„Wir sind nicht perfekt!“

Kirsten Bruhn

In: tv diskurs. Verantwortung in audiovisuellen Medien
22. Jg., 4/2018 (Ausgabe 86), S. 52–55

Behinderte sind in den Medien stark unterrepräsentiert. Wenn sie doch einmal in Erscheinung treten, dann ist die Darstellungsweise meist defizitorientiert, das Handicap scheint die gesamte Person zu dominieren. Eine Ausnahme stellen die Paralympics dar. tv diskurs sprach mit Kirsten Bruhn, mehrfache Goldmedaillengewinnerin und eine der besten paralympischen Schwimmerinnen weltweit, über Sportler als Vorbilder.

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Was bedeutet das Schwimmen für Sie?

Beweglichkeit. Nicht behindert zu sein. Erinnerungen an die schönste Zeit meines Lebens.

Sie sind am Unfallkrankenhaus Berlin angestellt als Sportbotschafterin. Was machen Sie da?

Ich stehe mit meiner ganzen Person für Sport und Rehabilitation ein. Ich spreche z.B. mit Kindern, Jugendlichen und angehenden Sportlehrern darüber, was es heißt, nicht mehr alle seine Extremitäten oder seinen Geist so nutzen zu können, wie man es einmal konnte. Oder wie man es nie konnte. Ich hatte mit 21 Jahren meinen Unfall, habe also nicht von Geburt an meine Behinderung. Zu thematisieren, was es heißt, in dieser Gesellschaft ein Handicap zu haben, sich trotzdem beruflich und privat, vielleicht auch im Sport, zu etablieren, schafft Sensibilität. Viele Jugendliche kennen niemanden, der ein Handicap hat. Sie hatten noch nie die Gelegenheit, sich mit jemandem darüber zu unterhalten. Im Gespräch mit mir merken sie ganz schnell: Hey, die ist ganz normal, mit der kann man reden. Und wenn wir dann auch noch zusammen Sport treiben und ich ihnen – je nachdem, wie mutig sie sind – die Beine verbinde, sodass sie nachvollziehen, wie es ist, nur mit den Armen zu schwimmen, dann erleben und fühlen sie, was ich versucht habe, ihnen zu erklären. Ich vermittle praktisch und authentisch, was es heißt, ein Handicap zu haben und damit Sport zu treiben. Dazu gehört natürlich auch die Botschaft, dass es allgemein wichtig ist, sich mehr zu bewegen.

Haben Sie die Idee der Sportbotschafterin gemeinsam mit dem Unfallkrankenhaus entwickelt?

Es ist ein ziemliches Novum, das hat es so noch nie gegeben. Die Stelle wurde praktisch für mich kreiert. Den Anstoß gab der Film Gold – Du kannst mehr als du denkst, den wir 2012 anlässlich der Paralympics in London zusammen mit der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung gedreht haben. Er stellt drei Athleten aus verschiedenen Nationen vor, einen blinden Marathonläufer aus Kenia, einen australischen Rennrollstuhlfahrer und mich als Schwimmerin aus Deutschland. Kurt Fearnley, der australische Rennrollstuhlfahrer, hat seine Behinderung von Geburt an. Henry Wanyoike, der Läufer aus Kenia, hatte mit 21 Jahren einen Schlaganfall und ist über Nacht erblindet. Bei mir war es der Motorradunfall als Sozius. So ein Schicksalsschlag ist ein tiefer Einschnitt. Das sind Geschichten, die etwas mit den Zuschauern machen. Das sollte man weitertragen. Darüber sind wir zur Idee der Sportbotschafterin gekommen. Dieser Film und auch meine Biografie, mein Leben und wie ich es wieder zurückgewann, sind Türöffner, auch an Schulen.

Vorbilder sind ganz entscheidend. Ich habe 2013 eine Radiosendung gehört, in der Sie zu Gast waren. Ihre Geschichte hat mich sehr beeindruckt, auch, weil ich selbst zu dieser Zeit infolge einer Knie-OP ein halbes Jahr nicht laufen konnte. Ich habe gemerkt, dass Vorbilder eine große Rolle spielen dafür, ob man sich Dinge vorstellen kann oder ob man sie sich nicht vorstellen kann. Das kann schon sehr mit einer Person, einer Geschichte zusammenhängen.

Ja, es gibt Menschen, die sich in Situationen einfühlen können, die sie nie erlebt haben, und es gibt Menschen, die das nicht können. Entweder wurden sie bisher nicht mit dem Thema in ihrem Umfeld konfrontiert oder sie sind der Meinung, sich nicht damit beschäftigen zu müssen, da sie selbst gesund sind. Alles schön und gut. Allerdings glaube ich, dass es gut ist, sich gewisse Dinge theoretisch vorzustellen. Am besten nicht nur im Kopf, sondern mit dem ganzen Körper, weil man es dann besser nachempfindet. Das haben Sie in diesem Moment auch, weil Sie nicht gehen konnten.

