Die Fieberkurve steigt

Trends der TV-Berichterstattung

Thomas Hestermann

Dr. Thomas Hestermann ist Medienwissenschaftler und Professor für Journalismus an der Hochschule Macromedia in Hamburg und Berlin. Er forscht zu Stereotypen der Berichterstattung.

Eine Langzeitstudie zur TV-Berichterstattung zeigt: Die Zahl der Berichte über Gewaltkriminalität hat ein Allzeithoch erreicht. Im Blick sind dabei vor allem ausländische Tatverdächtige – besonders, wenn es um Messerdelikte geht.

Online seit 25.08.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/die-fieberkurve-steigt-beitrag-772-1/
Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 4/2023 (Ausgabe 106), S. 44-48

Vollständiger Beitrag als:

Eine Gewalttat erschüttert die Republik: Der staatenlose Palästinenser Ibrahim A. (33) greift, so berichten zahlreiche Zeugen, in einem Regionalzug nahe Brokstedt (Schleswig-Holstein) mit einem Messer wahllos sieben Menschen an. Die 17-jährige Ann-Marie K. und ihr Freund, der 19-jährige Danny P., kommen zu Tode, fünf weitere Personen werden teils schwer verletzt. Bundeskanzler Olaf Scholz nimmt am Trauergottesdienst teil und bekundet: „Wir werden niemals akzeptieren, dass so etwas in unserem Land geschieht.“ Der Fall löst eine breite Diskussion auch über ein Versagen der Behörden aus – die hatten sich nicht abgestimmt, als der mutmaßliche Attentäter kurz zuvor aus der Haft entlassen worden war.
 

Kerzen und Blumen am Bahnhof in Brokstedt: „Ein Mahnmal für die schreckliche Tat, die hier am 25. Januar geschah“, melden die KabelEins-Nachrichten am 6. Februar 2023. Ein 33-Jähriger soll hier zwei junge Menschen erstochen haben.


 

Wie berichten Leitmedien über Einwanderung und Kriminalität? Dazu forschen wir seit 2007 – und nie zuvor haben wir in unserer Langzeitanalyse1 so viele Beiträge über Gewaltdelikte in Deutschland erfasst wie 2023. Häufig geht es um Messerangriffe – insbesondere, wenn die Tatverdächtigen ausländische Männer sind. Dabei zeichnen die reichweitenstärksten Fernsehsender und großen überregionalen Tageszeitungen2 ein Bild, das von der Polizeilichen Kriminalstatistik stark abweicht.

81 der insgesamt 645 Beiträge über Gewaltkriminalität im Inland aus vier Kalenderwochen im Januar, Februar, März und April 2023 richten sich auf Straftaten, die mit Messern verübt wurden – also jeder achte Beitrag.
 

Tödliche Messerangriffe sind in den Medien hundertfach überrepräsentiert

Medien berichten vor allem über drastische und seltene Delikte. Dies ist besonders bei Messerangriffen der Fall. In den erfassten Medienberichten sind tödliche Delikte überrepräsentiert: So kommen mehr als die Hälfte der Opfer von Messerangriffen zu Tode – insgesamt 76 von 150 Personen (50,7 %).

Ein Abgleich zwischen Medienwirklichkeit und Kriminalstatistik ist bei Messerangriffen besonders schwierig, denn eine bundesweit belastbare Statistik der Straftaten mit der Tatwaffe Messer gibt es noch nicht, wohl aber Statistiken einzelner Bundesländer. Schaut man sich die Kriminalstatistik der Berliner Polizei an, so wurden in 90 % der insgesamt 3.375 Fälle die Opfer von Messerangriffen leicht oder gar nicht verletzt. 5,2 % wurden schwer verletzt, 0,4 % der Angriffe waren tödlich (13 Personen) (Polizei Berlin o. J.). Der Anteil tödlicher Delikte an der Gewaltberichterstattung ist also mehr als hundertmal so hoch wie in der Polizeilichen Kriminalstatistik.
 

