Das Ende des Streamings, wie wir es kennen

Oder: Wie Kulturtechniken des Fernsehens Streaming verändern

Lothar Mikos

Dr. Lothar Mikos ist Professor i.R. für Fernsehwissenschaft an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF (Potsdam) und Honorarprofessor für Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt ist die digitale Transformation des Fernsehens.

Wenn es in den vergangenen Jahren in der öffentlichen Diskussion um Streaming ging, war in erster Linie SVoD (Subscription-Video-on-Demand = Bezahlung per Abonnement) gemeint. Dabei konzentrierte man sich auf Netflix, das zum Synonym für SVoD wurde. Eine geschickte Marketing-Strategie des Anbieters, der pro Jahr ca. zwei Milliarden Dollar allein für Marketing ausgibt. Über andere Formen des Streamings wie AVoD (Advertising-Video-on-Demand = kostenfrei, aber mit Werbung bei jedem Abruf) und TVoD (Transaction-Video-on-Demand = individuelle Bezahlung für jeden gestreamten Inhalt) wurde nur am Rande diskutiert. Doch 2023 war plötzlich FAST (Free Ad Supported Streaming = kostenloses, werbefinanziertes Streaming) in aller Munde, zumindest in den Medienfachdiensten. FAST ist der neue Streamingtrend, denn SVoD hat seine Alleinstellungsmerkmale verloren, weil es sich immer mehr den Merkmalen des klassischen Fernsehens angepasst hat.

Online seit 08.01.2024: https://mediendiskurs.online/beitrag/das-ende-des-streamings-wie-wir-es-kennen-beitrag-772/

 

 

Der SVoD-Boom

Der Hype um SVoD begann in Deutschland, als im Jahr 2014 der US-Streaminggigant Netflix und 2018 Amazon Prime Instant Video (heute nur noch Prime Video) auf den deutschen Markt kamen. Diese beiden großen Player liefern sich nicht nur in Deutschland einen harten Kampf um Abonnements. Laut Daten der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle liegen die beiden Konkurrenten in fast allen europäischen Ländern vorn, mit Vorteilen für Netflix. Doch am Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts verschärfte sich mit den sogenannten Streaming-Wars die Konkurrenz, als mit Apple+, Disney+, (HBO) Max, Paramount+, Peacock und RTL+ weitere Plattformen auf den europäischen Markt drängten. Im Jahr 2020 vereinten Amazon, Apple, Disney und Netflix 72 % der 178,9 Mio. SVoD-Abonnements in Europa auf sich (vgl. Europäische Audiovisuelle Informationsstelle 2022, S. 48 f.). Diese Marktdominanz wird mehr als deutlich, wenn man bedenkt, dass es in Europa 923 verschiedene SVoD-Plattformen gibt (vgl. Schneeberger 2023, S. 28).

Die Attraktivität von SVoD liegt vor allem in sechs Alleinstellungsmerkmalen gegenüber anderen audiovisuellen Anbietern: 1) Werbefreiheit, 2) günstige Abo-Preise, 3) Möglichkeit des Binge-Watchings durch Veröffentlichung ganzer Serienstaffeln, 4) die Produktion von exklusiven Original-Inhalten, 5) die Lokalisierung von Inhalten und 6) die Verwendung von Big Data und algorithmischen Empfehlungssystemen.

Inzwischen haben fast alle Anbieter ihre Abo-Preise erhöht, denn dieses Geschäftsmodell hat Konsequenzen: Die Veröffentlichung ganzer Serienstaffeln auf einmal bewirkt einen erhöhten Bedarf an Original-Inhalten, um die es einen verstärkten Wettbewerb gibt. Letzteres zeigt sich auch in den Ausgaben für die Produktion. So hat Netflix im Jahr 2022 16,7 Mrd. Dollar für die Produktion von Original-Inhalten ausgegeben (vgl. Stoll 2023). Von den 16,6 Mrd. Dollar die Amazon 2022 für Videos und Musik ausgab, flossen sieben Milliarden in „Originals“ (vgl. Forristal 2023).

