Wie ticken Jugendliche?

Ergebnisse der SINUS-Jugendstudie 2020

Daniel Hajok

Dr. Daniel Hajok ist Kommunikations- und Medienwissenschaftler, Honorarprofessor an der Universität Erfurt sowie Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Kindheit, Jugend und neue Medien (AKJM).

Bereits zum vierten Mal legt das Heidelberger SINUS-Institut seine Studie Wie ticken Jugendliche? vor. Auch die aktuelle Ausgabe gibt profunde, sehr anschauliche Einblicke in die Werte- und Lebenswelten 14- bis 17-Jähriger, die auf innovativen qualitativen Zugängen im Frühjahr 2019 fußen. Auf Basis einer Nacherhebung während des Lockdowns 2020 zeigt die Studie zudem auf, wie die Jugend die Coronakrise zu dieser Zeit wahrgenommen hat.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 4/2020 (Ausgabe 94), S. 8-11

Vollständiger Beitrag als:

Werte und Lebenswelten Jugendlicher

„Jugendliche teilen vor allem soziale Werte sowie den Wunsch nach Leistung und Selbstbestimmung.“ So fasst die Studie den Wertekanon der jungen Generation gleich zu Beginn zusammen. Tatsächlich lassen die erfassten Konzepte und Überzeugungen der Jugendlichen ein breites Wertespektrum erkennen, das neben einigen universellen Werten, die von (fast) allen geteilt werden, auch eine Vielzahl lebensweltspezifischer Werte enthält. Durchweg wichtig sind den Jugendlichen demnach soziale Werte wie Familie, Freunde, Vertrauen, Ehrlichkeit und Treue. Ebenso sind humanistische Werte wie Hilfsbereitschaft, Toleranz und Empathie fest in der jungen Generation verankert. Auch Leistungsbereitschaft und Selbstbestimmung sind als universelle bzw. jugendtypische Werte herausgearbeitet, wobei es der Jugend weniger (intrinsisch motiviert) um Leistung der Leistung willen geht, auch nicht unbedingt um Luxus und maßlosen Reichtum, sondern vielmehr um Leistung im Beruf, der – dem Wettbewerbsprinzip folgend – zu Wohlstand führen soll.

Die lebensweltspezifischen Werte werden in der Studie zu drei normativen Grundorientierungen verdichtet, die bei der Zielgruppe allerdings keiner Entweder-­oder­-Logik folgen und sich methodisch bedingt einer generalisierbaren Quantifizierung versperren. Bei der Grundorientierung „Absicherung“ kommen die Orientierung an Autoritäten, die Affirmation der bestehenden Ordnung und der Wunsch nach sozialem Anschluss zusammen. Es geht um verlässliche Strukturen und sichere materielle Verhältnisse. Anstatt die (Erwachsenen‑­)Welt infrage zu stellen, versuchen die Jugendlichen, ihren Platz in ihr zu finden. Hinter der Grundorientierung „Bestätigung und Benefits“ stehen vor allem Werte der gesellschaftlichen Mitte – es geht um Mode und Konsum, Besitz und Bildung, um eigene Wünsche und Pflege sozialer Beziehungen, ohne sich Chancen auf Wohlstand und Aufstieg zu verbauen. Sozial, ökonomisch und kulturell bedingt suchen die Jugendlichen Bestätigung – durch Statussymbole, Anpassungsbereitschaft, kulturell­intellektuelle Überlegenheit. Bei der Grundorientierung „Charisma“ zielen die Werte und Tugenden auf Außeralltäglichkeit. Hier geht es Jugendlichen darum, „zu neuen Ufern aufzubrechen“, Bewährtes infrage zu stellen und sich vom Mainstream abzugrenzen, spannende Herausforderungen zu suchen und dabei auch Risiken einzugehen.


