Zwischen Empörung und Shitstorm

Debattenkultur in einer heterogenen Gesellschaft

Alexander Grau

Dr. Alexander Grau arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist u.a. für „Cicero“, „FAZ“ und den Deutschlandfunk.

Empörung gab es schon immer. Und nüchtern betrachtet, erfüllt sie eine wichtige soziale Funktion. Sie ist der Versuch, auf moralische Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen. In zunehmend pluralistischen und heterogenen Gesellschaften wird aber genau das zum Problem. Denn was dem einen wertvoll erscheint, ist dem anderen Bedrohung. Was dieser als Ideal empfindet, verachtet jener. Das gemeinsame normative Vokabular geht verloren. Ganze Milieus sprechen eine andere moralische Sprache. Angesichts dieser Entwicklung ist es verhängnisvoll, nach einem Konsens zu suchen. Vielmehr müssen wir lernen, den Dissens zu organisieren.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 1/2019 (Ausgabe 87), S. 18-21

Vollständiger Beitrag als:

Es ist gut acht Jahre her, da empfahl der ehemalige Résistance-Aktivist und spätere UN-Diplomat Stéphane Hessel: „Indignez-vous!“ – „Empört Euch!“

In seinem Essay echauffierte sich Hessel über alles, worüber man sich so echauffieren kann, wenn man sich echauffieren will: den Finanzkapitalismus, den Lobbyismus, den Sozialabbau, die Konzentrationsprozesse in den Medien, die Umweltzerstörung. Angesichts dieser Ungerechtigkeiten forderte Hessel seine Leser zu Widerstand und zivilem Ungehorsam auf. Schließlich sei auch das Grundmotiv der Résistance Empörung gewesen.

Acht Jahre sind eine lange Zeit, was man u.a. daran merkt, dass ein Aufruf zur Empörung selbst dem empörtesten Aktivisten heutzutage nicht mehr so unbefangen aus der Feder käme. Denn die Empörung ist in Misskredit geraten. Schließlich wird sich immer und überall empört: über Politiker, über Demonstranten, über Gutmenschen und Dunkeldeutschland, über Fake News und Lügenpresse, über Banker und NGOs, Veganer und Fleischis, neue Medien und alte Medien, über links, rechts, oben und unten. Und über die Empörung empört man sich auch.

Die Folge: Die Empörung als Mittel politischer Ausdrucksästhetik leidet unter allgemeiner Inflation. Wenn nicht alles trügt, macht sich nicht nur im Alltag, sondern auch bei vielen Vertretern der medialen Öffentlichkeit angesichts der Omnipräsenz moralinduzierter Erregung eine gewisse Übersättigung breit, und nicht wenigen dämmert, dass moralischer Alarmismus und ritualisierte Entrüstung das Gegenteil dessen erreichen, was sie erreichen wollen. Mehr noch: Das Gouvernantenhafte, das jeder Empörung innewohnt, geht zunehmend auch Menschen auf die Nerven, die inhaltlich mit dem jeweiligen moralischen Anliegen im Prinzip übereinstimmen. Es ist daher kein Zufall, dass sich auch und gerade in den Medien immer häufiger kritische Stimmen zu Wort melden, die für mehr Gelassenheit und Distanz werben.

Doch Empörung als politpädagogisches Mittel führt auf Dauer nicht nur zu einer gewissen Übersättigung, sie wirft auch demokratietheoretische Fragen auf. Denn dem Objekt der Empörung wird qua Erregungszustand nicht nur signalisiert, dass es eine andere Meinung vertritt, was in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft mehr als nur legitim ist. Dem Empörungsadressaten wird vielmehr deutlich signalisiert, dass seine Meinung, Ansicht oder Haltung außerhalb jeden moralisch akzeptierbaren Rahmens liegt. Mit dem Vertreter einer empörenden Überzeugung muss man nicht diskutieren, den muss man mundtot machen. Das ist in einer angeblich offenen Gesellschaft zwangsläufig ein Problem. Wenn die persönliche Herabsetzung von Menschen dann noch im Namen von Demokratie, Meinungsvielfalt und Toleranz erfolgt, droht das Ganze ins Absurde abzudrehen.
 

