Wo ist die Jugend im Jugendmedienschutz?

Elena Frense

Elena Frense ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Digitale Chancen im Projekt „Medienerziehung im Dialog“ und Lehrbeauftragte an der Fachhochschule Potsdam.

Die UN-Kinderrechtskonvention sichert Kindern das Recht zu, gehört zu werden; auch die Novellierung des Jugendschutzgesetzes (JuSchG) trägt dem Rechnung. Dieser Artikel gibt Einblicke in Perspektiven von Kindern und Jugendlichen auf einen zeitgemäßen Kinder- und Jugendmedienschutz.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 2/2021 (Ausgabe 96), S. 16-19

Vollständiger Beitrag als:

 

Kindern, d.h. allen Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben1, steht laut Art. 12 der UN-Kinderrechtskonvention das Recht zu, in allen sie betreffenden Angelegenheiten gehört zu werden. Diese Meinung gilt es angemessen und entsprechend im Hinblick auf Alter und Reife zu berücksichtigen. Dieses Recht, das Herzstück der sogenannten Partizipationsrechte, fand auch Eingang in die Novellierung des Jugendschutzgesetzes, deren Entwurf am 5. März 2021 vom Deutschen Bundestag verabschiedet wurde. Darin heißt es in § 24 c:

Leitlinie der freiwilligen Selbstkontrolle: (1) Bei der Erarbeitung einer Leitlinie […] sind die Sichtweise von Kindern und Jugendlichen und deren Belange in geeigneter Weise angemessen zu berücksichtigen.“ (Deutscher Bundestag 2020, S. 16)

Weiterhin ist laut § 17 b die Errichtung eines Beirates vorgesehen, dem neben Vertreterinnen und Vertretern von Kinderrechts- und Kinderschutzorganisationen auch Kinder angehören sollen: „Dem Beirat gehören bis zu zwölf Personen an, die sich in besonderer Weise für die Verwirklichung der Rechte und den Schutz von Kindern und Jugendlichen einsetzen. Vertretungen der Interessen von Kindern und Jugendlichen stehen drei Plätze zu. Hiervon sind zwei Sitze mit Personen zu besetzen, die zum Zeitpunkt ihrer Berufung höchstens 17 Jahre alt sind“ (Deutscher Bundestag 2021, S. 4).

Auch laut der im März 2021 vom Kinderrechte-Ausschuss der Vereinten Nationen veröffentlichten Allgemeinen Bemerkung zu Kinderrechten in Bezug auf das digitale Umfeld (General Comment on children’s rights in relation to the digital environment) sind die Partizipationsrechte von Kindern zentral – nicht nur als Ziel der Umsetzung von Schutz- und Befähigungsrechten, sondern auch als Voraussetzung für die Entwicklung effektiver Schutzmaßnahmen. In der Allgemeinen Bemerkung wird daher die Wichtigkeit betont, Kinder aktiv in Forschungsprozesse einzubeziehen:

Such data and research, including research conducted with and by children, should inform legislation, policy and practice and should be available in the public domain.“ (United Nations 2021, S. 5)

Auch bei der Erarbeitung der Allgemeinen Bemerkung selbst wurden Kinder im Rahmen eines Konsultationsprozesses mit 709 Kindern aus 28 Ländern einbezogen.

Die Partizipationsrechte von Kindern im Kontext des Jugendmedienschutzes umzusetzen, ist auch das Ziel der hier in Auszügen vorgestellten Studie (Frense 2020), die im Rahmen einer Masterarbeit durchgeführt wurde. Die mehrstufige empirische Studie hatte zum Ziel, mit Kindern Handlungsempfehlungen für einen effektiven und zeitgemäßen Kinder- und Jugendmedienschutz aus deren Perspektive zu entwickeln.
 

