Wahrnehmung, Schein und Wirklichkeit

Fred Mast

Dr. Fred Mast ist Professor an der Universität Bern und leitet die Abteilung für Kognitive Psychologie, Wahrnehmung und Methodenlehre.

Computerspiele und virtuelle Realität sind neue Herausforderungen für unser Wahrnehmungsvermögen und unseren Sinn für Realität. Durch ein besseres Verständnis unserer Wahrnehmung können wir den Umgang mit diesen Medien optimieren, Falschinformation besser erkennen und den digitalen Wandel meistern.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 1/2021 (Ausgabe 95), S. 61-65

Vollständiger Beitrag als:

 

Sehen wir mit den Augen?

In der Schule wird uns beigebracht, dass wir mit den Augen sehen und mit den Ohren hören. Diese Sichtweise ist irreführend. Augen und Ohren stellen uns sensorische Daten zur Verfügung, die im Gehirn mithilfe von Vorwissen, Erwartungen und Annahmen ausgewertet werden. Erst aus diesem Zusammenspiel resultiert unsere Wahrnehmung. Die sensorischen Daten aus den Augen und Ohren sind verrauscht, ungenau und nicht eindeutig. Letzteres soll anhand eines Beispiels erklärt werden: Unsere dreidimensionale Umgebung bildet sich auf der zweidimensionalen Netzhaut ab; somit gehen sämtliche Informationen über räumliche Tiefe verloren. Unser Gehirn muss die räumliche Tiefe aus den sensorischen Informationen der beiden zweidimensionalen Abbildungen auf der Netzhaut erschließen. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem inversen Problem: Es besteht eine enorme Anzahl möglicher Lösungen, wie das Objekt in der Welt aussehen könnte. Dennoch resultiert aus der Verarbeitung jeweils nur eine Lösung, die zudem diejenige ist, die meistens die beste ist – so, dass wir die Welt um uns herum dreidimensional wahrnehmen und mit dieser Welt erfolgreich interagieren können. Mehrdeutig sind Sinnesinformationen nicht nur beim Sehen, sondern auch beim Hören, Tasten oder bei der Kontrolle der Körperhaltung. Auf jeden Fall kann man an dieser Stelle festhalten:

Die Informationen von den Sinnesorganen sind unzureichend: Wir sehen nicht mit den Augen, sondern mit dem Gehirn.


Nur ein „Fake“?

Vorwissen, Erwartungen und Annahmen machen die Wahrnehmung überhaupt erst möglich. Jegliche Form der Wahrnehmung beinhaltet Top-down-Informationen, die dazu benötigt werden, den Ursprung der sensorischen Information zu erschließen. Wir haben keinen direkten Zugang zu den – im Kant’schen Sinne – Dingen an sich. Wahrnehmung ist immer ein „best guess“, der sich, worauf bereits Hermann von Helmholtz (1821 – 1894) hingewiesen hat, unbewusst vollziehen kann. Es wäre in der Tat nicht effizient, wenn wir über jeden Wahrnehmungsvorgang bewusst nachdenken müssten. Aber Vorwissen, Erwartungen und Annahmen können auch auf bewusste Weise in die Wahrnehmung eingreifen. Wir wissen, dass gewisse Szenarien häufiger auftreten als andere, was wiederum deren Wahrnehmung beeinflussen kann. Auch wenn wir selektiv nach gewissen Merkmalen suchen, finden wir diese und übersehen dabei andere.

Zauberer lenken unsere Aufmerksamkeit gezielt so, dass wir relevante Informationen nicht beachten. Auch „Fakes“ von Videos unterwandern unsere Wahrnehmung.

Ein Beispiel sind die vermeintlichen Aufnahmen des legendären Bruce Lee, der mit dem Nunchaku eine Partie Tischtennis gespielt haben soll, die sehr beeindruckend aussieht. Man ist geneigt, zu glauben, was man sieht. In unheimlichem Tempo schlägt er die Bälle mit dem Nunchaku präzise zurück auf die Tischplatte und gewinnt gegen erfahrene Tischtennisspieler. Alles sieht echt aus. Und es sieht gut aus. Aber es ist ein „Fake“. Das zu verstehen, kostet Aufwand. Wir sind es nicht gewohnt, sensorische Daten zu diskreditieren. Sie melden einen hohen Anspruch auf Wirklichkeit an. Und genau deswegen gehen wir „Fakes“ auf den Leim.
 

In die virtuelle Realität eintauchen

Auch Computerspiele und virtuelle Realitäten wirken in zunehmendem Maße täuschend echt. Sie bieten eine alternative Wahrnehmungswelt an. Das ist eine neuere Entwicklung, denn fantastische Szenarien wurden für lange Zeit in Form von Literatur oder in Gemälden und Skulpturen festgehalten. Sie hatten nicht den Anspruch, die Wirklichkeit abzubilden. Sie regen die eigene Fantasie an, die wir mit den Möglichkeiten unserer Vorstellungsfähigkeit umsetzen können. Doch so lebendig die Szenarien in unserer Vorstellung auch erscheinen mögen, so bleiben sie eben doch „nur“ vorgestellt. Wir erleben sie nicht wie Inhalte der Wahrnehmung. Fantastische Szenarien in Computerspielen erzeugen hingegen deutliche Sinnesreize und darüber hinaus sind sie im Gegensatz zu Filmen interaktiv, so wie es die reale Welt auch ist. Wenn wir Handlungen ausführen, dann beeinflussen wir dadurch das Szenario. Das führt zu einer enormen Steigerung des Gefühls, in dieser Welt drin zu sein. „Being there“ nennt Mel Slater (2018) das Erleben des vollkommenen Eintauchens in eine virtuelle Realität. In eine virtuelle Welt einzutauchen, bedarf nicht viel Motivation. Computerspiele sind oft so gut gemacht, dass viele Menschen gerne ihre Freizeit dafür hergeben. Die Sinnesinformationen kommen nicht aus der realen, sondern aus der virtuellen Realität und wir lassen uns darauf ein.

