Widerschein des Nazismus?

Die Darstellung der Neuen Rechten im aktuellen deutschen Film

Werner C. Barg

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Prof. Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg für Film und Fernsehen sowie Honorarprofessor im Bereich Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg leitet er den Ergänzungsstudiengang Medienbildung im Zentrum für Lehrer*innenausbildung (ZLB).

Der Historiker Saul Friedländer formulierte Anfang der 1980er-Jahre die These, dass sich in Literatur und Film ein neuer Diskurs zur ästhetischen Faszination des Faschismus entwickelt habe. Der Beitrag geht der Frage nach, ob sich diese These auch anhand von aktuellen deutschen Kino- und Fernsehfilmen, die sich mit dem Aufkommen neuer rechtsradikaler Bewegungen beschäftigen, noch belegen lässt.

Online seit 29.09.2021: https://mediendiskurs.online/beitrag/widerschein-des-nazismus-beitrag-772/

 

 

 

Der Historiker und Holocaust-Forscher Saul Friedländer setzt sich in seinem Essay Kitsch und Tod – Der Widerschein des Nazismus, das 1982 zuerst in Frankreich und 1984 in deutscher Übersetzung erschien, mit einigen zeitgenössischen Werken der Literatur und des Films auseinander, die „wie Syberbergs ‚Hitler‘ oder Viscontis ‚Die Verdammten‘“ sich anschickten, durch „die Themen und Ästhetik … eine gewisse Faszination des Nazismus begreiflich zu machen“ (Friedländer 2007, S. 25).

Friedländer gründet seine Argumentation auf der „Annahme …, dass ein neuer Diskurs über den Nazismus sich heute genau auf der imaginären Ebene, im Bereich der Bilder und der Gefühle entfalten“ (ebd., S. 23) würde, denn „die Attraktivität des Nazismus“, so Friedländers Ausgangspunkt, „lag keineswegs nur in seiner explizit propagierten Doktrin, sondern mindestens ebenso auch in der Kraft seiner Emotionen, in den von ihm geweckten Bildern und Phantasmen, für welche Linke wie Rechte empfänglich waren, jedenfalls in der entscheidenden Phase von ungefähr 1930 bis zu den ersten großen Niederlagen im Krieg“ (ebd., S. 22).

Wenn nun etwa in Rainer Werner Fassbinders Film Lili Marleen (D 1981) der Nazismus durch „die Symbolisierung des ‚Führers‘ als gleißendes Licht“ (ebd., S. 23) widerscheint, dann kommt es bei dieser ästhetischen Glorifizierung „also nicht darauf an zu wissen, ob Fassbinder ein radikaler Linker war“ (ebd.). Auch der Einwand, „das gleißende Licht in ‚Lili Marleen‘ sei ganz ohne Zweifel ironisch gemeint“ (ebd.), wäre durchaus berechtigt, so Friedländer, wenn es ihm darum ginge, „Intentionen zu prüfen, politische Haltungen anzuklagen und ein moralisches Urteil zu fällen“ (ebd., S. 24).

Doch darum geht es Friedländer nicht. Er möchte vielmehr „den bildlichen Assoziationen nachspüren“, von denen er glaubt, „dass sich darin ein latenter und von einer tieferen Logik gelenkter Diskurs verbirgt, dessen Artikulationen aufgedeckt werden müssen“ (ebd.). „Mehr als die ideologischen Kategorien gilt es infolgedessen“, so schlussfolgert der Historiker, „die Fortdauer dieser unterschwelligen Bilder, die Struktur dieser Linken wie Rechten gemeinsamen Phantasmen freizulegen. Denn auf dieser Ebene führen die rezipierten Werke ein Eigenleben in unserem Unterbewußtsein als Leser oder Zuschauer“ (ebd., S. 23).
 