Schutz durch Partizipation und Befähigung

Die UN-Kinderrechtskonvention umfasst die drei Säulen der Schutz-, Befähigungs- und Beteiligungsrechte („protection“, „provision“ und „participation rights“), die für diese Studie in eine funktionale Beziehung gesetzt wurden, welche als Schutz durch Partizipation und Befähigung beschrieben werden kann. Dieses Paradigma fußt auf der Annahme, dass für die Entwicklung effektiver Schutzstrategien die Partizipation der Betroffenen zentral ist – damit diese nicht nur an den tatsächlichen Bedarfen ansetzen, sondern auch deren Akzeptanz finden (Boyden 2003, S. 17 f.; Feinstein/O’Kane 2009, S. 5; Lansdown 2005, S. 39 ff.; Liebel 2009a, 2009b). Liebel (2009a) plädiert für die Beteiligung von Kindern, nicht nur, damit sie selbst entscheiden, wovor sie (nicht) geschützt werden möchten, sondern auch, damit getroffene Schutzmaßnahmen akzeptiert werden und ihre Wirkung entfalten können. „Um die einseitige Instrumentalisierung des Schutzes durch Erwachsene zu verhindern, ist es unabdingbar, dass die Kinder […] darüber mitentscheiden können, in welcher Weise sie geschützt werden sollen oder ob sie in einem spezifischen Fall überhaupt Schutz benötigen. Eine solche Mitsprache ist auch deshalb geboten, weil der Schutz umso effektiver ist, je mehr er auf die Zustimmung der zu schützenden Kinder stößt und von ihnen mit getragen [sic!] wird. Die Kinder können selbst aktiv zu ihrem Schutz beitragen, indem sie sich z.B. informieren und sensibilisieren (lassen), bestimmte Vorsichtsregeln oder Techniken erlernen […].“ (S. 33). Vor diesem Hintergrund ist die Befähigung von Kindern – hier im Kontext des Jugendmedienschutzes – zentral.


Forschungsdesign und Methode

Der empirische Teil des qualitativen, nicht repräsentativen Forschungsdesigns2 umfasste zunächst mehrstündige Workshops mit einer 6. und 10. Schulklasse zum Zweck der Befähigung. Diese fanden im April und Mai 2019 statt. Pro Klasse wurde der Workshop über eine Dauer von drei Schulstunden mittels eines zu diesem Zweck entwickelten Konzepts durchgeführt, das methodisch-didaktisch an die Altersstufen angepasst wurde. Zunächst wurden die Kinder für das Thema „Kinder- und Jugendmedienschutz“ und dessen Bedeutung in ihrem Alltag sensibilisiert. Anschließend trugen die Kinder für sie relevante Risikodimensionen zusammen. Zuletzt wurden mittels anschaulicher Aufgaben Handlungsempfehlungen für den regulatorischen, erzieherischen und technischen Jugendmedienschutz erarbeitet.

Im Anschluss an den Workshop wurden vier leitfadengestützte Gruppendiskussionen (Fokusgruppen) mit insgesamt 18 Kindern im Alter von 11/12 sowie 15/16 Jahren durchgeführt, in denen die Workshop-Ergebnisse vertiefend und weiterführend reflektiert wurden.
 

Ergebnisse und Erkenntnisse

In der Studie hat sich gezeigt, dass die befragten Kinder in der Lage sind, eigene Grenzen wahrzunehmen und zu benennen, wenn es beispielsweise um die Rezeption gewaltvoller oder verängstigender Inhalte geht. Mitnichten würden sie sämtliche Inhalte rezipieren, hätten sie dazu uneingeschränkten Zugang. Vielmehr zeigte sich ein starkes Bedürfnis nach Schutz vor Risiken. Als problematisch hat sich in diesem Kontext teilweise das soziale Umfeld wie Peers und Familienmitglieder erwiesen.

[I]ch habe auch einen älteren Bruder und der schaut sich auch gerne mal Filme an mit Gemetzel […] mit meinem Vater […], wo dann irgendwelche gehäuteten Menschen […] hängen, und das finde ich halt echt megaekelhaft und ich sage denen das auch. […] Dann ist es halt immer an mir, wegzugehen, aber dann habe ich es ja trotzdem gesehen. […] Ich sage denen das auch öfter mal so: ‚Ich möchte das jetzt nicht. Ich finde es gruselig […].‘ Aber die sind da so relativ hemmungslos und sagen mir auch nicht Bescheid, wenn da irgendwas Ekliges kommt, wenn die den Film schon kennen oder so. Da muss ich dann schon eher so selbst mit klarkommen.“ (Schülerin, 16 Jahre)


Alterskennzeichen

Das Konzept der Alterskennzeichen wird von den befragten Kindern grundsätzlich positiv bewertet, da diese sowohl für Eltern als auch für Kinder eine gute Orientierungshilfe darstellen.

Ich finde es gut, weil das den Eltern so eine Grenze gibt. […] [A]lso die sehen diese Zahl, aber können gleichzeitig auch […] einschätzen, wie das Kind das finden könnte. […] Ich glaube eher, dass es individuell ist, ab welchem Alter man diese Filme gucken darf. Aber vielleicht die Eltern, die es nicht so gut einschätzen können, können sich daran so ein bisschen orientieren […].“ (Schülerin, 16 Jahre)

Kritisiert wird allerdings das aus der Medienkonvergenz resultierende bekannte Problem, dass die Alterskennzeichen von Filmen teilweise nur begrenzt Wirkung entfalten, da sie – insbesondere im digitalen Raum – leicht umgangen werden können. Zudem erscheinen sie aus individueller Perspektive nicht immer angemessen, da sie die individuelle Entwicklung und Reife von Kindern nicht ausreichend berücksichtigen (können).

