„Das Jugendalter ist keine Übergangsphase mehr!“

Christina Heinen im Gespräch mit Klaus Hurrelmann

„Wir sind die, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben“ – mit diesem Slogan der Jugendproteste der 1980er-Jahre kann ein junger Mensch von heute kaum noch etwas anfangen. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern hat sich enorm verbessert, Adoleszenz als Phase der Rebellion scheint auszusterben. tv diskurs sprach mit Dr. Klaus Hurrelmann, Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin und Co-Autor mehrerer Shell Jugendstudien (zwischen 2002 und 2015), darüber, wie sich Pubertät durch das verbesserte Erziehungsverhalten, das harmonisierte Verhältnis zwischen Eltern und Kindern und durch die Allgegenwart von Medien verändert hat.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 3/2018 (Ausgabe 85), S. 40-43

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Jugend ist heute nicht mehr nur eine Lebensphase, sondern ein Ideal, ein Imperativ an alle, jugendlich zu bleiben, offen und flexibel. Jugend als klar umrissene Phase der Lebensgeschichte mit einem Anfang und vor allem auch einem Ende – gibt es das noch? Wie ist Jugend als Lebensphase in Beziehung zu setzen zu Pubertät oder Adoleszenz?

Das Jugendalter beginnt mit der Pubertät, mit der Geschlechtsreife. Für den Beginn gibt es damit ein klares Datum, interessanterweise ein biologisches. Dieses Datum hat sich seit 200 Jahren immer weiter im Lebenslauf nach vorne verschoben. Es liegt heute in Deutschland im Durchschnitt bei 12,5 Jahren, streut aber um sechs Jahre. Das bedeutet, wir haben 9-jährige Mädchen, die schon Jugendliche sind, 10-jährige junge Männer. Das Jugendalter beginnt heute so früh wie noch nie in der menschlichen Lebensgeschichte. Die Auseinandersetzungen mit Körper, Psyche, sozialer Welt, Fremdwahrnehmung – Selbstwahrnehmung und Identität haben sich über die Generationen in dieses zarte Alter von im Schnitt 12,5 Jahren vorverlagert.

Gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen den körperlichen Veränderungen und den psychosozialen Herausforderungen, denen man sich stellen muss?

Ja, daran hat sich nichts geändert. Den Austritt aus der Jugendphase festzulegen, ist schwierig, weil kein biologisches Kriterium herangezogen werden kann. Früher hat man versucht, sich definitorisch mit der Adoleszenz-Krise zu behelfen, d.h. mit der etwa um das 18. Lebensjahr herum eintretenden Beendigung der pubertären Entwicklungsprozesse: einer gewissen persönlichen Reife, nachdem man Krisen, vor allem bei der eigenen Identitätssuche bewältigt hat und ungefähr weiß, welche gesellschaftlichen und beruflichen Interessen das Selbst prägen. Vielleicht war das in der Nachkriegszeit noch ein sinnvolles Konstrukt, mit 18 Jahren einen Einschnitt zu sehen. Heute ist es riskant, das so zu behaupten, da der Übergang in den Beruf sich weit in spätere Lebensjahre verlagert hat. Die jungen Leute, die heute in eine duale berufliche Ausbildung starten, sind im statistischen Durchschnitt 20 Jahre alt. Bei denjenigen, die ein Studium durchlaufen, verzögert sich der Berufseinstieg entsprechend noch mehr. Und studierend sind heute schon 50 % eines Jahrgangs, Tendenz steigend. Die klassische Definition des Austritts aus dem Jugendalter stützt sich auf zwei Biografieereignisse: Übernahme einer Berufstätigkeit mit eigenem Einkommen und Gründung einer Familie. Jedenfalls potenziell. Selbstverständlich gab es schon immer die Möglichkeit, dass man keine Familie gründen konnte oder wollte. Die Spielräume sind heute allerdings größer geworden. Beide Ereignisse treten zunehmend spät im Lebenslauf ein, die Familiengründung noch verzögerter als der Berufseinstieg. Entsprechend ist die Jugendphase lang und manchmal, bei circa 10 % jeden Jahrgangs, ist der Übergang auch gar nicht deutlich erkennbar.

