Zu nah am Geschehen

Das „Geiseldrama von Gladbeck“ jährte sich zum 30. Mal

Isabel Fastus

Isabel Fastus hat Medienforschung an der TU Dresden studiert und macht zurzeit ihren Master in Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Halle.

Nicht nur das weitgehende Versagen der beteiligen polizeilichen Einsatzkräfte machten das Geiseldrama von Gladbeck zu einem einschneidenden Ereignis der neueren deutschen Geschichte. Auch die Rolle, die die Medien und ihre Vertreter im Verlauf der drei Tage einnahmen, gilt noch heute als einzigartiges Beispiel für ein völlig distanzloses Verhältnis der damaligen Reporter zu den Tätern. Die Ereignisse der Geiselnahme wurden dabei fast von Anfang bis Ende flächendeckend und rund um die Uhr dokumentiert und begleitet. Es folgte eine Welle der Kritik an den beteiligten Journalisten, die nicht nur mit den Geiselnehmern während des Tatgeschehens und ihrer Flucht mehrere Interviews führten, sondern möglicherweise für den Tod einer jungen Geisel mitverantwortlich waren.

Online seit 23.08.2018: https://mediendiskurs.online/beitrag/zu-nah-am-geschehen/

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Das Tatgeschehen

Am Morgen des 16. August 1988 verschaffen sich Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski bewaffnet Zutritt zu einer Filiale der Deutschen Bank im nordrhein-westfälischen Gladbeck, um diese auszurauben. Der Überfall schlägt fehl, da Zeugen bereits nach wenigen Minuten die Polizei alarmieren. Daraufhin ändern Rösner und Degowski ihren Plan und nehmen zwei Bankangestellte als Geiseln. Sie fordern 300.000 DM Lösegeld sowie einen Fluchtwagen und freien Abzug. Nach mehreren Stunden Verhandlung wird ihnen dies von der Polizei gewährt, und die Täter verlassen die Bank mit den beiden Geiseln. Dieses Vorgehen seitens der Einsatzkräfte entspricht im Jahr 1988 der gängigen Praxis der Polizei, die Geiselnehmer zunächst gewähren zu lassen, um sie zu einem späteren Zeitpunkt – wenn diese sich in Sicherheit wiegen – festzunehmen.

In den ersten Stunden der Flucht zeigen Rösner und Degowski ein untypisches Verhalten. Sie verlassen Gladbeck zunächst nicht, sondern decken sich unter anderem an einem Imbiss und in einer Apotheke mit Proviant beziehungsweise Vorräten ein. Nach mehreren Wechseln des Fluchtautos fahren Rösner und Degowski mit den Geiseln in Richtung Bremen. Unterwegs steigt Marion Löblich, die Freundin Rösners, zu. Als die Geiselnehmer am folgenden Tag in Bremen bemerken, dass sie von der Polizei verfolgt werden, bringen sie einen Linienbus mit 32 Fahrgästen in ihre Gewalt. Die Verhandlungen zwischen Geiselnehmern und Polizei in Bremen scheitern am Abend des 17. August, und die Täter verlassen Bremen mit Bus und Geiseln Richtung Autobahn A1.

An der Raststätte Grundbergsee kommt es zu einer ersten Eskalation. Während zunächst die beiden Gladbecker Bankangestellten durch einen Geiselaustausch mit zwei Journalisten befreit werden können, nehmen einzelne Polizisten eigenmächtig die Komplizin Marion Löblich nach einem Toilettenbesuch fest. Die Geiselnehmer fordern ihre sofortige Freilassung und drohen, nach Ablauf einer fünfminütigen Frist eine der Geiseln zu erschießen.

Durch mehrere Pannen bei der Freilassung von Löblich verstreicht das Ultimatum und Degowski schießt dem 15-jährigen Emanuele De Giorgi in den Kopf. Aufgrund fehlender Rettungskräfte verzögert sich die Versorgung des Jungen um eine knappe halbe Stunde. De Giorgi erliegt wenig später im Krankenhaus seinen Verletzungen. Erst nach diesen Vorfällen wird Marion Löblich von der Polizei freigelassen.