Die skizzierten Grundorientierungen sind auch der zentrale Hintergrund für die im SINUS­-Modell extrahierten sieben Lebenswelten Jugendlicher. Wie in den Studienausgaben zuvor sind sie mit eher plakativen, teils modifizierten Labels überschrieben, wobei die anschließenden differenzierten Betrachtungen fast 150 Seiten des Ergebnisberichts füllen. Adaptiv-Pragmatische bilden demnach das Zentrum der heutigen jungen Generation. Sie repräsentieren den leistungs- und familienorientierten Mainstream mit hoher Anpassungsbereitschaft, haben eine mittlere oder hohe Bildung und sind stark an Bestätigung und Benefits orientiert. Traditionell-Bürgerliche finden sich in allen Bildungsschichten. Sie sind – wie auch die niedriger gebildeten Konsum-Materialisten und Prekären mit schwierigen Startvoraussetzungen – vor allem an Absicherung orientiert. Den Experimentalisten und höher gebildeten Expeditiven und Postmateriellen geht es sowohl um Bestätigung und Benefits als auch um Charisma.
 

Alltagszufriedenheit, Interessen, kulturelle Präferenzen

Was den eigenen Alltag im Jahr 2019 betrifft, zeigt sich eine große Zufriedenheit der jungen Generation. Knapp ein Viertel der weiblichen und mehr als ein Drittel der männlichen Befragten waren sogar „sehr zufrieden“ mit ihrem Alltag. Besonders bedeutsam für die Zufriedenheit ist, ausreichend Zeit zu haben (für Freunde, zum Chillen, für die Familie, Freizeitaktivitäten etc.) sowie persönliche Erfolge zu erzielen (in der Schule, im Sport etc.). Leistungsdruck und Zeitmangel (vor allem infolge schulischer Anforderungen) sind demgegenüber zentrale Faktoren für Unzufriedenheit mit dem eigenen Alltag.

Während die bildungsfernen Konsum-Materialisten und Prekären „zu viele Hausaufgaben“ und „zu lange Schultage“ beklagen, sorgt bei den bildungsnahen Postmateriellen und den Expeditiven nicht selten ein selbst auferlegter Leistungsdruck für Unzufriedenheit.


Hinsichtlich der Freizeitinteressen bestätigt sich ein schon länger bekanntes Bild: Mädchen wie Jungen bringen ihre Freizeit am liebsten mit dem Treffen von Freunden zu. Auch „draußen sein“, Sport und Musik sind noch immer beliebt und nicht zuletzt für die Stressbewältigung bedeutsam. Ein Leben ohne Sport ist für die meisten 14- bis 17­-Jährigen – unabhängig vom Geschlecht und ihrer (modellierten) Lebenswelt – sogar unvorstellbar. Zentrale Motive für sportliche Aktivitäten sind die eigene Gesundheit, Auspowern und Sport als Ventil, Anschluss und Gemeinschaft, sportliche Erfolge, Spaß und Leidenschaft. Was die Musikpräferenzen anbetrifft, ist Rap das mit Abstand wichtigste Genre. Eine besondere Rolle spielt Rapmusik für die Prekären und Konsum-Materialisten – vor allem bildungsfernen männlichen Heranwachsenden bieten sich hier Identifikation und Ausdrucksmöglichkeit. Im Weiteren ist die Jugend stark an Pop (Charts, 80/90er etc.) und Elektro (Techno, Dubstep etc.) interessiert. Heranwachsende in bildungsnahen und „individualitätsgetriebenen Lebenswelten“ wollen sich allerdings nicht auf eine bestimmte Präferenz festlegen lassen. Nicht zu vergessen: Rund ein Fünftel der befragten 14- bis 17‑Jährigen spielt selbst Musik.

Abgesehen davon werden in der Studie Serien und Filme, das Lesen sowie Marken und Style als kulturelle Präferenzen der jungen Generation herausgestellt. Serien und Filme werden von den meisten kaum noch im linearen Fernsehen gesehen, sondern gestreamt bzw. abgerufen (vor allem bei Netflix). Hoch im Kurs stehen US-­amerikanische Produktionen; Drama, Comedy, Fantasy und Mystery, Action und Thriller sind die beliebtesten filmischen Genres. Die Affinität für das Lesen (Magazine, Bücher etc.) ist demgegenüber deutlich schwächer ausgeprägt und bleibt „eindeutig eine Frage der Bildung“: Die meisten Lesebegeisterten finden sich bei den bildungsnahen Postmateriellen und Expeditiven. Beliebte Genres sind Fantasy, Krimis, Action und Thriller. Mit Blick auf Marken und Style ist die junge Generation klar an Nike und Adidas gebunden, die Affinität zu Fashion und Lifestyle stark mit dem jeweiligen lebensweltlichen Hintergrund verbunden.
 

