30 Jahre World Wide Web

Eine Zwischenbilanz

Christoph Neuberger

Dr. Christoph Neuberger ist Professor für Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt „Medienwandel“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Vor 30 Jahren, im März 1989, legte der britische Physiker Tim Berners-Lee den ersten Entwurf für ein Hypertextsystem für das Informationsmanagement am CERN, dem europäischen Kernforschungszentrum in Genf vor. Dies war die Geburtsstunde des World Wide Webs (WWW).1 Das WWW hat das Internet alltagstauglich gemacht und damit die Voraussetzung dafür geschaffen, dass es sich zum massenhaft gebrauchten Medium entwickeln konnte.2 Ein Jubiläum, das die Gelegenheit zum Innehalten bietet: Wo stehen wir? Was ist erreicht, wo sind Erwartungen enttäuscht worden?

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 2/2019 (Ausgabe 88), S. 70-73

Vollständiger Beitrag als:

Der Wandel des Wandels

Die Digitalisierung hat den Alltag der meisten Menschen durcheinandergewirbelt. Eine Erfahrung, die zumindest jene teilen, die ein „Zuvor“ noch kennengelernt haben und sich an jene Zeit erinnern können, als es ausschließlich analoge Medien gab. Was wir seither erlebt haben, ist ein tief greifender Wandel, der selbst neuartig ist: Der Wandel wandelt sich. Lange Zeit entwickelte sich die Medientechnik nämlich recht träge, so erscheint es jedenfalls im Rückblick: Die Einführung eines neuen Mediums bildete jedes Mal einen Einschnitt mit einem klar abgrenzbaren Vorher und Nachher. Solche Zäsuren waren im Fall von Deutschland etwa die Jahre 1605 (die erste Zeitung), 1923 (das Radio geht auf Sendung) und 1935 (das Fernsehen wird eingeführt), als sich das Medienensemble erweiterte. Mittlerweile ist das Auftauchen eines neuen Mediums kein seltenes Ereignis mehr, das eine ganze Generation prägt, die damit aufwächst (so gelten die Babyboomer als die „Fernsehgeneration“ [vgl. Wüllenweber 1994]), sondern der Wandel vollzieht sich längst innerhalb der Zeitspanne einer Generation und wird zum Wandel in Permanenz und in kleinen Schritten. Frühere Erfahrungen taugen daher immer weniger dazu, Erwartungssicherheit zu schaffen. Vielmehr erzwingt der beschleunigte Medienwandel ein dauerhaftes Lernen und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen (vgl. Rosa 2005).
 

Erweiterter Möglichkeitsraum und die Auflösung der alten Ordnung

Was aber wandelt sich durch die digitale Technik? Dafür sind „Konvergenz“, „Miniaturisierung“ und „Dauerverfügbarkeit“ drei Stichworte. Paradigmatisch dafür steht das Smartphone: In einem handlichen Gerät, das die Kommunikation in Raum und Zeit flexibel macht, ist eine Vielzahl an Funktionen gebündelt, die zuvor auf viele separate Medien verteilt waren. Eine vierte Besonderheit besteht darin, dass Software und Hardware nicht mehr fix verbunden sind. Filme auf Netflix und Musik von Spotify können online über unterschiedliche Empfangsgeräte abgespielt werden.
 


Als digitaler ‚Alleskönner‘ vereint das Internet Möglichkeiten wie Partizipation, Interaktion, Vernetzung, Transparenz, Automatisierung, Globalität, Aktualität, Archivierung und Multimedialität.“



Besonders augenfällig ist die Konvergenz im Internet: Als digitaler „Alleskönner“ vereint es Möglichkeiten wie Partizipation, Interaktion, Vernetzung, Transparenz, Automatisierung, Globalität, Aktualität, Archivierung und Multimedialität. Paradoxerweise wird die Technik immer unwichtiger, desto perfekter sie wird. Sie stellt immer weniger ein Hindernis dar. Zu dieser enormen Formbarkeit kommt eine zweite Neuerung hinzu: Das Internet kann von allen Usern mitgestaltet werden. Im Fall von Presse und Rundfunk entscheidet eine kleine Zahl von Politikern, Juristen, Managern, Produzenten und Redakteuren darüber, welche Angebote dafür produziert und darüber verbreitet werden. Das vereinfacht die Steuerung, führt aber auch zu hoch standardisierten, massenattraktiven Programmen. Das technische Potenzial des Internets ermöglicht es dagegen, dass sich die Kommunikationsoptionen erheblich erweitern, zwischen ihnen flexibel gewechselt werden kann und sie sich relativ frei kombinieren lassen. Dass diese Möglichkeiten ausgeschöpft werden, dafür sorgt die breite Beteiligung von Akteuren, die über vielfältige Interessen, Strategien und Ressourcen verfügen. Daraus resultieren die enorme Dynamik und Heterogenität, die Markenzeichen des Internets geworden sind.