Die Geiselnehmer fahren daraufhin über die niederländische Grenze. Dort verlassen sie den Bus und lassen alle Geiseln bis auf Silke Bischoff und ihre Freundin Ines Voitele frei. Hier löst sich ein Schuss aus der Waffe eines Geiselnehmers, der Marion Löblich verletzt. Aufgrund dessen geht die Polizei zunächst fälschlicherweise davon aus, dass die Geiselnehmer zeitnah ein Krankenhaus aufsuchen werden. Doch Rösner, Degowski und Löblich fahren in einem neuen von der Polizei bereitgestellten Fluchtwagen mit den beiden verbliebenen Geiseln in Richtung Köln. Dort halten sie sich mehrere Stunden in der Fußgängerzone auf, bevor sie Köln wieder verlassen.

Kurz vor der Grenze nach Rheinland-Pfalz kommt es in der Nähe der Autobahnabfahrt Bad Honnef zum Übergriff der Polizei, die die Geiselnahme nach 54 Stunden endgültig beenden will. Dieser läuft aufgrund einiger Pannen bei der Durchführung nicht wie erwartet. Es kommt zu einem Schusswechsel zwischen Polizeikräften und Tätern, bei dem Silke Bischoff durch einen Schuss aus Rösners Waffe stirbt. Die Geisel Ines Voitele kann sich vor dem Schusswechsel in einen Straßengraben retten. Rösner, Degowski und Löblich werden festgenommen. Die Geiselnahme wird am 18.8.1988 für beendet erklärt.
 

Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich große medienethische Bedenken hatte.“
(Frank Plasberg, 2003)


Gladbeck und das Verhalten der Medien

Bereits während der Geiselnahme in der Bankfiliale kam es seitens der Geiselnehmer zur ersten Kontaktaufnahme mit den Medien, welche sich mit ihren Forderungen an die BILD- Zeitung, den WDR und die Westdeutsche Allgemeine Zeitung wandten (Wilke 2007). Der RTL-Journalist Hans Meiser rief in der Bankfiliale an und führte ein erstes Telefoninterview mit einem der Geiselnehmer. Nachdem Rösner und Degowski in Bremen einen Linienbus in ihre Gewalt gebracht hatten, kam es dort vor laufender Kamera zu Interviews mit den Geiselnehmern. Auch Geiseln wurden interviewt, während die Täter ihnen eine Pistole an den Kopf hielten. Die Pressevertreter ließen hier jegliche räumliche Distanz zu den Geiselnehmern vermissen und waren stets näher am Geschehen als die eingesetzten Polizeibeamten, denen eine effektive Absperrung des Tatorts unter den gegebenen Umständen nicht möglich war.

Nach Abfahrt des Busses beteiligten sich Journalisten an der Verfolgungsjagd und behinderten so die Polizeiarbeit. Dabei wurden auch unbeteiligte Personen in Gefahr gebracht. So folgte ein Journalist dem Bus in einem Taxi, auf das einer der Geiselnehmer schoss. Als es an der Raststätte Grundbergsee zum tödlichen Schuss auf Emanuele De Giorgi kam, waren es Journalisten, die den Jungen aus dem Bus trugen. Hierbei hielt ein Reporter den Kopf des Jungens „fotogerecht“ in die Kamera und der blutüberströmte Körper des Jungen wurde nochmals von Fernsehkameras gefilmt. Gutachter schlossen später nicht aus, dass dies zu einer Zustandsverschlechterung des Verletzten beigetragen haben könnte.

Auch in Köln begleiteten Journalisten die Geiselnehmer. Es kam zu mehreren Live-Interviews mit den Geiselnehmern sowie mit den verbleibenden Geiseln. Letzteren wurde dabei während der Interviews wieder eine Waffe an den Kopf gehalten. Zusätzlich halfen Journalisten den Geiselnehmern, indem sie Zivilpolizisten enttarnten, der Bild-Journalist Udo Röbels stieg zu den Tätern ins Auto, um sie zur Autobahn nach Frankfurt zu lotsen.

Zwei parlamentarische Untersuchungsausschüsse in Bremen und Nordrhein-Westfalen (1989) rügten das Verhalten der beteiligten Journalisten. Sie seien aus der Rolle der Dokumentierenden in die Rolle der Handelnden getreten und so zum Teil des Geschehens geworden. Sie hätten durch die Interviews den Tätern eine Bühne geboten, die sich wie Fernsehstars fühlten und ihre Popularität genossen. Geiselnehmer Rösner erklärte gar, dass er nur noch über die Medien kommunizieren wolle. Christian Schicha und Carsten Brosda (2010) kritisierten, die Journalisten hätten den Tätern auch Schutz vor Polizeiübergriffen geboten: aktiv, indem sie die Geiselnehmer über Wanzen und Zivilpolizisten informierten, passiv, weil sie sich ständig bei den Tätern aufhielten und so Zugriffe der Einsatzkräfte zu einem großen Risiko werden ließen.

