„Wir erleben eine moralische Revolution“

Maria-Sibylla Lotter

In: tv diskurs. Verantwortung in audiovisuellen Medien
23. Jg., 1/2019 (Ausgabe 87), S. 38-43

Empörung als moralisches Gefühl oder, wenn sie öffentlich geäußert wird, als soziale Sanktion entfaltet starke Wirkungen, im positiven wie im negativen Sinne. tv diskurs sprach mit Dr. Maria-Sibylla Lotter, Professorin und Inhaberin des Lehrstuhls für Ethik und Ästhetik am Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum, über die Bedeutung moralischer Gefühle für das Zusammenleben.

Vollständiger Beitrag als:

Wie entsteht Moral bzw. wie kommt es, dass Menschen bereit sind, sich moralisch zu verhalten?

Moral entwickelt sich in jedem menschlichen Zusammenleben. Unabhängig davon, ob es sich um eine komplexe Gesellschaft mit einer ausgefeilten Theologie oder Ethik handelt oder um eine kleine Gesellschaft von Sammlern im Regenwald mit geringer Kooperation. Die Menschen werden sich über bestimmte Verhaltensweisen freuen und entsprechend positiv darauf reagieren, andere wiederum werden abgelehnt. Daraus entwickeln sich gewisse Verhaltenserwartungen, also Normen und Regeln. Je mehr die Menschen darüber kommunizieren, desto mehr intellektuelle Vorstellungen vom Guten und Richtigen entwickeln sich, aber auch Vorstellungen von normativen Instanzen außerhalb der Gruppe. Also etwa die Vorstellung von einem Gott, der Menschen ein bestimmtes Gesetz gegeben hat, in dem bestimmte Dinge für alle verboten sind und andere nicht empfohlen werden. Bei heftigen Konflikten sind Institutionen hilfreich, die unabhängig von den Parteien Recht sprechen. Die entwickeln sich aber in der Regel nur in Staaten, in nicht staatlichen Gesellschaften versucht man es mit Verhandlungen. Religion hat sich in vielen traditionellen Gesellschaften als Verstärker der Moral entwickelt. Sie versieht dieselben Dinge, die im Alltagsleben unerwünscht sind, zusätzlich mit einer Drohung. So etwa in der altägyptischen Vorstellung, wie sie im Totenbuch niedergelegt ist: Wenn man die elementaren Pflichten des Zusammenlebens nicht realisiert, kommt man nach dem Tod in eine Situation, wo das eigene Herz gewogen wird. Wenn es für zu schwer befunden wird, wird es von einem Krokodil, das da schon sitzt und lauert, verschlungen. Dann hat man kein Nachleben, was in dieser Tradition aber eine ganz wichtige Rolle spielt. Hier hat die Moral zusätzlich eine kosmische Bedeutung bekommen und ist entscheidend für die Frage: Gibt es so etwas wie eine Weiterexistenz nach dem Tode?

Die religiöse Grundlegung der Moral ist also gar keine Grundlegung, sondern eher nur ein Zusatz. Menschen würden sich so oder so moralisch verhalten. Moral hat demnach in erster Linie den Sinn oder die Funktion, das Zusammenleben von Menschen erträglich zu machen?

Ja, das kann man ganz allgemein über Moral sagen: dass es überall gewisse Normen, Ideale und Regeln gibt, wie man sich verhalten und wie man sich nicht verhalten sollte. Darauf ist man in jeder Gesellschaft im Zusammenleben angewiesen, und das entwickelt sich auch überall. Es liegt im Interesse von jedem, sich mit den anderen zu vertragen. Da jeder natürlich auch andere Interessen hat und sich auch nicht immer beherrschen kann, Menschen zudem zur Selbsttäuschung neigen, führt das natürlich nicht automatisch dazu, dass sich die Menschen auch den moralischen Normen entsprechend verhalten. Daher sind soziale Signale als Warnungen und soziale Sanktionen wichtig, etwa eine empörte Reaktion oder Vorwürfe, um da, wo es hakt, das soziale Zusammenleben entsprechend einzupendeln.

Empört man sich über Gesetzesverstöße oder eher über Normenverstöße, also über etwas, was unterhalb der Ebene von „wirklich verboten“ passiert?