Trailer Lili Marleen (D 1981)



Indem Schriftsteller und Filmemacher in ihren Werken mit durchaus aufklärerischer Absicht der Faszination des Faschismus nachspüren, legen sie – gewollt oder ungewollt – „vielleicht ein wenig von den verborgenen Formen des Imaginären in Vergangenheit und Gegenwart“ (ebd., S. 26) frei, von denen Friedländer in seinen Analysen drei zentrale Bereiche identifiziert:

  • „Gegensatz zwischen Kitsch-Harmonie und permanenter Beschwörung der Themen Tod und Zerstörung“
  • „Erotisierung der Macht, der Gewalt und der Herrschaft“ bei gleichzeitiger „Darstellung des Nazismus als des Zentrums aller Entfesselungen der unterdrückten Affekte“
  • Das „Bestreben …, durch die Sprache Distanz zu halten gegenüber der Realität des Verbrechens“ (ebd., S. 26)

Friedländer verhehlt nicht, dass dieser „neue Diskurs über den Nazismus … ein Gefühl der Beklommenheit“ (ebd., S. 27) erzeugt – ein Unbehagen, das in den meisten Fällen herrührt „aus einer Diskrepanz zwischen der erklärten moralischen und ideologischen Position des Autors (Verurteilung des Nazismus und Bemühen um Verständnis) und der ästhetischen Wirkung seines filmischen oder literarischen Werkes (Nazismus als unbegrenztes Experimentierfeld für entfesselte Phantasien, für breiten Einsatz von ästhetischen Effekten, für eine Vorführung der eigenen literarischen und intellektuellen Kraft; …)“ (ebd., S. 28).

Im Vorwort zur Neuauflage seines Buches relativierte Friedländer die Ergebnisse seiner Analysen 1999 insofern, als er sie in den Traditionszusammenhang postmoderner Darstellungsformen in Literatur und Film einordnete1 und zugleich für die 1990er-Jahre konstatierte, dass die „ästhetisierende Versuchsphase in der Darstellung des Nationalsozialismus vorüber“ sei und nun die Darstellung der NS-Vergangenheit durch eine „dokumentaristische Methode“ (ebd., S. 12) geprägt sei, für die u. a. die literarischen Werke von Kempowski und Klemperer, aber – so Friedländer – für die, „trotz ihrer fragwürdigen Qualität“ in ihrem „‚Bemühen um Authentizität‘“ (ebd.) auch Steven Spielbergs Filmproduktion Schindlers Liste (USA 1993) stehen würden.

Die folgenden Beobachtungen und Analysen zu aktuellen deutschen Kino- und Fernsehfilmen geben nun allerdings Anlass zu der Vermutung, dass der alte neue Diskurs über den Nazismus zurückgekehrt sein könnte, diesmal allerdings in Bezug auf die Darstellung der sogenannten Neuen Rechten im Film.
 

Je suis Karl

Je suis Karl erzählt von einer politischen Tragödie, die mit einer privaten Katastrophe beginnt: Die junge Maxi Baier (Luna Wedler) und ihr Vater Alex (Milan Peschel) überleben einen Bombenanschlag auf das Mehrfamilienhaus, in dem die Familie in Berlin lebte. Alex hat seine Frau und die beiden jüngeren Geschwister von Maxi durch den Anschlag verloren. Der Vater zieht sich in eine grenzenlose Trauer zurück und kann der traumatisierten Maxi in dieser Situation kaum Halt und Orientierung geben. Beides findet sie bei dem smarten, charmanten und anfangs zurückhaltenden Karl (Jannis Niewöhner), der ihr zufällig begegnet. Zufällig? Nach ca. 30 Filmminuten erfährt das Publikum im Film von Christian Schwochow durch eine Rückblende, dass der tödliche Anschlag von Karl geplant und durchgeführt wurde. Er hatte als Paketbote in „talibanesker“ Verkleidung die Bombe in dem Mehrfamilienhaus platziert und dadurch dafür gesorgt, dass die öffentliche Meinung nun die Täter in islamistischen Kreisen vermutet. Maxi erfährt von alledem nichts. Ihr gegenüber gibt Karl sich mitfühlend, erzählt ihr von einem Kongress der aufstrebenden Jugendbewegung, der er angehört. Maxi, die verzweifelt und ratlos ist, bricht aus ihrem bisherigen Leben aus und reist nach Prag, um Karl beim Kongress wiederzusehen. Er stellt sich als ein Anführer der Bewegung heraus. Mit charismatischer Ausstrahlung hält er Reden über einen politischen Aufbruch in Europa. Maxi verliebt sich in Karl, nimmt seine immer deutlicher werdenden neurechten und fremdenfeindlichen Sprüche kritiklos hin. Sie geht mit ihm nach Straßburg, wo sich Karl mit Freunden aus der rechten Bewegung Frankreichs trifft und einen perfiden Plan verfolgt.
 