Die breite Beteiligung und das fortlaufende Experimentieren unterstützen Facebook, Twitter, YouTube und Instagram. Sie stellen dafür die Werkzeuge bereit. Das, was als „Plattformen“ (vgl. Srnicek 2017) und „soziale Medien“ (vgl. Taddicken/Schmidt 2017) bezeichnet wird, vermischt bislang Getrenntes. Grenzen verschwimmen oder verschwinden gleich ganz: die Trennlinien zwischen großen und kleinen Öffentlichkeiten, Privatheit und Öffentlichkeit, Einzelmedien, unabhängiger Publizistik und interessengeleiteter Werbung, Produzenten und Konsumenten, Mensch und Maschine – um hier nur einige Unterscheidungen aufzuzählen. Dieser Wandel ist auch an Begriffen wie „Entgrenzung“, „Konvergenz“, „Crossmedialität“ und „Hybridisierung“ ablesbar. Sie signalisieren die Auflösung der alten institutionellen Ordnung. Für neue Phänomene haben sich Begriffe eingebürgert wie „Multimedia“, „Information Highway“, „Cyberspace“, „Web 2.0“ oder „Social Media“, die als Buzzwords kommen und gehen.
 

Kontrollverlust und Plattformlogik

Die Begriffsverwirrung spiegelt den Zustand der digitalen Welt wider, in dem sich noch keine neue Ordnung herauskristallisiert hat. Es ergibt sich also eine gemischte Bilanz: Der Zugewinn an Gestaltungsfreiheit wird durch Orientierungsprobleme bezahlt. Damit rückt die Frage in den Mittelpunkt: Wie lässt sich das Handeln einer Vielzahl von Menschen im Kontext „Internet“ koordinieren? Menschheitsgeschichtlich ist es eine völlig neue Möglichkeit, dass nun prinzipiell jeder öffentlich auftreten und potenziell ein großes, globales Publikum erreichen kann – gewollt oder auch ungewollt, zum Guten wie zum Schlechten. Dieses Vermögen ist aber zugleich – anders als in den traditionellen Massenmedien – weitgehend ungeregelt. Dagegen ist der Gebrauch von Presse und Rundfunk durch rechtliche und professionelle Normen geordnet. In liberalen Demokratien verbleibt ein hohes Maß an Medienfreiheit, das dem Anspruch nach stets an die Verantwortung gegenüber Publikum und Gesellschaft gebunden ist (Garton Ash 2016). Außerdem ist die Wirkung von Massenmedien einigermaßen kalkulierbar: Sie entsteht durch den direkten Publikumskontakt, ihre Kausalität ist linear und gut erforscht.
 


Der Zugewinn an Gestaltungsfreiheit wird durch Orientierungsprobleme bezahlt.“



Viel weniger erklärbar ist hingegen die Dynamik der Interaktionen, die in sozialen Medien angestoßen wird und weitreichende Effekte haben kann. Dass sich die Masse spontan zu einer „Schwarmintelligenz“ formiert, ist recht unwahrscheinlich. Schwer nachvollziehbar ist auch das Wirken der Algorithmen, welche die menschlichen Aktivitäten mitbeeinflussen. Das Geschäftsmodell der Plattformbetreiber basiert auf der Sammlung und Analyse von Daten, um Verhaltensprognosen aufzustellen – unter der weitreichenden wie zweifelhaften Prämisse eines „Dataismus“ (Harari 2017), einer Art Datenreligion, wie der israelische Historiker Yuval Noah Harari schreibt. Ihr Credo ist die Annahme, dass menschliches Verhalten und ganze Gesellschaften berechenbar und planbar sind (Pentland 2014). Ein Kollateralschaden ist bereits erkennbar: Das bloße Gewinnen von Aufmerksamkeit, um an den Rohstoff „Daten“ zu kommen, fördert eine „radikale Indifferenz“ gegenüber der Qualität der Informationen, wie Harvard-Professorin Shoshana Zuboff kritisiert (Zuboff 2018). Hier stößt man auf ein paradoxes Zusammenspiel von Partizipation und Automation: Das demokratische Versprechen des Internets auf Emanzipation durch mehr Mitwirkung produziert erst jene Nutzeraktivitäten und Datenspuren, die das Verhalten beobachtbar und steuerbar machen. Im Moment findet eine Art Freilandversuch statt, ein großes Sozialexperiment der Plattformbetreiber, das für Außenstehende wenig transparent ist.