Das kann man nicht so generell sagen. Es gibt Gesetzesverstöße, die in bestimmten Gruppen als eine Art Kavaliersdelikt behandelt werden, z.B. Steuerhinterziehung. Das ist ganz klar ein Gesetzesverstoß. Aber meistens empören sich nur diejenigen, die nicht zu der Gruppe gehören, die das praktiziert und davon profitiert. „Kleine“ Verletzungen von Normen des Alltagslebens wie simple Unhöflichkeiten, schlecht gelaunte Reaktionen, Verweigerung von Hilfeleistungen hingegen können große Empörung hervorrufen, aber auch Formen von Rassismus und Sexismus, die keine strafbaren Beleidigungen darstellen.

Ist Empörung geeignet, um moralisches Verhalten zu stimulieren, oder verpufft sie in der Regel?

Empörung ist normalerweise extrem effektiv. Wenn man in seinem Verhalten oder in seinem Sprechen auf die schiere Empörung von anderen stößt, hat das eine sehr starke Wirkung. Menschen sind Sozialwesen, und selbst dann, wenn sie nicht irgendwelche unangenehmen Fernwirkungen von dieser Empörung zu erwarten hätten, wie etwa entlassen oder angezeigt zu werden, wirkt sich das unmittelbar aus. Personen entwickeln dann schnell Schuldgefühle, auch wenn sie sich selbst eventuell gar nicht bewusst sind, etwas falsch gemacht zu haben. Und sie schämen sich, was ihr Selbstwertgefühl angreift. Mit Empörung regulieren sich Gesellschaften unmittelbar selbst. Das kann auch sehr repressive Formen annehmen. Deshalb ist das offene Zeigen von Empörung in den meisten Gesellschaften, die Wert auf ein kultiviertes Miteinanderleben legen, unter Erwachsenen unüblich bzw. nur zwischen bestimmten Personen etwa in Erziehungssituationen erlaubt – weil es so starke Wirkungen hervorruft.

Wir erleben einen Wandel im Umgang mit Empörung. Empörung ungefiltert zu äußern, hat vor allem im Internet, in den sozialen Medien zugenommen. Wenn man sich gegenübersäße, würde man wahrscheinlich nicht so stark reagieren, wie es im Netz geschieht.

Ja, das liegt daran, dass man im direkten Kontakt bemüht ist, die soziale Situation erträglich zu halten, und auch eine gewisse Empathie für das Gegenüber aufbringt, auch wenn man ihm nicht zustimmt. Im Internet fehlt die Nähe zum Gegenüber, die einen von verletzenden Handlungen abhält.

Empörung scheint etwas zu sein, was Kommunikation unterbindet, eine so heftige Reaktion, dass ein Dialog darüber, was Empörung hervorgerufen hat, kaum mehr möglich ist.

Ja, das liegt daran, dass Empörung eine Ungleichheit erzeugt zwischen der Person, die sich empört, und der, über die sie sich empört. Wenn ich mich über eine andere Person empöre, dann behaupte ich ja, dass sie sich falsch verhalten hat und Empörung verdient, und damit begebe ich mich immer schon in die höhere Position der Richterin. Ich verurteile sie moralisch. So entsteht eine Ungleichheit, die auf der anderen Seite als starke Demütigung erlebt wird und entweder Scham oder Wut hervorruft. Sie möchte im Boden versinken, oder sie wird wütend aufgrund der Anmaßung: „Du bist schlechter als ich, ich kann über dich urteilen.“ Oder beides.

Ein Nachdenken darüber, was Empörung hervorruft und ob sie in diesem Fall wirklich gerechtfertigt ist, findet dann nur noch selten statt. Wenn man empört ist, hat man das Gefühl, auf der richtigen Seite zu sein. Eine Art „gerechter Zorn“, der nicht mehr hinterfragt wird.