FSK und USK können manchmal auch übertreiben oder untertreiben. Aber generell finde ich Altersfreigaben sehr gut.“ (Schülerin, 11 Jahre)

Da es neben dem Alter andere wichtige Einflussfaktoren auf den Entwicklungsstand und die Reife von Kindern gibt, sind im Kinder- und Jugendmedienschutz Ansätze erforderlich, die die sich entwickelnden Fähigkeiten („evolving capacities“) von Kindern verstärkt berücksichtigen. Des Weiteren fordern die befragten Kinder eine Ausdifferenzierung der Alterskennzeichen. Sie plädieren dafür, zwischen 6 und 12 Jahren eine weitere Abstufung einzuführen, etwa bei 8, 9 oder 10 Jahren. Als Grund wird angeführt, dass Inhalte ab 6 Jahren für 6-Jährige teilweise noch schwer verständlich seien und sie von etwas älteren Kindern als „langweilig“ empfunden würden, wohingegen Inhalte ab 12 Jahren allerdings oftmals „zu spannend oder zu blutig“ seien.

Die meisten Spiele für unser Alter, die sind so halt nicht spannend genug. […] Und für die Älteren, die sind dann halt manchmal zu spannend oder zu blutig.“ (Schülerin, 11 Jahre)

Zudem wird in beiden Altersgruppen mit Blick auf die pubertäre Entwicklung für eine weitere Altersstufe zwischen 12 und 16 bzw. 18 Jahren plädiert.

Darüber hinaus wurde mit den Kindern in einem freien Assoziationsprozess ohne explizite Bezugnahme auf die Wirkungsrisiken medialer Inhalte und Interaktionen reflektiert, welche Kriterien sie aus ihrer Perspektive für die verschiedenen Altersfreigaben für geeignet halten (siehe folgende Tabelle).3
 

 


Als allgemein problematische Inhalte ohne direkten Bezug zu einer der Altersstufen wurden die Vermittlung unrealistischer Schönheitsideale, extreme Gewalt wie Vergewaltigungen, grundlose und realitätsnahe Gewalt sowie Darstellungen des Nationalsozialismus und Holocaust ohne entsprechende kritische Einordnung genannt. Auch Gewalt, die Kinder durch einen humorvollen Kontext zur Nachahmung anregen könnte, wurde angeführt.

Zwar handelt es sich dabei nicht ausschließlich um Kriterien zur Bewertung von potenziell entwicklungsbeeinträchtigenden Inhalten, allerdings zeigen die genannten Punkte, dass sich gemeinsam mit Kindern Leitlinien für Alterskennzeichen entwickeln lassen und diese mitunter anders ausfallen als die bislang von Erwachsenen erarbeiteten.
 

Wunsch nach Partizipation

Die an der Studie beteiligten Kinder haben es geschätzt, aktiv an der Ausarbeitung von Handlungsempfehlungen für den Jugendmedienschutz mitzuwirken.

Also, ich finde es gut, dass wir dazu angeregt werden, das zu kritisieren oder auch über Verbesserungsvorschläge nachzudenken und das nicht einfach so hinzunehmen, wie es ist, sondern vielleicht das zu hinterfragen.“ (Schülerin, 16 Jahre)

Bei der Teilnahme an einer empirischen Studie sollte es laut der Befragten allerdings nicht bleiben. Vielmehr wünschen sie sich, auch an politischen Prozessen und Entscheidungen mitwirken zu können.

[…] mehr Kommunikation mit den Jugendlichen, also dass wir mehr mitbestimmen sollten, und vielleicht, dass die ganzen Leute in der Politik auch einfach jünger werden und dass jetzt nicht z.B. 50-jährige Leute entscheiden, was für uns am besten ist oder so.“ (Schüler, 16 Jahre)

Dadurch möchten sie verhindern, dass politische Entscheidungen mit großen Auswirkungen auf ihre (mediale) Lebenswelt getroffen werden, ohne dass sie dabei konsultiert wurden, wie es beispielsweise bei der Entscheidung über Art. 13 der EU-Urheberrechtsreform wahrgenommen wurde.