Schule, politische Teilhabe, (berufliche) Zukunft

Wohl fühlt sich die junge Generation in erster Linie im Kreis von Freunden und Familie, aber auch allein in den privaten Rückzugsräumen – auch das eigene Bett ist ein wichtiger „Wohlfühlort“. Momente des Unwohlseins erleben Jugendliche in erster Linie in der Schule. Das Verhältnis zu Mitschülern und Lehrerinnen und Lehrern, konstruktive Fehlerkorrektur und aktive Unterrichtsbeteiligung sind hier zentrale Einflüsse, aber auch Leistungsdruck und Überforderungsgefühl sowie die Akzeptanz schulischer Regeln spielen eine Rolle. Von zentraler Bedeutung für das schulische Wohlbefinden ist ein „harmonisches soziales Netzwerk“. Erwartungsgemäß fördert auch eine gute Beziehung zu den Lehrkräften das Wohlbefinden, genauso wie eine aktive Beteiligung am Unterricht, wozu vor allem Themen mit Alltagsbezug, Verwertbarkeit des Erlernten und Relevanz für die eigene Zukunft beitragen. Ebenso steigt das Wohlbefinden mit jung gebliebenen, coolen und empathischen Lehrkräften, die didaktische Kompetenzen haben und für ihre Fächer „brennen“, sowie in Lernsettings mit klar definierten Aufgaben, angemessenem Zeitbudget, kooperativer Lernatmosphäre und Freiraum für Kreativität.

Von der Politik hatte die Jugend auch im Jahr 2019 eine eher negative Wahrnehmung. Gut die Hälfte der Befragten assoziiert mit „Politik“ zunächst einmal negative Aspekte: Aversion und Desinteresse, Umweltprobleme bzw. die Klimakatastrophe sowie Politikverdrossenheit stehen hier ganz oben. Die wichtigsten politischen Themen, wegen derer die Jugendlichen die (aktuelle) Regierung und Politiker auch in die Pflicht nehmen, waren vor der Coronakrise der Klimawandel, Migration, Diskriminierung, Urheberrecht, Armut und Umweltschutz. Was das Vertrauen in Institutionen betrifft, genießen Stadt- und Gemeindeverwaltungen, die Polizei und Krankenkassen das größte Vertrauen, politische Parteien das geringste. „Ideale Politikerinnen und Politiker“ sind aus Sicht der Jugend „verständnisvolle, gemeinwohlorientierte Demokraten“, die gerecht, fair und bürgernah agieren. Auch wenn die 14- bis 17‑Jährigen die akzeptierten Formen politischer Partizipation (Wahlen, Meinungsaustausch, Demonstrationen etc.) kennen, sind sie „nur sehr selten politisch aktiv“. Unabhängig vom Bildungshintergrund ist für sie der Umwelt- und Klimaschutz das Thema Nummer eins, für das sie sich engagieren (würden).

Die Vorstellungen von der eigenen Zukunft sind stark an der bürgerlichen Normalbiografie orientiert – es geht um Mittelstandsjob, feste Beziehung, Kinder und Haustier, Auto, Haus und Ferien:

In der Mitte der Gesellschaft anzukommen, ist der größte Zukunftswunsch der meisten Jugendlichen.

Vielleicht etwas überraschend blickt die Mehrheit der jungen Generation optimistisch in die Zukunft. Klare Ziele und Wünsche, Vertrauen in die Normalbiografie, Erfolg in der Schule, ein Selbstbild als guter Mensch, die Absicherung durch Familie und Freunde, eine Down-­to-­Earth­-Mentalität und positive Lebenseinstellung stimmen die Jugend positiv, allgemeine Ungewissheit, soziale Barrieren, Schulprobleme, schlechte Erfahrungen, Angst vor der Leistungsgesellschaft und eine depressive Einstellung stimmen negativ. Die Vorstellungen von der eigenen beruflichen Zukunft sind weniger an den medial repräsentierten Vorlagen erfolgreicher Influencer und Models orientiert, sondern an klassischen Berufen im Gesundheits- und Sozialwesen, Handel und Verwaltung (vor allem bei Mädchen) sowie in Handwerk, Technik und Naturwissenschaft (vor allem bei Jungen). Die wenigsten der 14- bis 17­‑Jährigen haben sich allerdings bereits für einen Beruf entschieden, wobei Eltern, Geschwister und Praktika die wichtigsten Quellen für die Berufswahl darstellen.
 