Sie müssen allerdings berücksichtigen, dass Empörung zwar sehr destruktiv sein kann, aber auch sozial nützlich. Moralische Gefühle wie Empörung über Ungerechtigkeit motivieren Menschen, gegen Ungerechtigkeiten vorzugehen. Nehmen wir an, Ihr Chef verhält sich Ihnen gegenüber unfair oder demütigend. Sie wissen aber, dass es Ihnen schaden könnte, wenn Sie jetzt etwas dagegen unternehmen. Wenn Sie nicht wütend oder empört wären, dann würden Sie gar nichts unternehmen, weil Sie dadurch ja vermutlich mehr zu verlieren als zu gewinnen haben. Aber die Wütende und Empörte kann sich nicht damit zufriedengeben. Sie wird trotzdem versuchen, andere davon zu überzeugen, dass sie ungerecht behandelt wurde, und das ist wichtig. Der Chef würde ja vielleicht nie darauf aufmerksam, dass er sich schlecht verhält, wenn alle Angestellten nur mit Blick auf ihr Eigeninteresse reagieren, also ihren Ärger hinunterschlucken würden. Das fördert bei Chefs die Selbsttäuschung, die ist ohnehin oft ein kollektives Produkt. Und dann würde die Situation für alle immer schlechter. Es ist wichtig, dass wir versuchen, uns gegen Ungerechtigkeiten zu wehren. Empörung, moralischer Zorn und dergleichen sind ungeheuer produktive Gefühle, die eine unverzichtbare Funktion für das Zusammenleben haben; man muss nur berücksichtigen, dass sie auch eine destruktive Eigendynamik entwickeln können.

Moral und sich moralisch zu verhalten, ist das in erster Linie eine Sache der Emotionen? Oder etwas, was man rational beschließt, weil man vernunftbegabt ist und sieht: Anders können wir nicht zusammenleben?

Beides. Kant sagt ganz richtig, dass es zwei Quellen der Erkenntnis gibt. Die eine sind die Empfindungen, die andere die Begriffe. Kinder lernen aus Erfahrungen, die in ihnen Gefühle hervorrufen. Auf was die Eltern mit Ärger reagieren, was sanktioniert wird, was gelobt wird. Das macht einen stolz – oder führt zu Beschämung. So lernt man Regeln wie z.B., dass man anderen nichts wegnehmen oder nicht lügen darf. Wenn man älter wird, fängt man aber auch an, einzelne Regeln infrage zu stellen. Und dann diskutieren wir Gründe für die Regeln und stellen eventuell auch die Frage: Gibt es allgemeine Prinzipien, die diesen Gründen zugrunde liegen? Lässt sich etwa die goldene Regel, dass man andere so behandeln sollte, wie man selbst behandelt werden möchte, auf alles anwenden? Gibt es bestimmte Verbote wie das Verbot, andere zu töten oder zu misshandeln, die einfach vernünftig sind? Diese rationale Ebene sollte immer eine Rolle bei der kritischen Wahrnehmung unserer Gefühle spielen, denn es kann immer sein, dass wir Gefühle entwickeln, die dazu führen, dass wir uns unfair gegenüber anderen Menschen verhalten. Beispielsweise Homosexualität: Noch vor 50 Jahren hätten wir vermutlich mit Empörung auf ein Verhalten reagiert, an dem überhaupt nichts auszusetzen ist, wenn man es einfach rational nach dem utilitaristischen Prinzip bewertet, dass erlaubt ist, was keinem schadet und Freude macht. Unsere Gefühle sind nicht geschichtslos, sondern beispielsweise geprägt durch die Normen einer an der Fortpflanzung ausgerichteten christlichen Sexualethik. Wir sind ja Wesen, die sich von ihren sozialen Traditionen auch intellektuell distanzieren können, und auch das gehört zur Moral. Wir können uns im Prinzip immer fragen: Wie begründen wir unsere Haltung? Gelten die Normen, an die wir uns gewöhnt haben, oder sind diese aus anderer Richtung kritisch zu betrachten? Da brauchen wir übrigens nicht nur Vernunft, sondern auch Meinungsfreiheit – ohne die Auseinandersetzung mit anderen Meinungen könnten wir unsere eigenen nicht kritisch betrachten. Von Mark Twain gibt es diesen schönen Roman Huckleberry Finn, mit diesem kleinen Ort, Hannibal, den er auch in seiner Autobiografie beschreibt. Ein Ort, wo lauter wunderbar warmherzige, nette, sympathische und sehr moralische Menschen leben, für die es aber vollkommen selbstverständlich ist, Sklaven zu halten, und die es sich als einen Albtraum von Immoralität vorstellen, dass im Norden Menschen leben, die sich dafür einsetzen, dass die Sklaverei abgeschafft wird. Was für sie unter ethischen Gesichtspunkten undenkbar ist. Da alle so denken, kommt man gar nicht dazu, zu hinterfragen, wie die Sklaverei mit den christlichen Grundwerten vereinbar ist. Der Pfarrer ist ja derselben Meinung, und die Frage, ob die anderen eventuell recht haben könnten, dass die Sklaverei in Wirklichkeit ein schweres Verbrechen ist, kommt gar nicht erst auf. Wenn man sich nur innerhalb derselben Meinungskultur bewegt, ist es psychologisch so gut wie unmöglich, die Vorstellung in Erwägung zu ziehen, dass etwas an dieser Lebensform grundlegend unmoralisch sein könnte.