Die Plattformlogik, so viel ist erkennbar, schafft ein falsches Belohnungssystem für den politischen Diskurs. Wer auffallen will, muss pointiert, provokant, aggressiv, negativ und schnell kommunizieren. Ergebnis ist eine Atmosphäre der „großen Gereiztheit“(Pörksen 2018), die so ziemlich das Gegenteil dessen ist, was als Ideal des politischen Diskurses gilt. Dies fördert populistische Kräfte auf der Rechten und Linken, die von Wut, Angst und Abgrenzung profitieren. Für Regelverletzungen lassen sich im Internet erhebliche Prämien einstreichen. So verbreiten sich Falschnachrichten weiter und schneller als verifizierte Meldungen (Vosoughi u.a. 2018).
 


Im Moment findet eine Art Freilandversuch statt, ein großes Sozialexperiment der Plattformbetreiber, das für Außenstehende wenig transparent ist.“



Doch nicht nur ein höherer Aufmerksamkeitswert winkt als Lohn, sondern auch der Beifall der Ängstlichen für die mutigen Regelbrecher (Amjahid 2018). Regeln werden nämlich oft als Zensur und Ausdruck eines repressiven Systems gedeutet. Imaginiert wird eine Art Notwehrsituation, die außergewöhnliche Mittel rechtfertigen soll. Weil in sozialen Medien in vielen Fällen keine „Gatekeeper“ die Qualität prüfen, eröffnen sich auch erhebliche Spielräume für Propaganda. Der in Yale lehrende Osteuropa-Historiker Timothy Snyder zeigt in seinem Buch Der Weg in die Unfreiheit, wie von russischer Seite Demokratien destabilisiert werden (Snyder 2018). So zeichnet er detailliert die Desinformationskampagne im Krieg gegen die Ukraine nach. Damit widerspricht er auch jenen Kritikern, die den deutschen Medien eine antirussische Haltung in der Berichterstattung vorwarfen.
 

Vermittlung und Regulierung

Entgrenzung findet auch bei Internetkonzernen statt: Längst ist Google nicht mehr nur eine Suchmaschine, Amazon ein Buchhändler, Facebook ein soziales Netzwerk, Apple ein Computerhersteller und Microsoft ein Softwareproduzent. Sie expandieren in immer mehr Lebensbereiche und bestimmen dort die Regeln des Zusammenlebens (Dolata 2018). Die traditionellen Vermittlungsstrukturen stehen damit auf dem Prüfstand: Demokratie, Markt und Öffentlichkeit sind drei Mechanismen der modernen Gesellschaft, die das Handeln einer Vielzahl von Beteiligten koordinieren. Zur effizienteren Koordination und weil die „unsichtbare Hand“ oft nicht zum erwünschten Resultat führt, haben sich Vermittlerrollen etabliert, die in der Demokratie zwischen Staat und Bürgern (Parteien, Verbände, soziale Bewegungen etc.), auf dem Markt zwischen Produzenten und Konsumenten (Händler, Marktanalysten etc.) sowie in der Öffentlichkeit zwischen Quellen und Publikum (Journalismus, Bildungseinrichtungen etc.) vermitteln. Diese professionellen Intermediäre erbringen ihre Leistungen für Massendemokratie, Massenmärkte und Massenmedien, wobei sie von der Annahme einer beschränkten Teilnahmefähigkeit und ‑bereitschaft der Bürger, Konsumenten und Rezipienten ausgehen, denen daher standardisierte Angebote gemacht werden.

Die traditionellen Intermediäre werden jedoch überall im Internet infrage gestellt, weil sie dort nicht nur leicht umgangen werden können, sondern den höheren Erwartungen an Partizipation und Personalisierung angeblich nicht gerecht werden. Im Internet entstehen neue Intermediäre, die den digitalen Gegebenheiten besser angepasst sein sollen: Facebook, Google, eBay, Uber, Airbnb und Wikipedia, um nur einige namhafte zu nennen. Als Plattformen basieren sie auf der Beteiligung des Publikums und einer algorithmischen Steuerung – und verzichten zumeist auf professionelle Vermittler.
 


