Bloß nicht ausschalten

Der deutsche Hörfunk wird 100 Jahre alt

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

Am 29. Oktober 1923 hat mit der Funk-Stunde AG Berlin der erste deutsche Hörfunksender seinen Betrieb aufgenommen. 100 Jahre später ist das Radio nach wie vor ein rege genutztes Medium. Allein die verschiedenen ARD-Sender bieten insgesamt über 70 Programme an. Hinzu kommt eine kaum überschaubare Vielzahl an privaten Stationen. Die Rolle des Radios ist heutzutage jedoch eine völlig andere.

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Wir schreiben das Jahr 1954, genauer gesagt: den 4. Juli. Aus dem Hintergrund müsste ein gewisser Helmut Rahn schießen, und das tut er dann auch. Wenige Minuten später ist das Spiel „aus, aus, aus“ und Deutschland Weltmeister. Fußballfans gerade aus jüngeren Generationen mögen den Namen Herbert Zimmermann nicht kennen, sehr wohl aber seine Stimme, weil die entsprechenden Ausschnitte des WM-Finales immer wieder zu hören und zu sehen sind. Was allerdings nur wenige wissen: Bild und Text gehören gar nicht zusammen, denn die Tonspur der Filmaufnahmen ist verschollen; also hat man sich kurzerhand der Hörfunkreportage Zimmermanns bedient.

Damals war das Radio das Leitmedium der Deutschen. Das Fernsehen hatte zwar im Dezember 1952 seinen Regelbetrieb aufgenommen, doch im Sommer 1954 gab es nur rund 40 000 angemeldete Geräte. Ein Radio hingegen stand dank der „Volksempfänger“-Initiative von NS-Propaganda-Minister Joseph Goebbels in praktisch jedem Haushalt. Drei Jahrzehnte nach dem WM-Sieg erreichten Frank Elstner und Thomas Gottschalk mit Wetten, dass…? regelmäßig über 20 Mio. Menschen. Ein großer Teil des Publikums konnte sich damals gut daran erinnern, dass vor nicht allzu langer Zeit noch das Radio das „Lagerfeuer der Nation“ gewesen war.
 

WM Finale 1954 - Rahn schießt - TOOOOOOR !!! (Ammler75, 07.11.2011)



Der klassische Hörfunk, beschreibt Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger die Entwicklung,

wollte eingeschaltet werden, die Menschen suchten sich gezielt aus, was sie hören wollten.“

Das tun sie zwar noch immer, aber in ganz anderer Form: Gerade Jüngere nutzen mit Vorliebe die Podcast-Angebote von Audio-Streamingdiensten wie Spotify. Auch die Audiothek der ARD bietet eine reichhaltige und kaum überschaubare Auswahl. Längst gibt es Podcasts auch für derart kleine Zielgruppen, dass Aufwand und Ertrag mitunter in einem mutmaßlich krassen Missverhältnis stehen.
 

Nur noch ein Hintergrundmedium

Das auf klassischem Weg verbreitete Radio wird zwar nach wie vor umfangreich genutzt, aber laut Hallenberger gibt es einen deutlichen Unterschied zu früher: „Das Radio von heute will in erster Linie nicht ausgeschaltet werden.“ Die meisten Menschen hören ohnehin stets den gleichen Sender; Radio ist zu einem Hintergrundmedium geworden, das nicht weiter stören soll und deshalb auch keine Aufmerksamkeit mehr erregt. Das gilt vor allem für die vor sich hinplätschernden Popwellen, die ihre Musikteppiche mit kleinen Infohäppchen garnieren. Auf diese Weise fühlt sich das Publikum zwar informiert, kann aber weiterhin ungestört seinen Beschäftigungen nachgehen, und das heißt in der Regel: Frühstück, Zähneputzen, mit dem Auto zur Arbeit fahren; der frühe Morgen ist die Primetime des Radios.

Gegen Hallenbergers Devise „Bloß nicht ausschalten“ gibt es jedoch Einspruch. „Das ist mir ein bisschen zu simpel“, sagt Anke Mai:

Wir machen doch kein Durchhalte-Programm, bei dem derjenige einen Orden erhält, der am längsten zuhört.“

Die SWR-Programmdirektorin Kultur, Wissen, Junge Formate bezeichnet sich als „leidenschaftliche Radiohörerin“. Allerdings räumt sie ein, dass sich das Nutzungsverhalten geändert habe: „Jüngere Generationen, vor allem Menschen unter 30, hören weniger Radio und dafür mehr Audio, also gezielt Podcasts und Musikstreams. Aber sie hören auch Radio, als Begleitmedium zum Beispiel im Auto oder zur Information am Morgen.“ Die Vorsitzende der ARD-Audioprogrammkonferenz ist überzeugt, dass es gelingen werde, das Radio ins digitale Zeitalter zu übersetzen: „Die Nutzerinnen und Nutzer werden abhängig von ihren momentanen Situationen entscheiden, ob sie zum Beispiel ein Live-Gespräch hören wollen oder lieber einen vertiefenden Podcast zu einem Thema, das sie gerade in den Nachrichten gehört haben.“

In den 1950-Jahren war das anders, wie Hallenberger beschreibt:

Damals boten Radiosender ein Vollprogramm und für alle Zielgruppen etwas, jedes Genre war vertreten. Abends versammelte sich die Familie um den Empfänger, um gemeinsam ein Hörspiel, eine Quizsendung oder eine Sportübertragung zu hören.“

Als das Fernsehen in den 1960er- und 1970er-Jahren die Position des Leitmediums übernahm, sei das Radio gewissermaßen ins Auto verschwunden: Dank der zunehmenden Automobilisierung wurden Verkehrsdurchsagen immer wichtiger. Was früher im Vollprogramm selbstverständlich war, ist heute in eigene Kultur- und Informationssender ausgelagert worden.
 