Wahrnehmung der Coronakrise und ihrer Folgen

Mitten im Lockdown nach ihren spontanen Assoziationen zu Corona gefragt, zeigt sich, dass die 14- bis 17-­Jährigen damit überwiegend Negatives verbinden. Ganz vorn stehen die „Einschränkung persönlicher Freiheit“ und die Gesundheitsgefahren (durch eine „tödliche Krankheit“). Häufig wird Corona auch als „gefährliche Krise“ gesehen und mit Genervtheit und Langeweile, sozialer Isolation, Unsicherheit und Angst sowie Zukunftssorgen in Verbindung gebracht, wobei sich die weiblichen Heranwachsenden eindringlicher bzw. besorgter zeigen als die männlichen. Festgemacht am „Schulfrei“ und dem Gefühl von „Solidarität“ in Krisenzeiten sieht nur eine kleine Gruppe in Corona zunächst etwas Gutes.


Gerade emotional hat die Krise die Jugendlichen sehr belastet: Für die mit Abstand meisten war die Zeit mitten im Lockdown mit negativen Emotionen, vor allem mit Angst und Unbehagen, Verunsicherung und Trauer verbunden. Ähnlich häufig erlebte die Jugend die Krise gelangweilt, verärgert, gestresst oder angespannt, wobei soziale Isolation, wirtschaftliche Sorgen in der Familie, die unsichere schulische Zukunft, gestörte Alltagsstrukturen und Rituale sowie ein Lagerkoller die zentralen „Stressoren“ waren. Bei den gestützt abgefragten konkreten Sorgen haben die meisten Jugendlichen die eigene Gesundheit bzw. die ihrer Angehörigen und Freunde im Blick, wobei ihr Bewusstsein für gesundheitliche Eigenverantwortung ausgeprägt war und geltende Hygiene- und Abstandsregeln nicht nur präsent waren, sondern auch umgesetzt wurden. Fast die Hälfte sorgte sich im Lockdown um die (eigene) Zukunft, jeweils ein Drittel um die Freizeitmöglichkeiten sowie die familiäre finanzielle Lage oder wirtschaftliche Situation, gut ein Viertel um den Zusammenhalt in der Gesellschaft bzw. um die Demokratie allgemein oder die persönliche Freiheit speziell.

Der Informationsbedarf war zu dieser Zeit auch in der Jugend sehr hoch und wurde vor allem medial gestillt.

Öffentlich­rechtliche Nachrichten (vor allem die Tagesschau) wurden interessanterweise am häufigsten und als glaubwürdigste Informationsquelle genutzt. Häufig recherchierten die Jugendlichen auch selbst im Netz oder informierten sich über (ihre) Social­-Media-­Kanäle (vor allem Instagram und Facebook), bei deren Glaubwürdigkeit sie allerdings Abstriche machten. Fast alle Befragten waren bis Anfang Mai 2020 bereits mit Fake News und Verschwörungsmythen zu Corona in Kontakt gekommen. Die meisten gaben allerdings auch an, diese (nach Abgleich mit vertrauenswürdigen Quellen) zu erkennen und (angemessen) mit ihnen umgehen zu können. Die Hälfte hat zudem bereits „coronaspezifische Diskriminierung“ wahrgenommen, insbesondere was Anfeindungen und Hass gegenüber Asiaten allgemein und Chinesen speziell (als für den Ausbruch Verantwortliche) betrifft. Zwar distanzieren sich die meisten von den medial kolportierten Vorurteilen, nicht wenigen attestiert die Studie aber auch eine unterschwellige Skepsis gegenüber anderen Lebensweisen und deren Verantwortlichkeiten.
 

Literatur:

Marc Calmbach/Bodo Flaig/James Edwards/Heide Möller-Slawinski/Inga Borchard/Christoph Schleer:Wie ticken Jugendliche? 2020. Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland. Eine SINUS-Studie im Auftrag von: Bundeszentrale für politische Bildung, BARMER, Deutsche Kinder- und Jugendstiftung, Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz, Bund der Deutschen Katholischen Jugend, Deutscher Fußball-Bund, Deutsche Sportjugend, DFL Stiftung. Heidelberg 2020. Abrufbar unter: https://www.bpb.de (letzter Zugriff: 19.09.2020)