Insofern liegt natürlich eine große Chance darin, dass wir heute mit so unterschiedlichen, manchmal ja auch schwer erträglichen Meinungen konfrontiert sind. Viel stärker, als es vor dem Internet der Fall war.

Was meinen Sie mit schwer erträglichen Meinungen?

Homophobie z.B. ist für mich schwer erträglich. Diesbezüglich finde ich die Political-Correctness-Normen gut, die Leuten, die immer noch so denken, den Mund verbieten. Ich weiß zwar, dass die nach wie vor so denken. Ich glaube aber, dass ich das nicht ändern kann. Da schafft Political Correctness für mich einen gewissen Freiraum, ich weiß: So was muss ich mir heute nicht mehr anhören. Das finde ich gut, auch wenn ich Redeverbote ansonsten eher kritisch sehe, weil ich denke, man muss einen gewissen Diskurs aushalten. Meinungsfreiheit zeigt sich natürlich nicht da, wo Leute Dinge äußern, die ich ohnehin okay finde, sondern da, wo Leute Dinge äußern dürfen, die ich eigentlich unerträglich finde.

Einerseits würde ich Ihnen zustimmen, dass man sich sehr gut überlegen sollte, ob es etwa zumutbar wäre, homophoben Personen eine Plattform für ihre homophoben Äußerungen in Talkshows zu bieten. Denn das würde viele Zuschauer, mindestens die Homosexuellen, verletzen und brüskieren. Eine andere Frage ist, ob man das so tabuisieren sollte, als gäbe es das gar nicht. Und ob man die Nachteile, die mit einer Einschränkung der Meinungsfreiheit verbunden sind, wirklich in Kauf nehmen möchte. Ich denke, man muss immer abwägen, ob eine Situation da ist, die wirklich Schaden bei den Betroffenen anrichtet. Das wäre ganz klar der Fall, wenn etwa Homophobie in einem Land von denjenigen, die wirklich Macht haben, gepredigt wird. Dann müssten Homosexuelle damit rechnen, infolge dieser Äußerungen verfolgt oder verletzt zu werden.

Ist Scham ein moralisches Gefühl?

Scham ist ganz allgemein ein Gefühl, das unserer Verletzbarkeit im sozialen Raum entspringt. Wir werden uns als Wesen gewahr, die einer sozialen Aufmerksamkeit ausgesetzt und dabei sehr verletzbar sind. Da spielen moralische Themen natürlich eine große Rolle, etwa wenn man sich aufgrund des Eindrucks schämt, man könnte eventuell von anderen als jemand wahrgenommen werden, der sich unmoralisch verhalten hat, rassistisch oder sexistisch – oder was auch immer gerade den sozialen Code verletzt. Aber es kann auch sein, dass Sie auf einer Party merken, Sie sind dafür nicht richtig angezogen. Scham kann also ein moralisches Gefühl sein, aber man kann sich auch aus anderen Gründen schämen.

Geht es immer um die Wahrnehmung durch andere?

