stiftung.de

DAK: Mediensucht während der Corona-Epedemie. Ergebnisse der Längsschnittstudie zu Gaming und Social Media. Hamburg 2021. Abrufbar unter: www.dak.de

Eichner, S.: Die Lust am Schießen – Ego-Shooter im Visier. Rezeptionsmotivation und Rezeptionsvergnügen bei computerbasierten Actionspielen. In: tv diskurs, Ausgabe 21, 3/2002, S. 71 – 75. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Fischer, T.: Jugendmedienschutz – überflüssige Bevormundung oder notwendiger Gewaltschutz? In: tv diskurs, Ausgabe 43, 1/2008, S. 56 – 61. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Fritz, J.: Virtuelle Spielwelten und virtuelle Gewalt. In: tv diskurs, Ausgabe 42, 4/2007, S. 34-39

Gottberg, J. v.: Eintauchen in eine andere Welt. Die Moral des Spiels ergibt sich aus den Regeln. Joachim von Gottberg im Gespräch mit Hartmut Warkus. In: tv diskurs, Ausgabe 42, 4/2007a, S. 40-45. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Gottberg, J. v.: Computerspiele sind ein Teil der Kultur. Statt Verboten sollen Förderungen und reise die Qualität heben. Joachim von Gottberg im Gespräch mit Olaf Zimmermann. In: tv diskurs, Ausgabe 42, 4/2007b, S. 24 – 29. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Gottberg, J. v.: Jugendschutz neu denken. Die gegenwärtigen Gesetze scheitern am Mediensystem von morgen. Joachim von Gottberg im Gespräch mit Felix Falk. In: tv diskurs, Ausgabe 79, 1/2017, S. 76 – 81. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Grau, A.: Computerspiele: zwei Forschungsberichte. In: tv diskurs, Ausgabe 42, 4/2007, S. 46 – 49. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Gutknecht, S.: Gewalt in Computerspielen – Grund für (noch) schärfere Gesetze. In: tv diskurs, Ausgabe 42, 4/2007, S. 50 – 53. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Keller, L.: Kommunikation in Onlinespielen. Eine Herausforderung für den Jugendmedienschutz. In: tv diskurs, Ausgabe 82, 4/2017, S. 10 – 13. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Kunczik, M.: Wirkungen gewalthaltiger Computerspiele auf Jugendliche. Teil I. In: tv diskurs, Ausgabe 62, 4/2012, S. 72 – 77. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Kunczik, M.: Wirkungen gewalthaltiger Computerspiele auf Jugendliche. Teil II. In: tv diskurs, Ausgabe 63, 1/2013, S. 60 – 65. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Kunczik, M./Zipfel, A.: Medien und Gewalt. Teil 4: Die Wirkung von Gewalt in Computerspielen. In: tv diskurs, Ausgabe 36, 2/2006, S. 64 – 69. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Nieding, G./Ohler, P.: Henne und Ei – oder etwas Drittes? Ein Kommentar zu Medienkonsum, Schulleistungen und Jugendgewalt von Prof. Dr. Christian Pfeiffer und Matthias Kleimann. In: tv diskurs, Ausgabe 36, 2/2006, S. 48-51. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Pfeiffer, C./Kleimann, M.: Medienkonsum, Schulleistung und Jugendgewalt. In: tv diskurs, Ausgabe 36, 2/2006, S. 42-47. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Raczkowski, F.: Vom epistemischen Überschuss virtueller Welten: Online-Spiele zwischen Ritual, Labor und Sozialexperiment. In: S. Rieger, A. Schäfer, A. Tuschling: Virtuelle Lebenswelten. Körper-Räume-Affekte. Berlin/Boston 2021, S. 105 – 124

WHO:ICD-11. International Classification of Diseases 11th Revision. The global standard for diagnostic health information. 6C51 Gaming disorder. Abrufbar unter: icd.who.int