Nennen Medien die Nationalität mutmaßlicher Messerangreifer, sind es fast immer Ausländer

Auffällig ist die mediale Verzerrung bei der Herkunft von Tatverdächtigen. Die Polizeiliche Kriminalstatistik von Nordrhein-Westfalen verzeichnet 2021 bei Messerdelikten einen Anteil von ausländischen Tatverdächtigen von 42,6 %. Die Berliner Polizei meldet für dasselbe Jahr einen Anteil von 51,7 %.3

Doch in den Medien werden deutsche Tatverdächtige bei Messerdelikten fast vollständig ausgeblendet: Von 81 Tatverdächtigen sind 26 ausländischer Herkunft, ein einziger wird als deutsch bezeichnet (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.01.2023). Bei den übrigen Delikten wird die Herkunft nicht genannt oder ist noch gar nicht bekannt. Heißt der Tatverdächtige etwa Siegfried, Jan oder Hartmut, bleibt die Nationalität unerwähnt. So wird Siegfried T. wegen Mordes aus Habgier zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt – er hat eine 89-Jährige mit 16 Messerstichen getötet (hallo deutschland [ZDF, 21.04.2023]); aus verschmähter Liebe sticht der 30-jährige Jan K. eine 15-Jährige nieder (Explosiv [RTL, 08.02.2023]); der frühere Topmanager Hartmut M. ermordet eine Frau, der er zufällig begegnet, mit 23 Messerstichen (Explosiv [RTL, 10.03.2023]). Allesamt Fälle, die keine bundesweiten Debatten entfachen.
 

„Messermigranten“ und „Messerepidemie“: Wie die AfD die Debatte bestimmt

Seit 2017 hat sich die politische Diskussion verschärft. In den Pressemitteilungen der Alternative für Deutschland (AfD) zu Straftaten in Deutschland sind 95 % aller Tatverdächtigen, deren Herkunft genannt wird, ausländisch. Dabei macht die Partei Unterschiede: In den 242 untersuchten Pressemitteilungen stammen die Tatverdächtigen vor allem aus den Hauptfluchtländern Afghanistan, Syrien und dem Irak, russische Tatverdächtige kommen nicht vor (Hestermann/Hoven 2019).

Wortschöpfungen wie „Messermigranten“ oder „Messereinwanderung“ fließen in die Debatte ein. Alice Weidel, die Fraktionsvorsitzende der AfD, spricht im Deutschen Bundestag von „alimentierten Messermännern“4. In einem Tweet des AfD-Bundesverbandes heißt es: „Messerepidemie grassiert!“5 Dies findet sein Echo in Deutschlands auflagenstärkster Tageszeitung: Sechs Tage darauf fragt „Bild.de“: „Was tun gegen die grassierende Messer-Epidemie?“6

Dabei sind solche wörtlichen Übernahmen selten, in den 645 Fernseh- und Zeitungsbeiträgen zu Gewaltkriminalität im Jahr 2023 geht es nur in einem Beitrag um einen „Messermann“ (Bild, 18.04.2023), Begriffe wie „Messermigranten“ tauchen nicht auf. Doch es sind die rechtspopulistischen Auswahlmuster, die vielfach in Leitmedien übernommen werden.
 

Die Herkunft von Tatverdächtigen wird wieder häufiger genannt – aber kaum bei Deutschen

2023 zeigt unsere Analyse eine gegenüber 2021 erhöhte Aufmerksamkeit für die Herkunft von Tatverdächtigen bei Gewaltdelikten. In etwa einem Drittel der Beiträge wird die Herkunft genannt (Fernsehberichte: 29,3 %, Zeitungsberichte: 36,7 %), und dann weit überproportional bei ausländischen Tatverdächtigen (Fernsehberichte: 83,9 %, Zeitungsberichte: 82 %, nach der Kriminalstatistik 2022 beträgt der Anteil 31,5 %). Deutsche Tatverdächtige dagegen werden häufig ausgeblendet, ihr Anteil beträgt in Fernsehberichten mit Herkunftsnennung 16,1 %, in Zeitungsberichten 18 %, in der Kriminalstatistik dagegen 68,5 %.
 

Abb. 1: Fernseh- bzw. Zeitungsberichte mit Herkunftsnennung 2023 und Polizeistatistik 2022

N = 493 Tatverdächtige aus 645 Beiträgen über Gewaltkriminalität im Inland, davon 191 Tatverdächtige aus 269 Fernsehbeiträgen und 302 Tatverdächtige aus 376 Zeitungsbeiträgen (zur Stichprobe siehe Anm. 2). Die Mediendaten aus dem Jahr 2023 werden verglichen mit der Kriminalstatistik aus 2022, da neuere Zahlen der Polizei erst 2024 vorliegen werden.


 

Damit bietet sich 2023 ein insgesamt deutlich pessimistischeres Bild der in Deutschland lebenden Geflüchteten und Eingewanderten. Unsere Analyse der Daten aus dem Jahr 2021 war in mediendiskurs überschrieben mit: Deutschland zwischen Zuversicht und Angst, das Fazit lautete: „Zunehmend wird über die Chancen der Integration informiert“ (Hestermann 2022, S. 51). Nunmehr stehen die Risiken im Vordergrund, vor allem Ausländer unter Gewaltverdacht oder wachsende Probleme bei der Unterbringung von Geflüchteten (Abb. 2).
 