Das sind doch sehr klare Kriterien: Selbst wenn alle jugendlich bleiben wollen, wenn man erst einmal die Berufstätigen- und/oder die Elternrolle übernimmt, dann ist ein Erwachsenendasein erreicht.

Sie sprechen jetzt die Metapher Jugend an. Dass Jugend und Jugendlichkeit zum Ideal geworden sind, hängt damit zusammen, dass das Jugendalter sich so ausdehnt. 15 Jahre sind heute der Durchschnitt. Vom 12. bis zum 27. Lebensjahr dauert bei der Mehrheit das Jugendalter an. Es ist keine Übergangsphase mehr, sondern ein Lebensabschnitt mit eigenen Regeln, in dem man ganz viel ausprobieren kann – und eigentlich auch muss! Die Lebensweisen, die in dieser Lebensphase mit ihrer Unbefangenheit, Spontaneität und Verantwortungsdistanz entstanden sind, prägen einen ganz bestimmten Lebensstil. Dieser Lebensstil der Offenheit, der Flexibilität, des Grundoptimismus, des Experimentierens hat dazu geführt, dass die Jugendphase auch für ältere Menschen ein interessanter Lebensabschnitt bleibt. Er ist allgemein zu einem Paradigma für modernes Leben geworden.

Pubertät wird seit den 1960er-, 1970er-Jahren als eine Zeit der Krise beschrieben, der besonderen Gefährdung im Hinblick auf Sucht, Jugendkriminalität, die Vulnerabilität für psychische Erkrankungen. Gilt das heute noch?

Natürlich. Das ist eine Umbruchphase, bei der der gesamte Körper neu konstituiert wird. Das Gehirn baut sich total um, die Psyche wird neu sortiert, alles ist in Bewegung. Das führt dazu, dass ein junger Mensch entsprechend tastend und sondierend durch die Welt geht, alles Mögliche ausprobiert. Das gehört zu dieser Lebensphase dazu, das macht sie so spannend. Risiken inbegriffen. Ganz klar, ich will meine Grenzen testen, ich will wissen, was passiert, wenn ich eine bestimmte Droge nehme, oder wie Gewaltdarstellung im Fernsehen auf mich wirkt.

Trotzdem wird Pubertät in Familien heute meist nicht mehr so krisenhaft erlebt wie noch vor 20, 30 Jahren. Hängt das mit einem veränderten Erziehungsverhalten zusammen?

Ja. Verglichen mit der Phase der Nachkriegszeit, hat sich nicht nur die Jugendphase verändert, sondern auch die Beziehung zwischen den Eltern und den Kindern. Leute wie ich, die zur sogenannten 68er-Generation gehören, d.h. zwischen 1940 und 1955 geboren wurden, haben ein autoritäres Elternhaus erlebt, das den Kindern Vorschriften machte. Wir wollten so schnell wie möglich da raus, wollten Freiheit, einen eigenen Stil haben. Der Erziehungsstil – geschlagen und drangsaliert werden – war für uns unerträglich. Heute ist die Beziehung zwischen Eltern und Kindern freundschaftlich, sehr liberal, sehr akzeptierend und wir kommen zu der für einen Angehörigen der 68er-Generation überraschenden Konstellation, dass Kinder ihre Eltern wertschätzen. Dass sie sie positiv bewerten, auch das Erziehungsverhalten! Drei Viertel der Jugendlichen finden, dass sie gut erzogen worden sind und dass der Stil, in dem sie erzogen wurden, einer ist, den sie auch für ihre eigenen Kinder aktivieren möchten. Man orientiert sich heute an Mutter und Vater in all seinen Lebensentscheidungen: Bildungsentscheidungen, Berufsentscheidungen, Partnerentscheidungen – immer werden die Eltern gefragt. Keine wichtige Entscheidung, kein wichtiger Schritt ins Leben, ohne Mutter und Vater zu fragen. Es hat sich enorm verändert.

Kann so viel Harmonie zum Problem werden im Hinblick auf Entwicklungsaufgaben der Pubertät – sollte man sich nicht eigentlich lösen vom Elternhaus und eine eigene Identität entwickeln?

