Welche Fähigkeiten und Kenntnisse sollten 12-Jährige im Hinblick auf problematische Medieninhalte haben?

Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF)

Im April 2019 feierte die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) ihr 25-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass wurden Expertinnen und Experten aus dem Umfeld der FSF, aus Politik, Medienwissenschaft und Pädagogik zu dem aktuellen Medienwandel und den zukünftigen Aufgaben des Jugendmedienschutzes befragt:

Stichwort „Medienkompetenz“: Welche Fähigkeiten und Kenntnisse sollten 12-Jährige im Hinblick auf problematische Inhalte haben?

Online seit 29.03.2019: https://mediendiskurs.online/beitrag/welche-faehigkeiten-und-kenntnisse-sollten-12-jaehrige-im-hinblick-auf-problematische-medieninhalte-haben/

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Die wichtigste Fähigkeit, über die 12-Jährige heute verfügen müssen, ist das Bewusstsein, dass es überhaupt Gefahren im Netz gibt – und zwar auch in den Medien, die alle so sehr lieben. 12-Jährige müssen wissen, an wen sie sich wenden können, wenn sie auf YouTube auf gewaltverherrlichende oder rassistische Inhalte stoßen, in der Schulklasse Cybermobbing stattfindet, oder was mit ihren ins Netz gestellten Fotos passieren kann. Sie müssen solche Phänomene einordnen können, damit sie nicht hilflos davorstehen.
Um das auf Norddeutsch zu sagen: Wenn man sich bei Ebbe auf Wattwanderung begibt, muss man sich im Klaren darüber sein, dass die Flut kommen kann und irgendwann auch kommen wird. Darauf kann man sich aber vorbereiten – wir nennen das Medienkompetenzvermittlung.

Cornelia Holsten, Direktorin der Bremischen Landesmedienanstalt (Brema) sowie Vorsitzende der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM) und der Kommission für Zulassung und Aufsicht (ZAK)

 


 

12-Jährige befinden sich in einer Übergangsphase zwischen Kindheit und Jugend und suchen auch im digitalen Raum neue Erfahrungen und Herausforderungen. Sie sollten daher gut vorbereitet sein, neue digitale Angebote zu erkunden und auch kritisch einschätzen zu können. Dazu gehören grundlegende Fähigkeiten wie die Suche und Einschätzung von Informationen, das Wissen um grundlegende Herausforderungen und Probleme, aber auch die Fähigkeit, Medien bedürfnisorientiert zu nutzen. Zusätzlich sollten sie, unterstützt durch Medienpädagogik, eine digitale Resilienz aufbauen, um Konfrontations- und Interaktionsrisiken verarbeiten zu können. Damit verbunden ist eine beginnende Herausbildung bzw. eine Steigerung einer digitalen Souveränität von Heranwachsenden. Für die genannten Kompetenzen ist es zwingend notwendig, nicht erst in dieser Übergangsphase digitale Medien zu nutzen, sondern bereits vorher – in geschützten und für Kinder geeigneten Surfräumen – risikoarm Erfahrungen gemacht zu haben.

Martin Drechsler, Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM)

 


 

12-Jährige sollten zwischen Fiktion und Realität unterscheiden können. Sie sollten außerdem wissen, dass Medieninhalte mit einer bestimmten Absicht, nämlich vor allem hohe Nutzerzahlen zu generieren, produziert werden und nicht immer Maßstab für das eigene Verhalten sein müssen.

OKR Markus Bräuer, Medienbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF)

 


 

Wir sollten nicht davon ausgehen, dass es generell allen Jugendlichen darum geht, sich über Grenzen hinwegzusetzen. Kinder und Jugendliche wollen auch Orientierung haben in dieser schönen, bunten, konvergenten Medienwelt. Sie fragen sich selbst: Was kann ich mir eigentlich zutrauen? Wobei fühle ich mich wohl? Was irritiert und beunruhigt mich? Diesen Maßstab und die Fähigkeit zum Selbstschutz erlernt man, indem man positive, aber auch negative Erfahrungen macht und sich auf Rat- und Hilfeangebote stützen kann, wenn etwas schiefgeht.