Nur ganz ansatzweise, weil es ja Gott sei Dank vorübergehend war, aber ich war auch mit dem Rollstuhl unterwegs. Wenn man dabei merkt, wie man angeschaut wird, dann hat mir das eigentlich schon fast gereicht, um lieber zu Hause zu bleiben.

Ja, ja, genau.

Das ist eine große Ungerechtigkeit, dass man nicht nur das Handicap hat, sondern zusätzlich auch noch mit den Reaktionen der Leute umgehen muss. Wie erklären Sie sich, dass viele Menschen es so wenig ertragen können, wenn jemand ein Handicap hat?

Es ist nach wie vor ein Phänomen. Bei mir werden es jetzt 27 Jahre, die ich im Rollstuhl bin, und es ist nach wie vor so, dass es wehtut. Im Großen und Ganzen ist es einfach Angst. Es geht darum, nicht in dieser Situation sein zu wollen. Und die Reaktionen von anderen sind sehr unterschiedlich. Da sind neben Mitleid oder Ablehnung auch Respekt und Bewunderung. Und es kommen natürlich viele Fragen auf: Wie ist das passiert? Kommt sie noch mal raus aus dem Rollstuhl? Das sind aufwühlende Situationen, die Menschen dann manchmal auch einfach blöd reagieren lassen. Mit diesen Reaktionen muss ich täglich umgehen. Das kann ich nicht immer gut, aber ich muss, es ist nun mal mein Job, Contenance zu wahren. Man sagt immer, die Leute sollen doch fragen und um Gottes willen nicht mit irgendwas hinterm Berg halten. Das ist für mich alles okay, aber trotzdem darf man gern eine gewisse Distanz wahren und Hemmungen haben. Wenn ich beispielsweise fliege, habe ich oft Erlebnisse mit distanzlosen Reaktionen von Leuten. Oft lautet die erste Frage vom Sitznachbarn, nachdem man sich vielleicht noch „Guten Tag“ gesagt hat: „Was ist denn mit Ihnen passiert?“ Oder: „Ist es so schlimm, wie es aussieht?“ Einfach mal diese Worte auf sich wirken lassen: „Ist es so schlimm, wie es aussieht?“ Ja, wie sehe ich denn aus? Sehe ich so schlimm aus? Diesen Menschen ist nicht klar, was sie damit eigentlich sagen. Wir sollten unsere Vielfalt in Hautfarbe, Nationalität, Religionen oder auch Behinderung als etwas Positives sehen. Und als Herausforderung, voneinander zu lernen, den anderen in seiner Besonderheit wahrzunehmen und für seine Situation Verständnis zu entwickeln.

Die Paralympics sind nahezu das einzige Medienereignis, bei dem man Menschen mit Handicap im Fernsehen sieht. Warum ist die Konfrontation mit Behinderung im Kontext der Paralympics anscheinend erträglich, während sie ansonsten weitgehend vermieden wird?

Ich glaube, weil die Leistung im Vordergrund steht. Die bewundert jeder. Man bringt sich tagtäglich körperlich an die Grenzen, um weltweit on top zu sein. Immer wieder den inneren Schweinehund überwinden, immer wieder seine alltäglichen Probleme beiseiteschieben und sich auf ein Ziel konzentrieren. Sportler repräsentieren einen unbedingten Leistungswillen. Sie nehmen sich etwas vor, was schier unerreichbar erscheint, dann aber doch möglich ist. Dafür zollt man uns viel Respekt, wie den nicht behinderten Sportlern ja auch. Abgesehen davon sieht man schöne Körper. Das hat eine ganz eigene Faszination, schöne Körper, die einen offensichtlichen Makel haben. Das bringt einen zum Nachdenken, auch über unser Schönheitsideal.

Was müsste sich Ihrer Ansicht nach bei der Darstellung von Behinderung in den Medien ändern?

Wenn wir jetzt beim Sport bleiben, würde ich mir wünschen, dass es Patenschaften zwischen olympischen und paralympischen Athleten gibt. In Vorbereitung auf die nächsten Sommerspiele 2020 in Tokio kann ich mir beispielsweise gut vorstellen, dass diese Patenpaare während ihrer Wettkampfvorbereitung medial begleitet werden. Das würde die Empathie für diese Athleten steigern. Wenn sich die Zuschauer mit auf die Reise ins Training begeben, sich mit aufregen, mit emotional einfühlen, mit hoffen, die Qualifikation zu schaffen oder die persönliche Bestzeit zu erreichen, dann wachsen sie mit diesen Athleten emotional zusammen. Und es steigert die Sensibilität für ein körperliches Handicap. Alle haben ihre Ziele, alle haben mal ein Hoch, mal ein Tief und ihre alltäglichen Hindernisse und Herausforderungen. Egal, ob mit oder ohne Handicap. Ich glaube, das würde die Paralympics für die Zuschauer noch attraktiver machen, weil sie sich dann noch besser in die Leistung hineinversetzen könnten, die da abgeliefert wird. Beispielsweise denken viele, dass Blindsein bei Schwimmern gar kein echtes Handicap für den Vortrieb ist. Dann sage ich immer zu meinen Schülern: Spring einmal mit verbundenen Augen vom Startblock und versuche, dich zu orientieren, wo du bist. Bist du noch in der Bahn, oder bist du schon in der Nachbarbahn? Bist du näher am Grund, oder bist du näher an der Wasseroberfläche? Wenn man 50 Meter im Zickzack schwimmt, dann schwimmt man eigentlich 70 Meter. Also kann man gar nicht so schnell sein wie derjenige, der in der Spur gerade durchschwimmt, weil er sieht, wo er ist. Aufhören sollte auch dieses Eins-zu-eins-Vergleichen.