Die Zumutung des Pluralismus

Nun ist Empörung kein neues Phänomen. Empört wurde sich immer und zu allen Zeiten. Die Römer etwa sprachen von „indignatio“ und die Griechen von „aganáktisi“. Und gemeint war damit auch schon in der Antike die emotionale Missfallensbekundung in ethischer Hinsicht. Wer empört ist, der ärgert sich nicht einfach nur, der ärgert sich vielmehr über die Verletzung moralischer Regeln.

Moralische Regeln jedoch sind nicht irgendwelche Regeln, wie wir sie etwa aus dem Straßenverkehr kennen. Moralische Regeln, das macht sie so heikel, bilden einen nicht unerheblichen Teil unserer persönlichen Identität. Wir alle sind in moralischer Hinsicht Ideologen. Wir identifizieren uns mit unseren Werten, Normen und Idealvorstellungen – sonst hätten wir sie nicht. Das bedeutet aber zugleich: Wer unsere Moralvorstellungen verletzt, verletzt nicht einfach nur irgendwelche normativen Festlegungen, der greift vielmehr unser jeweiliges Weltbild an, unsere persönliche Identität. Darauf reagieren wir naturgemäß allergisch. Denn der andere hat nicht nur eine abweichende Meinung, ganz offensichtlich stellt er uns als Person, unsere Welt und Lebensideale infrage. Das ist nur schwer zu ertragen.

Aus diesem einfachen Grund umgibt sich der Mensch am liebsten mit seinesgleichen, also mit Menschen, die mehr oder minder dieselben Ansichten, Überzeugungen, Ziele und Wertvorstellungen haben.

Solange die Menschen räumlich und sozial weitgehend immobil waren und in homogenen Gemeinschaften aufwuchsen, die moralischen Nonkonformismus streng sanktionierten, fiel diese Neigung zur Bildung moralischer Echokammern nicht weiter auf. Sie war selbstverständlich. Bis weit in die Moderne hinein war die Chance, mit anderen moralischen Vorstellungen konfrontiert zu werden, für die meisten Menschen vergleichsweise gering. Nicht, dass es in antiken, mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Gesellschaften keine divergierenden Moralmilieus gegeben hätte. Doch erstens fußten die bestehenden Unterschiede auf einem breiten Wertefundament eines gemeinsamen religiös-feudalistischen Weltbildes und zweitens waren die Lebenswelten der jeweiligen Gruppen streng voneinander getrennt.
 


»Wir alle sind in moralischer Hinsicht Ideologen.«



Diese klare räumliche und soziale Separierung wurde erst unter den sozialen und ökonomischen Bedingungen der Moderne durchlässiger. Waren die Menschen bis in das 20. Jahrhundert hinein in die normativen Lebenswelten gezwungen, in die sie hineingeboren wurden, so lösen sich diese Bindungen insbesondere mit dem sich verfestigenden Massenwohlstand nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend auf. Die westlichen Gesellschaften beginnen sich zu fragmentieren. Die Pflege überlieferter Wertvorstellungen wird als einengend empfunden. An die Stelle tradierter Normen tritt das Ideal gelingender Emanzipation und hedonistischer Selbstverwirklichung. Die kollektivistischen Normvorstellungen der Tradition werden abgelöst durch individualistische Ziele. An die Stelle der weitestgehend an Verzicht und Askese orientierten Moral der Tradition tritt die Anspruchsmoral des auf seine Rechte verweisenden Individuums.

Wo aber normative Vorstellungen individualistischer werden und die Gesellschaft somit heterogener, treffen unterschiedliche oder sich ausschließende Lebensentwürfe leichter aufeinander. Bisher unbekannte Spannungen zwischen verschiedenen Normenkulturen sind damit vorprogrammiert. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass normative Systeme tendenziell intolerant sind. Denn Moralen sind bipolare Ordnungen. Sie kennen nur gut und böse, richtig oder falsch, moralisch oder unmoralisch. Eine Moral, die andere Moralen akzeptiert, nimmt sich selbst nicht ernst. Also geraten sich widersprechende normative Vorstellungen zwangsläufig in Konflikt.