Jutta Croll, Vorsitzende der Stiftung Digitale Chancen

 


 

Generell sollten 12-Jährige begriffen haben, dass sie eine zunehmend wachsende Eigenverantwortung für ihren Medienkonsum entwickeln sollten. Eine der Schlüsselkompetenzen von 12-Jährigen besteht meines Erachtens. darin, zu wissen, wo die „Offtaste“ ist, also wie ich das Gerät ausschalte.

Thomas Krüger, Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks (DKHW)

 


 

12-Jährigen wird z.T. schon viel zugemutet, und dies, weil unterstellt wird, dass sie medienerfahren seien, Genres auseinanderhalten und einordnen, Humor als distanzierendes Element wahrnehmen und Realität von Fiktion unterscheiden können. Wenn ältere Kinder sich ihre spontanen Gefühle, das Staunen, das Sich-empören-Können und Dinge-eklig-und-gruselig-Finden nicht abgewöhnen, verfügen sie über gute Voraussetzungen, auch problematische Medieninhalte auf Distanz zu halten.

Andrea Urban, Leiterin der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen und Vorsitzende des Kuratoriums der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF)

 


 

Der beste Jugendmedienschutz ist eine gut ausgebildete Medienkompetenz: das Dechiffrieren von Erzählstrukturen und Bildern, das Bewusstsein für Risiken, selbstverantwortliche Mediennutzung. Allerdings: Das neue Zauberwort heißt Resilienz! Es ist heute eine Binsenweisheit, dass 12-Jährige, die im Netz nach problematischen Inhalten suchen, diese auch finden. Wenn wir Kinder und Jugendliche also responsiv, kommunikativ und resilient machen, dann werden die Konsequenzen bewusster Grenzüberschreitungen, die in Lebensphasen der Orientierungssuche einfach mit dazugehören, nicht so dramatisch ausfallen. Hierzu muss man der Jugend die Chance lassen, wie in einem biologischen System selbst einen Schutz aufzubauen. Eine Art von mentaler Immunabwehr. Daher mein Appell an die Eltern: nicht wegschauen, aber gelassen zulassen!

Prof. Dr. Murad Erdemir, Stellvertretender Direktor und Justiziar der Hessischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien (LPR)

 


 

Bei der Vermittlung von Medienkompetenz geht es nicht darum, 12-Jährige fit zu machen für den Umgang mit problematischen Angeboten. So wie Gesundheitsförderung kein Ersatz für eine wirksame Kontrolle der Lebensmittelsicherheit ist, ist Medienbildung kein Reparaturbetrieb für einen unzureichenden Jugendmedienschutz.
In den digital vernetzten Medienwelten haben sich die Konfrontations-, Daten-, Kommunikations- und Kostenrisiken vervielfacht. Viele Inhalte, die heute im Netz verbreitet werden, sind selbst für Erwachsene hochgradig belastend. Ein effektiver Jugendmedienschutz muss dafür sorgen, dass Jugendliche und vor allem Kinder mit solchen Angeboten gar nicht erst konfrontiert werden.
Eine umfassende Medienbildung brauchen wir noch obendrauf: Sie soll Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen eine reflektierte, selbstbestimmte, konstruktive Mediennutzung ermöglichen, ihnen positive Nutzungspotenziale der Medienangebote erschließen und einen chancengleichen Zugang zu Informationen und Wissen eröffnen. Das sind zwei Seiten einer Medaille!