Der Wettbewerb der Streaminganbieter führt zu einer Steigerung der jährlich produzierten Serien. Wurden 2009 noch 210 englischsprachige Serien hergestellt, hatte sich die Anzahl 2015 bereits verdoppelt (420), mit einem Höhepunkt von 599 Serien im Jahr 2022 (vgl. Porter 2023). Die Steigerung der Produktion steht jedoch in einem schlechten Verhältnis zur Steigerung der Abonnementzahlen, die im Vergleich zu den Boom-Jahren nur noch langsam wachsen. Das hat vor allem auch ökonomische Folgen: Die meisten Streamingdienste machen Verluste, auch wenn sie diese im Jahr 2023 verringern konnten.
 

Tabelle 1: Verluste der Streamingplattformen; eigene Zusammenstellung der Daten, die aus verschiedenen Fachdiensten und anderen Quellen stammen wie „Blickpunkt:Film“, „Financial Times“, „Handelsblatt“, „The Hollywood Reporter“, „Television Business International“ und „Variety“.



Für Amazon Prime Video werden leider keine Zahlen ausgewiesen. Der Amazon-Konzern hat allerdings für das Jahr 2022 einen Verlust von 2,72 Mrd. Dollar ausgewiesen (vgl. Amazon 2023). Während das Cloud-Angebot Amazon Web Services in der Bilanz aufgeführt wird, erscheint Prime Video dort nicht als eigenes Segment. Daher gibt es für die Streamingplattform von Amazon kaum gesicherte Zahlen.

Netflix hat im Jahr 2022 einen Nettogewinn von 4,49 Mrd. Dollar verzeichnet. Zugleich drückt den Konzern aber eine Schuldenlast von insgesamt 27,81 Mrd. Dollar. (Vgl. Netflix 2023a) Das hat unter anderem seinen Grund darin, dass Netflix schon sehr früh angefangen hat, die Kosten für die Produktion seiner Inhalte über Anleihen am Kapitalmarkt zu finanzieren. Derzeit (Dezember 2023) sind 36 Netflix-Anleihen mit einem Gesamtwert von 20,78 Mrd. Euro auf dem Markt (vgl. Finanzen.net 2023). Die Zahlen machen deutlich, dass die Anbieter neue Geschäftsmodelle in Betracht ziehen müssen, um die Verluste zu minimieren. Dabei kommt das alte Geschäftsmodell des Fernsehens wie gerufen.
 

Die Anpassung von SVoD an das Fernsehen

Fernsehen hat sich teilweise (öffentlich-recht) oder ganz (privat) über Werbung finanziert. Dazu war es wichtig, Zuschauerzahlen vorliegen zu haben, da danach die Werbepreise gestaltet wurden. Außerdem sortierte sich der Markt nach Erst-, Zweit- und Drittverwertung von Inhalten. Exklusive Inhalte gab es zwar auch, aber es ging vor allem darum, die Sendungen auf so vielen Wegen wie möglich zu vermarkten, um mit ihnen Gewinn zu machen. Sie wurden an andere Anbieter sublizenziert. Diese Praktiken des „alten“ Fernsehens werden nun von den Streaminganbietern wiederentdeckt. Nach und nach werden die oben genannten Alleinstellungsmerkmale des SVoD zugunsten der kulturellen Praxis des Fernsehens abgeschafft oder angepasst. Es können sechs Phasen der Disruption von SVoD-Streaming unterschieden werden: 1) Einführung linearer Angebote, 2) Einführung von Werbung, 3) Erreichen neuer Zielgruppen durch andere Angebote wie Gaming, 4) Sublizenzierung von Inhalten, 5) Veröffentlichung von Zuschauerzahlen, 6) Stärkung von FAST-Angeboten.