Abb. 2: Wie TV-Beiträge über Menschen ausländischer Herkunft Risiken und Chancen gewichten

N = 217 Fernsehberichte über in Deutschland lebende Menschen ausländischer Herkunft (89 aus 2023, 27 aus 2021, 101 aus 2019) in den Hauptnachrichten und Boulevardmagazinen von ARD, ZDF, RTL, SAT.1, ProSieben, KabelEins, VOX und RTLZWEI aus jeweils vier Programmwochen im Januar, Februar, März und April


Hoffnungsgeschichten wie die von Artem Zaloha sind rar – der 16-jährige Ausnahmefußballer floh erst 2022 vor dem Ukrainekrieg, spricht fließend Deutsch und feiert im Tor des Fußballclubs Arminia Bielefeld den ersten U-17-Meistertitel der Vereinsgeschichte. „Ein Beispiel dafür, wie es besser nicht laufen könnte“, heißt es in den ZDF-Nachrichten (heute [ZDF, 21.04.2023]).
 

ZDF heute Sendung vom 21. April 2023 [Start bei Min. 20:50] (ZDF heute, 21.04.2023)



Anmerkungen:

1) Die Langzeitanalyse der TV-Berichterstattung über Gewaltkriminalität wurde 2007 mit Unterstützung der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) entwickelt, seit 2019 erweitert um überregionale Tageszeitungen und die Berichterstattung über in Deutschland lebende Eingewanderte und Geflüchtete.

2) N = 645 Beiträge über Gewaltkriminalität im Inland, davon 269 Fernsehbeiträge aus den Hauptnachrichten (178) und Boulevardmagazinen (91) von ARD, ZDF, RTL, SAT.1, ProSieben, KabelEins, VOX und RTLZWEI sowie 376 Zeitungsbeiträge aus dem überregionalen Teil der Bundesausgaben von „Bild“ (124), „Süddeutsche Zeitung“ (75), „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (80), „Die Welt“ (53) und „taz die tageszeitung“ (44) aus vier Wochen Januar bis April 2023, Medienanalyse: Hestermann, Hochschule Macromedia, Hamburg, mit Unterstützung der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF)

3) Der Anteil ausländischer Tatverdächtiger ist damit deutlich höher als der Anteil Nichtdeutscher an der Wohnbevölkerung im selben Jahr (rund 20 % in Berlin, 14,2 % in Nordrhein-Westfalen) – und auch deutlich höher als bei anderen Gewaltdelikten (vgl. Ministerium des Innern NRW o. J.; Polizei Berlin o. J., S. 165).

4) Die AfD-Abgeordnete Alice Weidel sagte am 16.05.2018 in der Aussprache zum Etatentwurf 2018 des Bundeskanzleramtes: „Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse werden unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und vor allem den Sozialstaat nicht sichern“ (Deutscher Bundestag 2018).

5) Alternative für Deutschland: „Unzählige neue Fälle in den letzten Tagen! Messerepidemie grassiert!“ (Twitter, 12.03.2018)

6) „Bild“ titelte am 18.03.2018: Bis zu 300 Prozent mehr Angriffe. Messer-Angst in Deutschland.

 

Literatur:

Deutscher Bundestag: Geschäftsordnung. Weidel-Einspruch gegen Ordnungsruf mit 549 Stimmen abgelehnt. In: Deutscher Bundestag, 17.05.2018. Abrufbar unter: www.bundestag.de (letzter Zugriff: 22.08.2023)

Hestermann, T.: Deutschland zwischen Zuversicht und Angst. Trends der TV-Berichterstattung. In: mediendiskurs, Ausgabe 101, 3/2022, S. 51–55. Abrufbar unter: https://mediendiskurs.online

Hestermann, T./Hoven, E.: Kriminalität in Deutschland im Spiegel von Pressemitteilungen der Alternative für Deutschland (AfD). In: Kriminalpolitische Zeitschrift (KriPoZ), 3/2019. Abrufbar unter: https://kripoz.de

Ministerium des Innern NRW: Polizeiliche Kriminalstatistik 2022. In: Polizei Nordrhein-Westfalen o. J. Abrufbar unter: https://polizei.nrw

Polizei Berlin: Kriminalität in Berlin 2021. Polizeiliche Kriminalstatistik und ergänzende Informationen. In: Polizei Berlin o. J. Abrufbar unter: www.berlin.de