Es gibt auch Scham, die allein durch eine Selbstwahrnehmung ausgelöst wird ohne jede Überlegung, wie einen andere wahrnehmen könnten. Etwa wenn man sich selbst betrachtet, so wie man tatsächlich ist oder sich verhalten hat – sagen wir, sehr grob –, im Unterschied zu dem, wie man sein möchte: kultiviert. Und das kann etwas sein, was im Stillen stattfindet. Eine Wahrnehmung, die bei dem einen heftige Scham auslöst, ist aber nicht für alle Leute beschämend. Es hängt sehr davon ab, wie stark Sie sich mit bestimmten Selbstbildern identifizieren und wie ehrlich Sie Ihrerseits auch sind. Wer sich sehr stark mit bestimmten Idealen identifiziert, wie man sein sollte, und gleichzeitig imstande ist, sich selbst sehr gnadenlos zu sehen in der Differenz dazu, kann eine heftige Scham empfinden, auch wenn gar keine Gefahr besteht, dass andere ihn verurteilen.

Viele Menschen hängen der Vorstellung an, dass Moral etwas Feststehendes ist. Feststehende Regeln, feststehende Normen, die für alle verbindlich sind und die sich höchstens insofern verändern, als Moral vermeintlich schwindet. Leben wir in unmoralischen Zeiten oder ist Moral etwas, was sich wandelt und auch immer wieder neu bestätigt oder hergestellt werden muss? Im Bereich der Sexualmoral z.B. kann man beobachten, dass es vor 60 Jahren feststehende Regeln gab: Ehebruch galt als verwerflich, im Scheidungsrecht war das Verschuldensprinzip ausschlaggebend. Diese Regeln haben vielfach eine Schwächung erfahren, andererseits wurde der Grundwert der sexuellen Selbstbestimmung aber gestärkt. Das zeigt sich beispielsweise in der zunehmenden Ächtung von Kindesmissbrauch oder der Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe. An die Stelle allgemein verbindlicher Regeln ist eine Verhandlungsmoral getreten. Gibt es in anderen Bereichen der Moral vergleichbare Entwicklungen?

Ich glaube nicht, dass die Vorstellung stimmt, dass früher alles eindeutig war, heute jedoch einem ständigen Wandel unterworfen ist. In Gesellschaften, die sich sozial und wirtschaftlich wandeln, hat sich immer auch die Moral gewandelt. In sehr abgeschottet lebenden Gesellschaften, z.B. kleinen Jäger- und Sammlergruppen im Regenwald, die wenig Außeneinflüssen ausgesetzt sind, verändert sich natürlich nicht so viel. Was das Aushandeln auf der Ebene der Sexualmoral angeht, vermute ich, dass im 18. und 19. Jahrhundert zu Zeiten, als die Ehescheidung noch nicht möglich war, zumindest in bürgerlichen oder großbürgerlichen Gesellschaften sehr viel ausgehandelt wurde zwischen den Ehepartnern, bloß drang das nicht so nach außen. Beispielsweise, ob offizielle oder inoffizielle Außenbeziehungen möglich sind. Da gab und gibt es Gepflogenheiten innerhalb bestimmter Schichten, die nichts mit dem offiziellen Moralkodex zu tun haben, die aber regeln, was im Prinzip möglich und verhandlungsfähig ist – und was gar nicht infrage kommt.

Das ist bei uns sicher im Wandel, aber vor allem hat eine moralische Revolution stattgefunden: die Sensibilisierung für ungerechte und demütigende Formen von Ungleichbehandlung, die noch bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts als eine natürliche Minderwertigkeit von Frauen und Dunkelhäutigen angesehen wurden – auch von diesen. Diese moralische Revolution begann mit dem Ende der Segregation in den USA seit den 1960er-Jahren, also nach den Bürgerrechtsbewegungen. Sie hat dazu geführt, dass Rassismus zunehmend als etwas völlig Inakzeptables gilt, ebenso herabsetzende Bemerkungen über Frauen – auch wenn beides natürlich noch vorkommt. Hinzu kommt die veränderte nationale Selbstwahrnehmung mit Blick auf die Verbrechen der Kolonialzeit und den Holocaust. Das sind moralische Themen, die man nicht als verhandelbar bezeichnen kann. Insofern könnte man sogar sagen, dass der unverhandelbare Teil der Moral erweitert worden ist, zusätzlich zu dem verhandelbaren.

Können Sie den Unterschied zwischen Schuld und Verantwortung erklären? Bezogen auf den Holocaust wird mitunter geäußert: Wieso trage ich Schuld daran, ich war nicht dabei, noch gar nicht geboren, was habe ich damit zu tun? Eine mögliche Antwort lautet dann: Schuld vielleicht nicht, aber Verantwortung schon.