[…] auf keinen Fall diese Maßnahmen mit Art. 13 und so. Die Politiker sind ja auch alle schon älter und vielleicht können die das nicht so wirklich einschätzen, wie die Jugend das aufnimmt. Also, dass man auch mehr die Meinung von Jugendlichen […] dazuholt und nicht von Älteren, die sofort sagen: ‚Ja, das Internet ist schlimm und so‘.“ (Schülerin, 16 Jahre)


Fazit

Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass Kinder – unter der Bedingung entsprechender Befähigung – in der Lage sind, Maßnahmen des Jugendmedienschutzes kritisch zu reflektieren und eigene Impulse zu setzen. Indem man Kinder einbezieht, werden die Maßnahmen mit höherer Wahrscheinlichkeit von ihnen akzeptiert und angewandt. Daher ist es zentral, Kinder zu befähigen und in Prozesse und Entscheidungen im Rahmen des Kinder- und Jugendmedienschutzes einzubeziehen. Der in der JuSchG-Novellierung vorgesehene Beirat stellt ein wichtiges und richtungsweisendes Instrument dar, das das Potenzial hat, die Partizipationsrechte von Kindern im Jugendmedienschutz umzusetzen, denn Kinder werden künftig laut § 29 b auch daran beteiligt sein, das Erreichen der in § 10 a festgelegten Schutzziele zu evaluieren (Deutscher Bundestag 2021, S. 4). Diese Regelung ist eine vielversprechende Entwicklung auf dem Weg zu einem zeitgemäßen und partizipativen Jugendmedienschutz.

Um mit den Worten einer Studienteilnehmerin zu schließen:

Dann glaube ich schon, dass man damit […] was bewegen […] und vielleicht ein paar Leute zum Nachdenken anregen könnte.“ (Schülerin, 15 Jahre)

 


Anmerkungen:

1) Entsprechend der Definition der UN-Kinderrechtskonvention wird in diesem Text begrifflich nicht zwischen Kindern und Jugendlichen unterschieden – mit Ausnahme des Terminus „Kinder- und Jugendmedienschutz“.

2) Das Sample der Studie war hinsichtlich des sozioökonomischen Hintergrundes der befragten Kinder relativ homogen. Die Studienteilnehmenden waren Kinder eines Gymnasiums einer westdeutschen Kleinstadt, deren Elternhäuser größtenteils dem sozialen Milieu der bürgerlichen Mitte zuzuordnen waren. Kinder mit Beeinträchtigung waren nicht Teil des Samples. Lediglich zwei der Kinder hatten einen Migrationshintergrund. Dies dürfte sich u.a. in ihrer Mediensozialisation und -erziehung sowie in ihrem Umgang mit Risiken ausgedrückt haben (Wold u.a. 2009, S. 141 f.) und ist bei der Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen.

3) Die Liste stellt lediglich einen Anfangspunkt dar, hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit und bedarf weiterführender partizipativer Erarbeitungsprozesse mit Kindern.

 

Literatur:

Boyden, J.: Children under Fire: Challenging Assumptions about Children’s Resilience. In: Children, Youth and Environments, 1/2003/13, S. 1‑29

Deutscher Bundestag: Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Jugendschutzgesetzes. Drucksache 19/24909, 02.12.2020. Abrufbar unter: https://dip21.bundestag.de

Deutscher Bundestag: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung – Drucksache 19/24909. Drucksache 19/27289, 03.03.2021. Abrufbar unter: https://dip21.bundestag.de

Feinstein, C./O’Kane, C.: Children’s and Adolescents’ Participation and Protection from Sexual Abuse and Exploitation. In: UNICEF Innocenti Research Centre (Hrsg.): Innocenti Working Papers, 09/2009. Abrufbar unter: https://www.un-ilibrary.org

Frense, E.: Partizipativer Jugendmedienschutz. Anforderungen an einen zeitgemäßen Jugendmedienschutz aus Perspektive von Kindern und Jugendlichen. Frankfurt am Main 2020

Lansdown, G.: The Evolving Capacities of the Child. In: UNICEF Innocenti Research Centre (Hrsg.): Innocenti Insights 2005

Liebel, M.: Kinderrechte – aus Kindersicht. Wie Kinder weltweit zu ihrem Recht kommen. Berlin 2009a

Liebel, M.: „Nicht über unsere Köpfe hinweg“ oder: Partizipation ist der beste Kinderschutz. In: IzKK-Nachrichten, 1/2009b: UN-Kinderrechtskonvention. Impulse für den Kinderschutz, S. 52 – 56

United Nations: General Comment No. 25 (2021) on Children’s Rights in Relation to the Digital Environment. 2021. Abrufbar unter: https://tbinternet.ohchr.org

Wold, T./Aristodemou, E./Dunkels, E./Laouris, Y.: Inappropriate Content. In: S. Livingstone/L. Haddon (Hrsg.): Kids Online. Opportunities and Risks for Children. Bristol 2009, S. 135 – 146