Dies gilt umso mehr in einer sich aufgeklärt wähnenden Moderne, in der die Menschen in dem Glauben leben, sich autonom und aufgrund eigener Präferenzen und rationaler Gründe für ihre jeweiligen normativen Vorlieben entschieden zu haben. Solche posttraditionellen, individualistischen Gesellschaften sind daher latent konfliktträchtiger als traditionelle Gemeinschaften. Ihre Empörungsschwelle ist erheblich niedriger.
 

Meine Gruppe, deine Gruppe

Doch die Vorstellung, moralische Überzeugungen beruhten auf rationalen ethischen Argumenten, ist psychologisch gesehen eine große Illusion. Menschen urteilen anhand ihres Gefühls und ihrer Intuition. Was wir moralische Rationalität nennen, ist ein rhetorisches Verfahren, um unseren irrationalen Vorentscheidungen im Nachhinein einen vernünftigen Anstrich zu verleihen.

Menschen sind keine unbeschriebenen Tafeln. Sie argumentieren nicht neutral, sie sind befangen und agieren wie Anwälte in eigener Sache. In seinem bemerkenswerten Buch The Righteous Mind. Why Good People are Divided by Politics and Religion argumentiert der an der New York University forschende Psychologe Jonathan Haidt, dass es uns bei unserer moralischen Urteilsfindung nicht um normative Richtigkeit oder gar Wahrheit geht, sondern vor allem um unsere persönliche Identität und soziale Reputation. Uns geht es nicht um die moralisch besten Entscheidungen, sondern darum, was andere über uns denken.

Normative Differenzen zwischen gesellschaftlichen Gruppen entstehen, wenn eine Gruppe grundlegende moralische Module einer anderen Gruppe nicht mehr wahrnimmt oder anerkennt und dafür andere überbetont.
 


»Uns geht es nicht um die moralisch besten Entscheidungen,
sondern darum, was andere über uns denken.«



Anhand von Fragebögen konnte Jonathan Haidt zusammen mit Jesse Graham von der University of Utah eine starke Korrelation zwischen politischen Überzeugungen und Präferenzen hinsichtlich dieser sechs moralischen Grundkategorien feststellen. Linke Wähler etwa sahen allein in der Fürsorge und in der Fairness bzw. Gerechtigkeit Grundlagen der Moral. Konservative hingegen gestanden zu, dass Fürsorge und Fairness zwar wichtige Aspekte der Moral sind, betonten aber zugleich die Wichtigkeit von Loyalität, Autorität und Heiligkeit.

Das hat gravierende Folgen für die jeweilige Einordnung moralischer Probleme. Sind eher links fühlende Menschen fast ausschließlich auf den Schutz, die Fürsorge und die Gleichbehandlung aller Menschen fokussiert, so ziehen Konservative weitere Werte in ihr moralisches Urteil mit ein, etwa die Bedeutung und Unantastbarkeit („Heiligkeit“) von Institutionen oder Traditionen. Genau diese Überlegung wiederum ist dem klassischen Linksliberalen suspekt, da er etwa in Traditionen, Loyalitäten und Autoritäten keinen Wert an sich erkennen kann.

Diese sehr unterschiedliche Gewichtung moralischer Grundmodule führt nicht nur zu andersgearteten Bewertungen gegebener Dinge oder Sachverhalte, sondern vor allem zu einer anderen Sprachverwendung. Es entstehen voneinander abweichende Vokabulare, die nur noch oberflächlich dieselben Bedeutungen, faktisch aber einen vollständig anderen Sinn haben. Man spricht scheinbar noch dieselbe Sprache, versteht sich jedoch nicht mehr. Deutlich wird das an so banalen Begriffen wie „Frau“, „Mann“ oder „Kind“. Je nachdem, ob der Benutzer dieser Begriffe eine Feministin ist, ein Altkonservativer, ein Liberaler, ein Neulinker, ein Katholik oder was auch immer: Stets werden die Begriffe „Frau“, „Mann“ und „Kind“ in ein Netzwerk anderer Begriffe eingewoben und haben entsprechend eine komplett andere Bedeutung. Wenn der Begriff „Frau“ fällt, dann denkt die Feministin an Unterdrückung und Sexismus, der Konservative an Familie und Geborgenheit, der Neulinke an Rollenbilder und Genderkonstruktionen und der Katholik an die göttliche Ordnung. Und hinter all diesen Begriffen öffnet sich umgehend ein Universum verwandter Begriffe, die einen fest gefügten ideologischen Kosmos erschließen.