Schuld ist ein mehrdeutiger Begriff. Er umfasst Verursachung, Schulden und Vorwerfbarkeit. Wenn es so gemeint ist, dass wir von unseren Eltern und Großeltern sozusagen historische Schulden übernommen haben – d.h. Belastungen durch vergangene Verbrechen, für die wir zwar nichts können, die jedoch von unserer nationalen Identität nicht abtrennbar sind und uns mit den Schicksalen der Nachkommen der damaligen Opfer verbinden –, dann habe ich kein Problem mit der Rede von Schuld. Schuld bedeutet jedoch im heutigen Gebrauch fast immer auch Vorwerfbarkeit, und vorwerfbar können einem Menschen nur Dinge sein, die in seiner Macht liegen. Wenn jedoch gegenwärtigen Gruppen im Ton des Vorwurfs eine Schuld an Verbrechen zugeschrieben wird, die andere Menschen in der zurückliegenden Vergangenheit auf sich geladen haben, dann ist das problematischer als der christlich-theologische Gedanke der sogenannten Erbschuld, die sich ja immerhin über die ganze Menschheit vererbt; der Gedanke der ererbten Kollektivschuld unterscheidet ja unschuldige Opferkollektive von schuldigen Täterkollektiven. Sie bezieht sich dann auf eine ererbte moralische Defizienz. Das führt nicht zu einer konstruktiven moralischen Haltung, sondern zu moralischer Erpressbarkeit.

Sinnvoller scheint es mir, wenn man mit Blick auf die Kolonialzeit oder die Verbrechen des Nationalsozialismus sagt: Ich gehöre einem Staat an, dessen Vorgängerstaaten von einer Ausbeutung profitiert haben, die historisches Unrecht war, und das legt mir eine gewisse Verantwortung für die Zukunft auf, besonders mit Blick auf die Nachkommen der Opfer. Ich fühle mich etwa mitverantwortlich dafür, als Steuerzahlerin die Folgeschäden zu mildern – also politisch und moralisch haftbar, aber ohne, dass ich mich als Person oder als Mitglied eines Staatswesens moralisch minderwertig und durch andere erpressbar fühle.

Menschen tendieren dazu, sich irgendwann von Schuldzuschreibungen befreien zu wollen und sich dagegen zu wehren.

Man hätte nichts ändern können an Dingen, die vergangene Generationen getan haben, und wenn man sich dann trotzdem dem Druck ausgesetzt fühlt, sich dafür schuldig zu fühlen und das möglichst oft zu bekunden, um auf der richtigen Seite zu stehen, dann fördert das bei den einen moralischen Übereifer, bei den anderen löst es eine dumpfe Wut aus. Etwa wie bei der berühmten Paulskirchenrede Martin Walsers, wo er sich von der Erinnerungskultur distanziert hat. Das fand ich damals einen unglaublichen Affront von Walser und konnte seine Haltung gar nicht verstehen, aber inzwischen ist es mir doch nachvollziehbar. Er verwahrte sich dagegen, dass ihm ein Gefühl aufgetragen wird, das ihn selbst in seiner Integrität beschädigt und in seiner Freiheit einschränkt. Das ist aber nicht der Fall, wenn wir uns eines verdeutlichen: Wir sind Wesen mit einer Geschichte, die auch der Gegenwart noch Verpflichtungen auferlegt, dafür tragen wir Verantwortung. Aber das bedeutet weder, dass wir uns wie elende Sünder fühlen müssen, noch dass wir uns von der Schuld durch ein ständig vorbildlich zur Schau getragenes Schuldbewusstsein erlösen können. Der Holocaust ist nicht vergebbar, auch nicht durch pseudochristliche Akte der Übernahme der Schuld früherer Generationen – diese vermeintliche Demut ist nur eine verquere Form von Sündenstolz.

Dr. Maria-Sibylla Lotter ist Professorin und Inhaberin des Lehrstuhls für Ethik und Ästhetik am Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum.

Christina Heinen ist Hauptamtliche Vorsitzende in den Prüfausschüssen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und Redakteurin der tv diskurs.