Trailer Je suis Karl (D/CZ 2021)



Terror und Mitleid

Drehbuchautor Thomas Wendrich und Regisseur Christian Schwochow möchten mit ihrem Film die Verführungsmechanismen der jungen, sich modern und hip gebenden rechtsradikalen Jugendbewegung vorführen. Um Karls smarte Politverführung als geölte und glatte Propagandamaschinerie zeigen zu können, muss Maxi gegenüber Karls Parolen als ungebrochen empfänglich und naiv gezeigt werden. Motiviert durch die Trauer um ihre Familie wird ihr im Film die Fähigkeit zu einer rationalen Auseinandersetzung mit den politischen Thesen Karls weitgehend abgesprochen. Sie wird als eine Figur puren Gefühls gezeigt – für die Dramaturgie eines Arthouse-Films im 21. Jahrhundert ein höchst verwunderliches und recht antiquiertes Frauenbild.

Es ist Resultat eines dramaturgischen Settings, das sich Drehbuchautor Thomas Wendrich ausdenken musste, um die beiden Grundsäulen der Tragödie aufzubauen, die seinerzeit schon Friedländer in seiner Analyse zum Diskurs über den Nazismus in manchen Filmen erkannte: „Terror und Mitleid“ (Friedländer 2007, S. 69). Der Zuschauer empfindet Mitleid mit Terroropfer Maxi, weiß aber zugleich um die Urheberschaft des Terrors durch den rechtsradikalen Karl. „Wir als Zuschauer sind ihr ja immer voraus“, erklärt Thomas Wendrich. „Wir möchten ihr mehr als einmal zurufen: Nein, Maxi, lass es sein!“ (Körner 2021, S. 11).

Für die Mehrheit des Publikums, das ein demokratisches Grundverständnis hat, mag diese dramaturgische Regel der klassischen Tragödie beim Ansehen des Films funktionieren. Aber wie ist es mit denjenigen, die eine rechte Gesinnung haben? Werden sie Maxis politische Verführung nicht als Sieg empfinden?
 

Erotisierung der Macht, Entfesselung unterdrückter Effekte

Einzig der zweifelsohne entscheidende Hinweis an die Zusehenden, dass Karl den Anschlag selbst zu verantworten hat, der Maxis Tragödie auslöst, schafft Distanz gegenüber der ansonsten als smart und clever gezeigten Figur des neurechten Politikers, dessen terroristisches Tun Maxi auch im weiteren Verlauf der Handlung verborgen bleibt. Sie ist verliebt in ihn, fühlt sich durch seine starke Führerschaft angezogen. Karl als Figur der Macht wird erotisiert.

Die neurechte Jugendkultur, die mit gefälschten oder verkürzt dargestellten „Informationen“ Angst vor Ausländern und „Überfremdung“ schürt, erlebt sie als neues Erfahrungsfeld; die ausgelassenen Partys mit neurechten Bands, rechtsradikalen Slogans und Gesängen empfindet sie als Loslösung und Befreiung von ihrer Trauer, ihrer Verzweiflung, ihres als eng empfundenen Lebens. So finden sich in der Darstellung der Faszination der Protagonistin für die neurechte Bewegung in Schwochow/Wendrichs Film zentrale Elemente wieder, die Friedländer bereits in seiner Analyse herausgearbeitet hatte, indem er „eine Tiefenstruktur enthüllt, die auf der Koexistenz von Machtanbetung und Sehnsucht nach apokalyptischer Auslöschung aller Macht beruht“ (Friedländer 2007, S. 27).
 

Viva la muerte!