Bereits 2020 machte Netflix mit der Einführung eines linearen Angebots in Frankreich Schlagzeilen (vgl. Keslassy 2020). Prime Video folgte mit einem linearen Sportangebot. Parallel stellten Marktforscher fest, dass die Zuwachsraten beim AVoD die von SVoD übertrafen (vgl. Stoll 2022, S. 15). So lag es für Netflix und andere Anbieter nahe, doch vergünstigte Abonnements mit Werbung einzuführen. Netflix kündigte im Herbst 2022 an, ein sogenanntes Basis-Abonnement mit Werbung einzuführen (vgl. Cain 2022). Disney+ integrierte ebenfalls ein Werbe-Abo (vgl. Faughnder 2022). 2023 folgten dann Amazon (vgl. Weatherbed 2023) und Peacock (vgl. Maglio 2023). Netflix erweitere sein Angebot um Games, die über eine App gespielt werden können (vgl. Schwan 2021). Im Frühjahr 2023 kündigten Amazon und Disney an, ihre Original-Inhalte an andere Anbieter zu lizenzieren und folgten dabei dem Modell von HBO (vgl. The Associated Press 2023; Webb 2023). Die Sublizenzierung von Inhalten kann einerseits weitere Einnahmen generieren, andererseits aber auch einer Plattform wie Netflix zu günstigeren Inhalten als den Originalproduktionen helfen.

Am 12. Dezember überraschte Netflix mit der Veröffentlichung von Daten, die indirekt auf Zuschauerzahlen schließen lassen (vgl. Netflix 2023b). Die Angaben erstreckten sich über die erste Hälfte des Jahres 2023. Damit waren sie wenig aussagekräftig, zumal sie aus der Netflix eigenen Währung von gesehenen Minuten bestanden. Bereits 2021 hatte die BARB (Broadcasters‘ Audience Research Board) die Angebote von Netflix mit anderen Angeboten im Vereinigten Königreich verglichen. Dabei wiesen die Forscher für Squid Game eine Zahl von 5,8 Mio. Zuschauern aus, weniger als die sechs Millionen der britischen Kultserie Coronation Street und erheblich weniger als die 10,4 Mio. der Tanzshow Strictly Come Dancing (vgl. BARB 2021).
 

Trailer Squid Game (Netflix Deutschland, 02.09.2021)



Der aktuellste Trend im Streamingmarkt sind die FAST-Kanäle, die große Zuwachsraten verzeichnen. Sie haben sich seit 2018 in den USA mehr als verdoppelt (vgl. Stoll 2022, S. 8). Die Marktanalystin von Statista, Julia Stoll, sieht darin nicht weniger als die Rückkehr des linearen Fernsehens (vgl. ebd.). Pluto TV von Paramount startete bereits 2014. Es folgten vor allem FAST-Kanäle von Fernsehgeräte-Herstellern wie LG Channels 2016 und Samsung TV Plus 2018. 2020 sprangen Peacock und auch Amazon mit Freevee auf den Zug auf. Hinzu kommen Angebote wie Roku, Plex, Sling TV oder Tubi.

FAST-Channels sind gewissermaßen Bundling-Angebote, da sie verschiedene TV-Kanäle verbinden. So umfasst das Angebot von Roku in den USA 490 Kanäle, das von Freevee 427, das von Samsung TV Plus 425 und das von Pluto TV 373 Kanäle, wobei sich die Anzahl seit 2022 bei einigen Anbietern verdoppelt hat (vgl. Bridge 2023). In einer US-Studie gaben 59 % der Befragten an, auf einem FAST-Kanal nach Inhalten zu suchen, wenn sie noch nicht wüssten, was sie sehen wollen (vgl. Aquilina 2023). Bei SVoD sind es 43 % (vgl. ebd.). FAST-Kanäle werden immer beliebter. Sie werden SVoD zwar nicht ganz verdrängen, aber deren Wachstum verlangsamen.
 

Schlussbemerkungen

Der Markt für Streaming ist in Bewegung. Das alte werbefreie SVoD-Modell wird nur für die Abonnenten interessant sein, die es sich leisten können, mehrere Anbieter zu abonnieren. Da mit SVoD momentan wenig bis gar nichts zu verdienen ist, setzen die Plattformen auf die alten kulturellen und ökonomischen Modelle des Fernsehens: Werbung, Angaben zu Zuschauerzahlen, wöchentliches Veröffentlichen von Serienepisoden und Sublizenzierung von Inhalten. Mit den FAST-Channels gewinnt ein mit Werbung finanziertes freies Streamingangebot immer mehr an Popularität. Wenn wir künftig von Streaming sprechen, werden wir neben SVoD auch von AVoD und FAST sprechen müssen, neben Netflix auch von Pluto TV oder Samsung TV Plus. Das Streaming, wie wir es kennen, wird es zwar noch geben, aber es wird nur eins von vielen sein.
 