Das kann man wohl sagen. Klar, wenn man es pädagogisch bewertet, kommen einem bestimmte Bedenken, weil dieses fürsorgliche Verhalten der „Helikoptereltern“ Spielräume zusammenschrumpfen lässt, Verantwortung nimmt – und somit die Gefahr besteht, dass Jugendliche unselbstständig werden.

Das muss aber wahrscheinlich nicht in jedem Fall so sein …

Nein, und es ist von den Eltern natürlich nicht so gemeint. Die Eltern wollen gute Partner sein, und die jugendlich gewordenen Kinder akzeptieren diese Partnerschaft, das muss man würdigen. Beide Seiten sind damit sehr zufrieden. Die jungen Leute fühlen sich nicht eingeengt, es kommt kein Protest von ihnen gegen die große Fürsorglichkeit, sondern sie finden es sehr praktisch, dass die Eltern so viel für sie tun und so viele Entscheidungen für sie übernehmen. Das muss man zunächst so stehen lassen. Eventuell hat sich die Taktung der Ablösung von den Eltern auch nur zeitlich verändert. Es ist denkbar, dass all diese Ablösungsprozesse ganz sanft später stattfinden und nicht mehr mit der Pubertät zusammenfallen. Darauf deutet einiges hin. Das Ablösen findet statt, aber nicht über die Distanzierung von den Eltern, weder sozial noch psychisch noch räumlich. Oder, falls doch, gibt es diese Distanzierung erst sehr spät im Lebenslauf, teilweise eben erst nach dem 24., dem 27., manchmal auch nach dem 30. Lebensjahr.

Wie haben Medien die Phase der Adoleszenz verändert?

Massiv, weil Medien in diesen 15 Jahren Jugendphase allgegenwärtig sind, praktisch von Kindesbeinen an. Der Freizeitbereich ist neben dem Bildungsbereich das Hauptaktivitätsgebiet von Jugendlichen. Man ist nicht berufstätig, man hat keine Verantwortung für eigene Kinder. Also eine 15 Jahre lange Freistellung von den großen gesellschaftlichen Verpflichtungen, von Erwerbsarbeit und Familie. Dahinein kommt Freizeit. Freizeit ist heute medial und digital, deswegen sind die Jugendlichen von Kindheit an die Experten in dem Bereich.

Ist das ein Bereich, in dem sie ohne die Eltern Erfahrungen machen können?

Wenn man heute nach Rückzugsgebieten für Kinder und Jugendliche sucht, stößt man tatsächlich auf den Bereich der Mediennutzung. Bestimmte Inhalte werden vor den Eltern geheim gehalten oder sind den Eltern so fremd, dass hier in der Tat noch letzte Reste von Abkapselungen möglich sind. Es gibt solche Nischen, und die sind heute nicht mehr auf irgendeinem Schrottplatz oder einem Hinterhof. Die sind heute im Netz, sozusagen im „Darknet“, also da, wo die Eltern nicht mit reingucken können.

Ist es wichtig, dass es solche „elternfreien“ Bereiche gibt?

Ich persönlich halte das für sehr wichtig. Eine Jugendzeit, in der man gar nichts hinter dem Rücken der Eltern machen kann, kann nicht gut für die Entwicklung sein. Was ist das für eine Jugendzeit, wenn überall die Einschätzung der 30 Jahre älteren Menschen ins Spiel kommt? Jugendliche wollen und sollen ihre eigenen Maßstäbe setzen, sie gehören einer neuen Generation an, sie machen völlig andere Erfahrungen, als ihre Eltern sie gemacht haben. Aus meiner Sicht brauchen sie dringend Räume, wo sie unter sich sind!

Teilen Jugendliche ein Lebensgefühl, das sie als Vertreter derselben Generation ausweist? Dass die Schichtzugehörigkeit immer mehr zu einem entscheidenden Merkmal wird, hat die Shell Jugendstudie 2015 gezeigt. Jugendliche aus benachteiligten Milieus blicken pessimistischer in die Zukunft, beurteilen die Erziehungshaltungen ihrer Eltern negativer und wollen seltener eine eigene Familie gründen. Sind andere soziale Distinktionslinien als das Alter heute möglicherweise bedeutsamer im Hinblick auf Einstellungen, Werte, Mentalität?