Und noch etwas verbindet die Darstellung der Faszination der Neuen Rechten in Je suis Karl mit dem Nazismus-Diskurs der 1970er-Jahre:

„Entscheidend ist die ständige Gleichsetzung des Nazismus mit Tod – und zwar nicht mit dem wahren Tod in seinem alltäglichen Schrecken und seiner tragischen Banalität, sondern mit einem rituell verklärten, stilisierten Tod, der zwar als Sinnbild für Grauen, Zerfall und Entsetzen gemeint ist, letztlich als vergiftete Apotheose erscheint“ (ebd., S. 49, H.i.O.).

Diese kitschige2 Verklärung des Todes als „Offenbarung und Kommunion“ (ebd., S. 48) hat wiederum – so Friedländer – viel mit dem Thema des Helden zu tun, der stets „todgeweiht“ (ebd., S. 38) ist, so auch in Je suis Karl. Am Ende des Films inszeniert Karl seinen eigenen Tod und lässt ihn mit Unterstützung seiner Helfershelfer erneut als islamistisches Attentat erscheinen, um damit einen Aufstand der Neuen Rechten gleichzeitig in ganz Europa auszulösen. Da dieses Geschehen maßgeblich aus der Sicht von Protagonistin Maxi erzählt wird, löst Schwochows Film aus, was Friedländer schon „in der Ästhetik des neuen Diskurses über den Nazismus wie wohl auch in der des Nazismus selbst“ als zentrales Merkmal erkannte: „die Juxtaposition entgegengesetzter Bilder von Harmonie (Kitsch) und Tod, mithin das unmittelbare Nebeneinander von Rührung und Entsetzen“ (ebd., S. 56).

So trifft Friedländers Beschreibung der Darstellung von Nazismus und Tod in Luchino Viscontis Die Verdammten (I/D 1969) – „Schauspiel, prunkvolle Inszenierung, Spektakel. Und für die Zuschauer heißt das Faszination, Erschaudern, Ekstase“ (ebd., S. 50) – ziemlich exakt die filmische Stimmung der Schlusssequenz von Je suis Karl. Hier inszeniert Schwochow den Wunschtraum der Neuen Rechten, die Realisation des sogenannten Tages X, des bewaffneten Aufstandes aller rechtsradikalen Bewegungen in Europa, in actionreichen Kamerabewegungen, hohen Schnittfrequenzen und mit bombastischen Soundeffekten als ebenso bildgewaltiges wie bedrohliches Neo-Noir-Spektakel.

Auch wenn zwischenzeitlich in einer Nachrichtenmeldung auf der Tonebene des Films verkündet wird, dass der Aufstand nun den Einsatz der NATO nach sich ziehen würde, bleibt das Schlussbild des Films bezüglich der weiteren demokratischen Entwicklung höchst pessimistisch: Maxi und Alex fliehen mit einem Freund vor dem Aufstand in den Untergrund, in die Dunkelheit der Kanalisationskanäle von Straßburg
 

Schwochows Film erzeugt Unbehagen

Es ist die „Sprache, die durch ihre formale Gestalt und ihre äußeren Züge mitwirkt an der ästhetischen Faszination“ (ebd., S. 56), notierte Friedländer in Kitsch und Tod. In Je suis Karl lebt dieser Diskurs über den Nazismus wieder auf und erzeugt auch deshalb so viel Unbehagen, weil die Ästhetik des Films über weite Strecken die Faszination des neuen Faschismus bloß abbildet, ja filmisch sogar verdichtet. Dieser Befund bestätigt sich, wenn man zur Analyse Die Täter – Heute ist nicht alle Tage in die Betrachtungen mit einbezieht. Der Fernsehfilm bildete 2016 den Auftakt für den ARD-Dreiteiler Mitten in Deutschland: NSU, in dem die Geschichte der Täter, der Opfer und schließlich der polizeilichen Ermittlungen zu den Mordtaten des rechtsterroristischen Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) teils authentisch, teils fiktiv nacherzählt wird.
 