Jochen Fasco, Direktor der Thüringer Landesmedienanstalt (TLM)

 


 

Hier könnte man sehr weit ausholen, aber prinzipiell sind Genrekenntnisse sowie Film- und Fernsehwissen von großem Vorteil, um problematische Inhalte einschätzen und anlassbezogen abwehren zu können. Generell ist es nach wie vor von enormer Wichtigkeit, Selbstschutzmechanismen auszubilden, sich in Peerkontexten nicht unter Druck setzen zu lassen, Film- und Videokonsum nicht als Mutprobe zu begreifen. Im Alter von 12 Jahren wird oftmals allein rezipiert und es gilt, seine Mediennutzung stets zu reflektieren. Zudem sollten Heranwachsende lernen – oder in dem Alter schon gelernt haben –, gegenüber bestimmten Medieninhalten kritisch zu sein und diese Kritik auch artikulieren zu können.

Dr. Dagmar Hoffmann, Professorin für Medien und Kommunikation an der Universität Siegen

 


 

12-Jährige müssen wissen, wie man mit persönlichen Daten im Netz umgeht und sie schützt. Es sollte ein Bewusstsein bestehen, dass beim Anklicken eines Kaufbuttons auch eine Zahlung erfolgen muss. Wichtig ist, dass 12-Jährige wissen, wie man sich gegen Hass und Beleidigungen im Netz wehren kann. Darüber hinaus sollte eine Sensibilisierung bestehen, dass alles, was im Internet gesagt oder verbreitet wird, auch Konsequenzen hat.

Elisabeth Secker, Geschäftsführerin der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK)

 


 

An grundlegenden Bedienkompetenzen fehlt es in Deutschland lebenden 12-Jährigen in der Regel nicht. Sie scheinen versiert und routiniert. Angesichts zunehmend unüberschaubarer medialer Handlungsräume, paralleler Informationswelten und potenzieller Gefährdungen durch Cybergrooming oder -mobbing reichen reine Anwendungs- und Technikkenntnisse jedoch längst nicht aus. Vielmehr sind Kinder und Jugendliche auf Wissen und Fähigkeiten angewiesen, die sich nur bedingt unangeleitet erarbeiten lassen, die sie aber benötigen, um sich im Alltag sowohl medienkritisch als auch reflektiert bezüglich der eigenen Medienpraxis (und der anderer) zu verhalten. Hierzu zählt zunächst einmal ein Bewusstsein für die mediale Natur vor allem digitaler Handlungsräume und Protagonisten – also für mediale Identitätskonstruktionen und inszenierte Erlebniswelten –, um allem Neuen und Unbekannten im Netz, aber auch dem ansonsten Vertrauten, mit einer sorgsamen Skepsis begegnen zu können.
Auch braucht es eine gewisse Sensibilität gegenüber möglichen Kosten-Nutzen-Rationalitäten im eigenen Medienhandeln, in deren Kontext es durchaus zu Konflikten zwischen Nutzungszielen und der unbewussten wie auch bewussten Inkaufnahme möglicher Gefährdungen kommen kann (z.B. zu Unachtsamkeiten bezüglich des Themas „Datenschutz“).
Des Weiteren benötigen Kinder und Jugendliche angesichts des sich immer schneller drehenden Anwendungskarussells und sich abwechselnden Medienhypes fortwährend aktualisiertes Wissen zu den unterschiedlichen Medien und den ihnen zugrunde liegenden spezifischen Kommunikationslogiken.
Und last, but not least sollten Kinder und Jugendliche über eine kritische Einordnungskompetenz verfügen, auf deren Basis sie mediale Inhalte hinterfragen, verstehen und gegeneinander abwägen können. Mit Blick auf all diese genannten Punkte besteht sicher eine zentrale Herausforderung darin, abstraktes Wissen und komplexe Zusammenhänge so zu vermitteln, dass sie für Kinder und Jugendliche leicht verständlich und nachvollziehbar sind. Eine Alternative hierzu gibt es jedoch kaum. Je früher medienpädagogische Arbeit ansetzt, umso wahrscheinlicher gelingt es, die Art und Weise, in der sich junge Menschen Medien und deren Inhalte aneignen, im positiven Sinne mit zu gestalten.

Sally Hohnstein, M.A., Wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut (DJI)