Das Ergebnis ist ein tiefes Unverständnis. Wo der Konservative etwa „Familie“, „Geborgenheit“ und „Tradition“ sagt, hört der Linke „Sexismus“, „Diskriminierung“ und „Frauenfeindlichkeit“. Beide Sprachen sind schlicht inkompatibel. Ein Diskurs nahezu unmöglich. Man benutzt die gleichen Worte, redet aber aneinander vorbei.

Das wäre in einer eng vernetzten Gesellschaft an sich schon problematisch genug. Hinzu kommt jedoch, dass die unterschiedlichen Normkulturen nicht nur aneinander vorbeireden, sondern dem jeweils anderen Lager seine moralische Legitimität absprechen. Moralmilieus sind betriebsblind für die Moralität und die moralischen Anliegen des weltanschaulichen Gegenübers. Die gegnerische Peergroup hat nicht nur abweichende normative Präferenzen, sie ist vielmehr unmoralisch.

Aus der Perspektive vieler Linksliberaler etwa hat ein Konservativer, der auf kulturelle Homogenität, traditionelle Familienbilder und feste Geschlechterrollen pocht, gar kein moralisches Anliegen, im Gegenteil; er ist vielmehr menschenverachtend und diskriminierend, da er Werten wie Gleichheit und Selbstbestimmung nicht die gleiche Ausschließlichkeit einräumt wie der Linksliberale selbst. Das weltanschauliche Gegenüber wird somit nicht als Person mit moralischen Idealen wahrgenommen, sondern als ein im Grunde bösartiger Mensch. Frei nach dem Motto:

Hast du nicht meine Moral, hast du keine Moral.“

Das ist dann der Punkt, an dem gesellschaftliche Debatten mit großer Sicherheit eskalieren und sich in eine Empörungsspirale hineinschrauben.

Schon in den 1980er-Jahren hat der französische Philosoph Jean-François Lyotard darauf hingewiesen, dass postmodernen, hochfragmentierten Gesellschaften die Basis gemeinsamer Kommunikation verloren geht. Die Welt wird pointillistisch, Verständigung quasi unmöglich. Verbanden zu Beginn der Moderne die Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft noch zentrale normative Begriffe mit einem mehr oder minder festen Set eindeutiger Bedeutungen, so lösen sich diese klaren weltanschaulichen Verbindungen auf. Ganze Begriffskomplexe verlieren ihre klare Konnotation. Damit geht nicht nur das gemeinsame Wertgefüge einer Sprachgemeinschaft verloren, sondern die gemeinsame Sprache überhaupt. Versuche eines gemeinsamen Sprachspiels scheitern am Pluralismus der geänderten Spielregeln und deren Inkommensurabilität. Schließlich regiert der Dissens. Der von Lyotard sogenannte Widerstreit („différend“) wird zum Dauerzustand und damit der Konflikt und die ihm implantierte Empörung.

Lyotard, so muss man knapp 40 Jahre später konstatieren, hat recht behalten. Die Idee einer auf einem rationalen Konsens kompetenter Diskursteilnehmer basierenden Kommunikation entlarvt sich schon aus psychologischen und soziologischen Gründen als naive Illusion. Wenn nicht alles täuscht, sind wir gut beraten, nicht der Chimäre eines normativen Konsenses hinterherzutrauern, sondern zu lernen, den Dissens zu akzeptieren und zu organisieren.