Mitten in Deutschland: NSU – Die Täter

Im Zentrum des Films Die Täter – Heute ist nicht alle Tage, den gleichfalls das Team Wendrich (Buch)/Schwochow (Regie) realisiert hat, steht Beate Zschäpe (Anna Maria Mühe). Sie wird als ein Opfer der „Wende“ 1989/90 dargestellt, die – anders als ihre Freundin Sandra (Nina Gummich) – glaubt, dem Jammertal ihres Plattenbau-Daseins nach einem kurzen Intermezzo in der Punkerszene nur durch die Anbindung an den rechtsradikalen Anführer Uwe Mundlos (Albrecht Schuch) entfliehen zu können. Während sich Sandra für ein weltoffenes Leben entscheidet, tobt Beate ihre Wut und ihre Frustration – so zeigt es der Film – in dumpfen bierseligen Saufgelagen der rechtsradikalen Gruppe mit ihrem Freund Mundlos aus. Sie versinkt in Antisemitismus und der düsteren Mystik rechtsradikaler Verschwörungserzählungen. Später wendet sie sich dann neben Mundlos auch dessen „Kameraden“ Uwe Böhnhardt (Sebastian Urzendowsky) zu. Als Haftbefehle gegen die drei Neonazis erlassen werden, gehen sie in den Untergrund.

Die Mord-, Raub- und Anschlagsserie, mit der sie von 2000 bis 2011 unerkannt durch Deutschland ziehen und hierbei aus Fremdenhass neun ausländische Mitbürger ermorden, erzählt der Film des Duos Wendrich/Schwochow nur andeutungsweise in zwei kurzen Szenen am Beginn und am Ende seines Films. In Die Täter – Heute ist nicht alle Tage geht es den Machern vielmehr um die Vorgeschichte des NSU-Trios und ihrer Helfer.

Ähnlich wie in Je suis Karl bildet auch hier die Erotisierung rechtsradikaler Anführer in Wendrichs Drehbuch das Entrée einer traumatisierten jungen Frau in die rechtsradikale Politszene. Ungebrochen, unkommentiert, fast dokumentarisch werden die dumpfen Biergelage der Neonazis mit Rechtsrock, orgiastischen fremdenfeindlichen Slogans und antisemitischen Gröhlgesängen in Schwochows Inszenierung dargeboten. Die Faszination der Beate Zschäpe an alledem wird im Film unkommentiert, actionreich und bewegend dargestellt. Zschäpe erscheint als eine Figur, die – wie in manchen von Friedländer analysierten Filmen – „einer besonderen Art von Entmündigung“ unterliegt, „die sich sowohl am Verlangen nach restloser Unterwerfung als auch an dem nach totaler Entfesselung nährt“ (ebd., S. 27, H. i. O.).

Da auch hier seitens der Filmemacher zunächst keine Einordnung stattfindet, macht sich in diesen Szenen erneut das von Friedländer beschriebene Unbehagen breit, wie dieses Starren auf die Naziszene zu bewerten ist: „als Gier nach Spektakulärem, als notwendiger Exorzismus und/oder anhaltendes Bemühen um Verständnis. Oder aber, immer noch und schon wieder, als Ausdruck tiefer Ängste und bei manchen auch dumpfer Hoffnungen?“ (ebd.). Erst im späteren Verlauf der Handlung finden sich Szenen, in denen das menschenverachtende Verhalten der Neonazis deutlich zum Ausdruck kommt, etwa wenn Zschäpe und Böhnhardt bei ihren Streifzügen durch die Stadt großen Spaß daran entwickeln, eine junge Frau mit Baby im Park zu maßregeln und einzuschüchtern.

In Je suis Karl findet sich neben der kurzen Parallelhandlung, die Karl als Terrorist zeigt, einzig im Schlussteil die Andeutung einer kritischen Kommentierung: Maxis Vater taucht in Straßburg auf, nachdem er Maxis Verbleib recherchiert hatte. Maxi und Karl laden ihn mit an den Tisch ein, an dem Karl mit seinen französischen Gesinnungsfreunden sitzt. Verbal hält Alex sich gegenüber den nun deutlich rechten Sprüchen am Tisch zurück. Nur wenige Blickdiskurse verraten den Zusehenden sein Unbehagen – wenn sie denn die Mimik des Schauspielers Milan Peschel in dieser Weise deuten mögen.
 