Literatur

Amazon: Amazon.com Announces Fourth Quarter Results. In: aboutamazon.com, 02.02.2023. Abrufbar unter: ir.aboutamazon.com (letzter Zugriff: 30.12.2023)

Aquilina, T.: Content Discovery is Fueling Love for FAST. In: Variety, 26.09.2023. Abrufbar unter: variety.com (letzter Zugriff: 30.12.2023)

BARB: Barb introduces SVOD and video-sharing platform measurement. In: Barb, 30.11.2021. Abrufbar unter: barb.co.uk (letzter Zugriff: 30.12.2023)

Bridge, G.: FAST Attrition for December. In: The FASTMaster, 17.12.2023. Abrufbar unter: fastmaster.substack.com (letzter Zugriff: 30.12.2023).

Cain, S.: Netflix is introducing a new subscription with ads. Here’s what you need to know. In: The Guardian, 14.10.2022. Abrufbar unter: theguardian.com (letzter Zugriff: 30.12.2023)

Europäische Audiovisuelle Informationsstelle: Yearbook 2021/2022 Key Trends. Television, Cinema, Video and On-Demand Audiovisual Services – The Pan-European Picture. Straßburg 2022. Abrufbar unter: rm.coe.int (letzter Zugriff: 30.12.2023)

Faughnder, R.: The ad-supported Disney+ tier is here. Here’s what to know. In: Los Angeles Times, 08.12.2022. Abrufbar unter: latimes.com (letzter Zugriff: 30.12.2023)

Finanzen.net: Netflix Anleihen. In: finanzen.net. Abrufbar unter: finanzen.net/anleihen (letzter Zugriff: 30.12.2023)

Forristal, L.: Amazon ramped up content spending to $16.6B in 2022, including $7B on originals. In: TechChrunch, 03.02.23. Abrufbar unter: techchrunch.com (letzter Zugriff: 30.12.2023)

Keslassy, E.: Netflix Picks France to Test First Linear Offering. In: Variety, 06.11.2020. Abrufbar unter: variety.com (letzter Zugriff: 30.12.2023)

Maglio, T.: Commercially Viable. You’d Rather Watch Ads Than Pay More for Peacock. In: IndieWire, 30.06.2023. Abrufbar unter: indiewire.com (letzter Zugriff: 30.12.2023)

Netflix (2023a): Letter to Shareholders. Fourth Quarter Earnings 2022. In: Netflix Investors, 19.01.2023. Abrufbar unter: ir.netflix.net (letzter Zugriff: 30.12.2023)

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Porter, R.: Peak TV Climbs Again in 2022, Nearly Reaches 600 Scripted Series. In: The Hollywood Reporter, 12.01.2023. Abrufbar unter: hollywoodreporter.com (letzter Zugriff: 30.12.2023)

Schneeberger, A.: Audiovisual media services in Europe – 2022 Edition. In: Europäische Audiovisuelle Informationsstelle, Januar 2023. Abrufbar unter: rm.coe.int (letzter Zugriff: 30.12.2023)

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Stoll, J.: Going FAST: The return of linear TV. Statista trend report on the rapid rise of free ad-supported streaming TV in the United States. In: statista, Dezember 2022. Abrufbar unter: statista.com (letzter Zugriff: 30.12.2023)

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The Associated Press: Amazon will license original content like ‘Coming 2 America’ and the newest Borat movie to other media companies for the first time. In: FORTUNE, 09.05.2023. Abrufbar unter: fortune.com (letzter Zugriff: 30.12.2023)

Weatherbed, J.: Amazon is sticking ads in Prime Video shows and movies unless you pay more. In: The Verge, 22.09.2023. Abrufbar unter: theverge.com (letzter Zugriff: 30.12.2023)

Webb, A.: Disney Tries to Have It Both Ways with Streaming Business. A return to licensing deals could help stabilize revenue. In: Bloomberg Newsletter, 09.05.2023. Abrufbar unter: bloomberg.com (letzter Zugriff: 30.12.2023)