Die beschriebenen Merkmale gelten für fast 80 % der Jugendlichen, nach der Shell Studie zu urteilen. Für 20 % gilt das nicht. Etwa bei einem Fünftel der jungen Leute ist das Elternhaus nicht intakt. Die Beziehung zu den Eltern ist nicht so wunderbar. Die Eltern haben Selbstorganisationsprobleme, Bildungsprobleme, Finanzprobleme, Integrationsprobleme. Entsprechend haben die Jugendlichen aus diesen Elternhäusern ihre eigenen Probleme: Schulprobleme, Ausbildungsprobleme, soziale Integrationsprobleme. Hier häufen sich auch Probleme mit Kriminalität, Dissozialität und auch Sucht. Das sind die manchmal sogenannten sozial-vulnerablen Gruppen, die sind verletzlich und empfindlich, weil sie nicht das Rüstzeug haben, um sich in dieser offenen und freien Welt zurechtzufinden. Dazu gehört eine starke eigene Persönlichkeit, die Fähigkeit der Selbststeuerung. Ich kann diese wunderbare Jugendphase, die heute möglich ist, nur bewältigen, wenn ich fit bin, wenn ich clever und gut gebildet bin, wenn ich mich in sozialen Systemen bewegen kann und mit Medien souverän umgehe. Bei diesen 20 % ist das alles nicht der Fall, sondern es herrscht ein passiver Medienkonsum vor, man lässt sich wegtreiben von Freizeitangeboten, rutscht eventuell in Suchtgefahren.

Sie gehen von einer klaren Unterscheidbarkeit der Generationen aus – alle 15 Jahre löst nach Ihrem Modell eine Generation die vorhergehende ab, kann man einen Mentalitätswandel feststellen. Lassen sich die Unterschiede zwischen den Generationen tatsächlich so klar bestimmen, und wenn ja, woran liegt das?

15 Jahre sind ein Kunstgriff, es ist natürlich zu mechanisch, davon auszugehen, dass es immer exakt 15 Jahre sind. Aber die Erfahrung zeigt, dass sich nach einer bestimmten Periode von wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung die Bedingungen deutlich verändert haben, und entsprechend sind die Persönlichkeitsimpulse und die Persönlichkeitsentwicklungen dann anders als bei den Alterskohorten davor. Die vor 2000 Geborenen, die Millennials, sind in ihrer Jugendzeit mit politischen, ökonomischen und ökologischen Krisen groß geworden. Sie haben in der Jugendphase eine schwierige Zukunftsperspektive vor sich gehabt, das hat sie geprägt. Gleichzeitig ist zum ersten Mal eine Generation vollständig mit digitalen Medien aufgewachsen, die sie förmlich in sich aufgesogen hat und die für den Charakter prägend waren. Das ist zugleich die fragende Generation, die Generation Y (Why/Warum), daher kommt diese Metapher. Entscheidungen aufschieben, vorsichtig sein, sondieren, tasten, aufpassen, dass man sich nicht zu früh festlegt, weil ja alles offen und ungewiss ist, sich mit den Eltern eng verbünden – das ist ganz stark durch die Bedingungen des Aufwachsens entstanden. Die nach 2000 Geborenen finden hier in Deutschland schon wieder viel bessere Bedingungen vor, brauchen sich um wirtschaftliche und berufliche Perspektiven keine Sorgen mehr zu machen. Entsprechend wird diese Generation wohl entspannter sein, sie wird politischer werden, selbstbewusster sein und sich aktiver als die Generation davor um soziale Belange kümmern. Das zeigen alle Studien, die wir haben. Natürlich ist das noch spekulativ, aber es zeichnet sich bereits ab, sodass wir auch in jüngster Zeit Hinweise dafür haben, dass das Bild der Generationen-„Gestalten“ funktioniert und dass die Lebensbedingungen, das Sein das Bewusstsein bestimmt, um den gerade aktuellen Karl Marx hier mal etwas pauschal zu zitieren.

Dr. Klaus Hurrelmann ist Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin und Co-Autor mehrerer Shell Jugendstudien.

Christina Heinen ist Hauptamtliche Vorsitzende in den Prüfausschüssen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).