Der Erfolg der Digitalisierung hängt […] von der Entwicklung geeigneter Vermittlungsstrukturen ab, die den Ansprüchen von Publikum und Gesellschaft gerecht werden.“



Ob sie den Herausforderungen der dynamischen und komplexen Netzwerkgesellschaft tatsächlich gewachsen sind, steht derzeit zur Debatte. Der Erfolg der Digitalisierung hängt, so viel lässt sich sagen, von der Entwicklung geeigneter Vermittlungsstrukturen ab, die den Ansprüchen von Publikum und Gesellschaft gerecht werden. Die Zukunftsfragen lauten: Welche Werte sollen leitend sein? Und wie lassen sie sich wirksam durchsetzen? (Neuberger 2018; van Dijck u.a. 2018). Auch Tim Berners-Lee sucht nach einer Antwort: Mit der Initiative Contract for the Web hat er 2018 dazu aufgerufen, seine Erfindung in die richtigen Bahnen zu lenken, um die Privatsphäre zu schützen, sie demokratieverträglich zu gestalten und alle Menschen an ihren Vorzügen teilhaben zu lassen (World Wide Web Foundation 2019).
 

Anmerkungen u. Literatur

Anmerkungen:

1) Die Frühgeschichte des WWW ist auf der CERN-Website dokumentiert. Abrufbar unter: info.cern.ch/hypertext/WWW/TheProject.html (letzter Zugriff: 26.04.2019)

2) Nach der ARD/ZDF-Onlinestudie hat sich der Anteil der Bevölkerung, der das Internet in Deutschland zumindest selten nutzt, von 7 % bei der ersten Befragung (1997) auf mittlerweile 90 % (2018) erhöht.
 

Literatur:

Amjahid, M.: Von rechter Traute. In: Die Zeit, 12.07.2018, S. 41 (letzter Zugriff: 26.04.2019)
Dijck, J. van/Poell, T./Waal, M. de: The Platform Society. Public Values in a Connective World. Oxford 2018
Dolata, U.: Internetkonzerne: Konzentration, Konkurrenz und Macht. In: Ders./J.-F. Schrape (Hrsg.): Kollektivität und Macht im Internet. Soziale Bewegungen – Open Source Communities – Internetkonzerne. Wiesbaden 2018, S. 101 – 130
Frees, B./Koch, W.: ARD/ZDF-Onlinestudie 2018: Zuwachs bei medialer Internetnutzung und Kommunikation. In: Media Perspektiven, 9/2018, S. 398 – 413, hier S. 399 (letzter Zugriff: 26.04.2019)
Garton Ash, T.: Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt. München 2016
Harari, Y. N.: Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. München 2017, S. 497 – 537
Neuberger, C.: Was erwartet die Gesellschaft vom Internet – und was erhält sie? Ein normativer Kompass für Gestaltung und Regulierung. Berlin 2018 (letzter Zugriff: 26.04.2019)
Pentland, A.: Social Physics. How Good Ideas Spread – The Lessons from a New Science. New York 2014
Pörksen, B.: Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. München 2018
Rosa, H.: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt am Main 2005, S. 129 – 134, S. 176 – 194
Snyder, T.: Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika. München 2018, S. 166 – 227
Srnicek, N.: Platform Capitalism. Cambridge, UK 2017
Taddicken, M./Schmidt, J.-H.: Entwicklung und Verbreitung sozialer Medien. In: Dies. (Hrsg.): Handbuch Soziale Medien. Wiesbaden 2017, S.  3 – 22
Vosoughi, S./Roy, D./Aral, S.: The spread of true and false news online. In: Science, 359, 6.380/2018, S. 1.146 – 1.151. doi:10.1126/science.aap9559 (letzter Zugriff: 26.04.2019)
World Wide Web Foundation: Contract for the Web. 2019. Abrufbar unter: https://fortheweb.webfoundation.org/principles/ (letzter Zugriff: 26.04.2019)
Wüllenweber, W.: Wir Fernsehkinder. Eine Generation ohne Programm. Reinbek 1994
Zuboff, S.: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt am Main 2018, S. 577 – 586