Fragmentierung des Musikmarkts

Bis in die 1980er-Jahre, erinnert sich Hallenberger (Jahrgang 1953), „war Musik für junge Menschen außerordentlich wichtig. Der Musikmarkt war allerdings auch ungleich überschaubarer. Mittlerweile ist das Angebot unendlich fragmentiert. Damals kam das Formatradio mit seinen immer enger geführten Playlists auf. Wer heute kuratierte und moderierte Musikangebote jenseits des Mainstreams sucht, wird nur noch in kleinen Internetnischen fündig.“ Als Beispiel erwähnt der Medienwissenschaftler ByteFM. Der private Internetsender verzichtet auf computergesteuerte Musikrotation und bietet stattdessen nach eigenen Angaben „Autorenradio“ und somit auch ausgefallene Stilrichtungen:

Das ist ein ganz entscheidender Unterschied zu den Playlists der Popwellen.“

Angesichts der Sparauflagen für die ARD wird sich in Zukunft kaum noch rechtfertigen lassen, dass jede Landesrundfunkanstalt die gleiche Palette anbietet. Die Popwellen sind ohnehin verwechselbar, zumal gerade im Comedy-Bereich viele Formate zwischen den Sendern ausgetauscht werden. Der Senderverbund steht unter einem hohen Spardruck. Ähnlich wie bei der externen Reformidee für eine Zusammenlegung der dritten Programme wären auch bei den Pop-, Info- und Kulturwellen landesweit einheitliche Angebot mit regionalen Fenstern denkbar; Regionalität spielt bei SWR3, 1LIVE (WDR), NDR 2, MDR JUMP oder hr3 ohnehin nur eine rudimentäre Rolle. Dort, wo es staatsvertraglich erlaubt sei, arbeiteten die Sender schon längst enger zusammen, sagt Mai, etwa in den Nächten. Diese Kooperation werde behutsam ausgeweitet, jedoch

immer mit dem Ziel, die Eigenart der jeweiligen Wellen nicht zu verwässern und die regionalen Schwerpunkte im Blick zu behalten.“

Ein bundesweites Radioangebot sei den Landesrundfunkanstalten allerdings untersagt, dafür gebe es das Deutschlandradio.
 

Lokalradios sind nicht zu schlagen

Im Fernsehen ist Regionalität eine der großen Stärken der ARD, im Hörfunk nicht; hier hat das Privatradio den ARD-Sendern längst den Rang abgelaufen. Lokalpolitik, lokales Wetter, lokale Sportveranstaltungen: Das kann kein öffentlich-rechtliches Angebot bieten, wie auch Mai einräumt, die ausdrücklich betont, das duale System sei „wichtig und hat sich bewährt“. Trotzdem bezeichnet sie Regionalität als „DNA der ARD. Deshalb gibt es die verschiedenen Landesrundfunkanstalten ja. Jedes unserer Hörfunkprogramme berichtet aus der Region, ist regional verwurzelt, kennt die Themen, die die Menschen hier bewegen, und spricht die Sprache der Leute. Aber gleichzeitig blicken wir eben auch auf Deutschland und die Welt. Die unabhängige Information ist ein sehr hohes Gut. Die Menschen vertrauen uns, das belegen die regelmäßigen Umfragen.“ Ein Medium von gestern ist der Hörfunk für Mai trotz des Jubiläums nicht:

Radio hat sich immer weiterentwickelt und lebt auch davon, dass es genau seine Zielgruppe anspricht. Es gibt nach wie vor unschlagbare Vorteile: Nähe, Aktualität, Emotionalität, Wir-Gefühl.“

 

Laut Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse (AGMA) hören hierzulande fast 52 Mio. Menschen jeden Tag unter der Woche Radio; das entspricht 74,1 % der Bevölkerung (Stand: Juli 2023).1 Die ARD-Radiowellen erreichen demnach montags bis freitags insgesamt fast 35 Mio. Hörerinnen und Hörer. Die Kultur- und Infowellen der ARD haben eine werktägige Reichweite von insgesamt gut 7,3 Mio., die privaten Sender kommen den im Juli veröffentlichten Zahlen zufolge auf eine Tagesreichweite von knapp 29 Mio. Hörerinnen und Hörer.2

 

Quellen:

1) ma 2023 Audio II – Aktuelle Kernergebnisse der Konvergenzwährung. In: agma presse info, 12.07.2023. Abrufbar unter: www.agma-mmc.de (letzter Zugriff: 19.10.2023)

2) Pressetabellen zur Berichterstattung. In: ma 2023 Audio II, 12.07.2023. Abrufbar unter: www.radioszene.de (letzter Zugriff: 19.10.2023)

Die Zitate stammen aus Interviews, die der Autor zwischen dem 9. und dem 13. Oktober 2023 mit Gerd Hallenberger und Anke Mai geführt hat.