Gespräch mit Christian Schwochow (RCR Clips, 15.03.2016)



Letzte Ausfahrt Gera

Dass der Widerschein des Nazismus in der Neuen Rechten auch anders dargestellt werden kann, zeigte schon 2016 Regisseur Raymond Ley in dem ZDF-Fernsehfilm Letzte Ausfahrt Gera – Acht Stunden mit Beate Zschäpe. Auch Ley greift eine authentische Geschichte um Beate Zschäpe auf: Ein Polizeikonvoi bringt die in U-Haft einsitzende Rechtsterroristin aus dem Gefängnis in Nordrhein-Westfalen zur todkranken Großmutter nach Gera. Mit an Bord: zwei Verhörspezialisten der Polizei (Joachim Król; Christina Große). Sie versuchen, mit Zschäpe (Lisa Wagner) ins Gespräch zu kommen. Doch Zschäpe schweigt, wie sie es bislang schon in der U-Haft und im Prozess getan hat.

Dennoch hat Ley durch die Auswahl dieser Geschichte die Möglichkeit, ein dramaturgisches Setting aufzubauen, in dem er in den Spielszenen durch die Fragen und Reaktionen der Verhörspezialisten Zschäpes in Rückblenden dargestelltes Leben bewerten und einordnen kann. So zeigt auch er in einigen Szenen den großen Einfluss von rechtsgerichteter Rockmusik auf das Neonazi-Trio. Doch die Szenen bewahren Distanz, brechen jede Faszination, sind analysierend, nicht emotionalisierend.
 

Und morgen die ganze Welt

Julia von Heinz schließlich gelingt in ihrer Inszenierung des Kinofilms Und morgen die ganze Welt (D 2020), was man in Je suis Karl so schmerzlich vermisst: die Auftritte der Neuen Rechten werden in ihrem Film durch das stumme Spiel ihrer Hauptdarstellerin Mala Emde eindrucksvoll kritisch kommentiert, ohne doch zugleich als Zuschauer den moralischen Zeigefinger gezeigt zu bekommen. In Und morgen die ganze Welt geht es um die Auseinandersetzungen in einer Antifa-Gruppe darüber, mit welchen Mitteln gegen Neonazis vorgegangen werden soll. Mala Emde spielt Luisa, die in der Gruppe mitarbeitet. Sie lässt sich mit ihrem Freund Lenor (Tonio Schneider) auf den Weg der Gewalt ein, nimmt dann aber doch davon Abstand, mit dem gestohlenen Gewehr aus dem Waffenschrank ihres Vaters auf Teilnehmer der Veranstaltung einer rechtsextremen Partei zu schießen. Stattdessen besucht sie die Veranstaltung am Abend und erlebt, wie die Rechten ein fremdenfeindliches Hasslied anstimmen. Die Kamera nah bei ihr, geht sie nach vorne zum Sänger an die Bühne, dann durch die kleine Gruppe der Gröhlenden zurück. Mimik und Gestik verraten, dass die Figur keinerlei Faszination für den neuen Nazismus verspürt. In ihrem ernsten Gesichtsausdruck spiegeln sich Erstaunen, Fassungslosigkeit und Wut, vielleicht auch Hilflosigkeit, wie mit diesen hasserfüllten Menschen umzugehen ist.
 

Trailer Und morgen die ganze Welt (D 2020)



Anmerkungen:

1) Siehe hierzu auch meinen Beitrag „Correct“ history – falsely told. Intertextuality and the interpretation of history in Rainer Werner Fassbinder’s Lola und Lili Marleen

2) Zur Erläuterung des Begriffes „Kitsch“ siehe Friedländer 2007, S. 31 ff.

Literatur:

Barg, W. C.: „Correct“ history – falsely told. Intertextuality and the interpretation of history in Rainer Werner Fassbinder’s Lola und Lili Marleen. In: J. E. Müller/E. W. B. Hess-Lüttich: Semiohistory and the Media. Linear and Holistic Structures in Multimedia Sign Systems. KODIKAS/CODE Volume 17. No. 1/4, Jan./Dec. 1994, S. 91 – 107

Friedländer, S.: Kitsch und Tod – Der Widerschein des Nazismus. Frankfurt am Main 2007

Körner, A.: Je suis Karl. Presseheft. Berlin 2021