Die Journalisten selbst konnten ihrem Handeln auch positive Seiten abgewinnen. So hätten sich zwei Journalisten im Austausch mit den Bankangestellten als Geiseln zur Verfügung gestellt. Der Journalist Udo Röbel gab später an, nicht aus Sensationsgier, sondern aus Mitgefühl und persönlicher Verantwortung gehandelt zu haben (Röbel 2009). Auch andere Journalisten wie Peter Meyer gaben in Interviews an, dass das polizeiliche Fehlverhalten sie gezwungen hätte, die Vorgänge so nah wie möglich zu dokumentieren (Das Erste 2018).
 


Konsequenzen

Obwohl das Geiseldrama von Gladbeck nun schon 30 Jahre her ist und alle relevanten Verfehlungen benannt und juristisch erledigt sind, gilt es immer noch als Höhepunkt einer Überschreitung der Distanzlinie von Reportern zu den Protagonisten eines Verbrechens, über das sie berichten. Dass Journalisten möglichst nah am Geschehen sein wollen, ist verständlich, aber wo liegen die Grenzen? Obwohl die parlamentarischen Untersuchungsberichte schwere Verfehlungen der beteiligten Journalisten festgestellt hatten, blieben strafrechtliche Konsequenzen aus. Allerdings wurden einige Richtlinien im Pressekodex geändert. Der Presserat stellte unter anderem fest, dass es „Interviews mit Geiselnehmern während des Geschehens nicht geben darf“ (Presserat 2018).

Die Haftstrafen für den heute 61-jährigen Geiselnehmer Degowski sowie die Komplizin Marion Löblich sind inzwischen verbüßt, Rösner befindet sich in Sicherheitsverwahrung, weil er immer noch als gefährlich gilt. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet hat sich anlässlich des 30. Jahrestages des Geiseldramas für das Fehlverhalten der Polizei entschuldigt (Spiegel Online 2018). Die Mutter von Silke Bischoff wirft der Polizei heute noch vor, sie hätte in Bad Honnef 30 Schüsse auf den BMW abgefeuert, in dem Rösner und Degowski geflohen waren, und damit das Leben ihrer Tochter leichtfertig aufs Spiel gesetzt (Das Erste 2018).

Als Folge dieses Desasters kam es zu personellen Konsequenzen bei der Polizei und in der Politik: Der damalige Bremer Innensenator Bernd Meyer trat zurück, der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Schnoor blieb trotz erheblicher Kritik im Amt. Die bundesländerübergreifende Polizeiarbeit wurde überarbeitet und verbessert, vor allem die mangelnde Koordination zwischen den Bundesländern Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen war der Grund dafür, dass die Polizei den BMW unbedingt noch vor der Grenze nach Rheinland-Pfalz stellen wollte.
 

Fazit

Das Gladbecker Geiseldrama gilt auch heute noch als Paradebeispiel, an dem man das Fehlverhalten sowohl der Polizei als auch der Medien studieren und abarbeiten kann. Was die Medien angeht, so hat es immerhin dazu geführt, dass sich eine solche Allianz zwischen Verbrechern und Medienvertretern nicht wiederholt hat.
 

Literatur:

Das Erste (2018): Das Geiseldrama von Gladbeck. Sendetermin 08.03.2018. In: daserste.de (letzter Zugriff: 22.08.2018)

Plasberg, Frank (2003): „Da habe ich einfach Angst bekommen.“ Frank Plasberg über seinen Einsatz beim Geiseldrama 1988. In: wdr.de, 13.08.2003 (letzter Zugriff: 22.08.2018)

Presserat (2018): Chronik des Presserats. In: Presserat (letzter Zugriff: 07.08.2018)

Röbel, Udo (2009): Gut und Böse. In: Jens Bergmann/Bernhard Pörksen (Hrsg.): Skandal! Die Macht öffentlicher Empörung. Köln: Herbert von Halem, S. 296–306

Schicha, Christian/Brosda, Carsten (Hrsg.) (2010): Handbuch Medienethik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Spiegel Online (2018): 30 Jahre Gladbeck-Geiselnahme. Ministerpräsident Laschet bittet Opfer um Vergebung. In: SPIEGEL ONLINE, 13.08.2018 (letzter Zugriff: 22.08.2018)

Wilke, J. (2007). Gladbacher Geiseldrama. In: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Skandale in Deutschland nach 1945. Bonn: Kerber, S. 157–163