Was meinen Sie damit?

Bei der Leichtathletik z.B. hat man Hilfsmittel, ob das der Rollstuhl ist, ob das Prothesen sind, was auch immer. Da gibt es immer Diskussionen: Ist es gerecht und fair, wenn innerhalb eines Startfeldes der eine beim Weitsprung mit seinem fleischigen Bein abspringt und der andere mit seiner Prothese, die ihm vielleicht einen Vorteil verschafft? Zum Vergleich: Bei den olympischen Athleten gibt es in derselben Geschlechterklasse immer körperliche Unterschiede. Ein 1,96 Meter großer Schwimmer mit einer Armspannweite von 2,11 Metern tritt gegen jemanden an, der nur 1,70 Meter groß ist und auch nicht diese Spannweite hat, sprich, einfach auch nicht diesen Hebel hat, um entsprechend Wasserdruck auszuüben. Der muss so trainieren, dass er vielleicht diesen 1,96 Meter langen Jungen besiegt. Dieses Eins-zu-eins gibt es nicht. Jeder muss für sich Bestzeiten und Ziele definieren. Das sage ich auch immer zu unseren jungen paralympischen Athleten: Vergleicht euch bitte nicht mit irgendwelchen Weltrekordhaltern. Nehmen wir mich – in den Brustdisziplinen stehen nach wie vor meine Weltrekorde, Europarekorde und deutschen Rekorde. Es ist völlig egal, wie ich das gemacht habe. Der einzige Fokus sollte die persönliche Bestzeit sein. Entweder an diese Zeit ranzukommen oder sie zu überbieten. Alles Weitere ist utopisch. Utopische Ziele sollte man sich nicht setzen.

Um noch einmal auf Ihre Aufgabe als Sportbotschafterin zurückzukommen: Kümmern Sie sich auch um junge Leute, die einen Unfall gehabt haben?

Ja. Das ist allerdings höchst sensibel. Wenn ich da an mich selber denke und ein Athlet hätte damals an meinem Bett gestanden und gesagt: „Mach dir keinen Kopf, das wird schon alles wieder und du kannst Weltrekordhalterin in 100 Meter Brust werden“, dann hätte ich gesagt: „Schleich dich, da vorne ist die Tür.“ Damit muss man sehr vorsichtig umgehen. Wir haben einmal im Monat im Unfallkrankenhaus Meetings, wo alle, die einen Querschnitt haben, eingeladen sind, Fragen zu stellen und Antworten zu bekommen, auch Angehörige. Das ist immer gut besucht und wird dankbar angenommen. Auch einzelne Besuche von mir sind möglich. Das ist eine Möglichkeit, die ich damals auch gerne gehabt hätte. Nicht mit einem Arzt zu sprechen, der in der Theorie perfekt ist, sondern mit jemandem, der authentisch und aus eigener Erfahrung mit mir über gewisse Situationen reden kann. Über Emotionen, gerade auch im Zwischenmenschlichen, innerhalb der Familie. Das ist ein Schicksalsschlag für alle, nicht nur für mich, die ich im Bett lag und nicht mehr gehen konnte. Aus diesen Situationen wird ja zum Glück gelernt, sonst gäbe es so eine Tätigkeit, wie ich sie jetzt habe, nicht.
 

Zur Geschichte der Paralympischen Spiele:
Seit 1960 werden die Paralympics regelmäßig alle vier Jahre parallel zu den Olympischen Spielen ausgetragen. Als Begründer gilt der deutschjüdische, während der Nazizeit nach London emigrierte Neurologe Ludwig Guttmann. Er setzte Sport mit großem Erfolg als Therapie bei seinen querschnittsgelähmten Patienten ein. 1948 veranstaltete Guttmann auf dem Klinikgelände des Stoke Mandeville Hospitals den weltweit ersten offiziellen sportlichen Wettstreit von Behinderten. Die Teilnehmer waren ehemalige Soldatinnen und Soldaten, die aufgrund von Kriegsverletzungen im Rollstuhl saßen.

Kirsten Bruhn ist mehrfache Goldmedaillengewinnerin und eine der besten paralympischen Schwimmerinnen weltweit.

Christina Heinen ist Hauptamtliche Vorsitzende in den Prüfausschüssen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und Redakteurin der tv diskurs.