Da die Sinnesinformationen denjenigen aus der realen Welt in gewisser Weise ähnlich sind, können Computerspiele auch positive Effekte im Alltag zur Folge haben.

So verbessern sie das Wahrnehmungsvermögen, das räumliche Denken, die zielgerichtete Aufmerksamkeit und die Fähigkeit, Multitasking zu betreiben. Computerspiele können als Lernumgebung geeigneter sein als die Realität, da sie die Anforderungen an die jeweilige Spielkompetenz anpassen.

Aber es entsteht auch eine neue Herausforderung. Wir können den Sinnesinformationen nicht mehr unhinterfragt vertrauen, denn sie bilden ja nicht eine Welt ab, die uns umgibt. Die sensorischen Daten kommen aus einer fiktiven Welt, sie ersetzen die reale Welt. Wird dadurch unser Sinn für Realität auf die Probe gestellt? Wird die Grenze zwischen Realität und Fantasie porös? Hat der Aufenthalt in der virtuellen Welt Auswirkungen auf die „Rückkehr“ in die reale Welt?
 

Schein oder Realität?

Diese Fragen führen uns darauf zurück, dass Sinnesinformationen allein die Wahrnehmung nicht bestimmen.

Wahrnehmung ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Sinnesinformationen mit Vorannahmen, Wissen und Erwartungen.

Letztere sind für die Wahrnehmung notwendig. Interessant ist nun, dass wir mithilfe von Wissen auch korrigierend in den Prozess der Wahrnehmung eingreifen können. Wie kann das gehen?

Wenn wir einen ins Wasser eingetauchten Kochlöffel sehen, dann erhält der Stiel wegen der unterschiedlichen Brechung von Licht in Luft und Wasser einen Knick, wobei wir aber in keiner Weise daran zweifeln, dass der Kochlöffel weiterhin gerade ist. Es sieht eben nur so aus, als hätte er einen Knick. Wir nehmen unsere Wahrnehmung in diesem Fall nicht ernst. Auch die vermeintlichen Wasserpfützen auf der Straße an einem heißen Sommertag sind nicht echt. Obschon augenfällig, sind wir in der Lage, unserer Wahrnehmung die Echtheit abzusprechen. Wir wissen es eben besser, als es uns die sensorischen Daten glauben lassen wollen. Würden wir uns ausschließlich auf die sensorischen Daten stützen, wären wir nicht in der Lage, diese kritisch zu hinterfragen. Aber offenbar können wir das. Wenn wir uns in einer virtuellen Realität befinden, dann wissen wir, dass diese Welt nicht echt ist. Sie fühlt sich aber echt an, wenn wir z.B. vor virtuellem Publikum einen Vortrag halten. Wir schwitzen und sind etwas aufgeregt. Wir kriegen weiche Knie, wenn wir an einem virtuellen Abgrund stehen. Die virtuelle Welt hat den Anspruch, real zu sein – und sie verfehlt ihre Wirkung nicht, aber das macht sie nicht zur Realität.
 

Sich der Ungläubigkeit aussetzen

So ganz allgemein gilt es nun aber auch wieder nicht.

Menschen unterscheiden sich darin, wie stark sie sich auf andere Realitäten einlassen können.

Dabei geht es weniger darum, dass man die virtuelle mit der echten Realität verwechselt, sondern um eine Koexistenz mehrerer Realitäten. „Suspension of disbelief“ nennt sich diese Eigenschaft, die ermöglicht, sich auf virtuelle Realitäten einzulassen und sich zugleich der Nichtexistenz der virtuellen Welt gewahr zu sein (de Gelder u.a. 2018). Diese Eigenschaft variiert zwischen Personen und sie kann dafür entscheidend sein, wie sich die virtuelle Welt auf ein bestimmtes Individuum auswirkt. Manche Personen lernen in der virtuellen Welt, finden in ihr Entspannung, können sich von einer Spinnenphobie befreien oder Ängste beim Vortragen überwinden. Andere Personen hingegen profitieren weitaus weniger, weil sie sich nicht auf dieses Medium einlassen können. In Zukunft werden die individuellen Eigenschaften eine wichtigere Rolle spielen, wenn es darum geht, wie moderne Medien in interessanten Anwendungsbereichen wie dem Unterricht, der Rehabilitation oder im Sinne eines kognitiven Trainings im Alter eingesetzt werden können.
 

Im digitalen Wandel unterwegs

Neue Medien verändern unsere Wahrnehmungswelt. Unsere Wahrnehmungsstrukturen sind teilweise nicht an diese Neuerungen angepasst. Es ist noch vieles unbekannt im Hinblick darauf, wie sich moderne Medien wie die virtuelle Welt auf uns auswirken werden. Stundenlang die Perspektive virtueller Avatare einzunehmen, kann sich auf unser eigenes Körpergefühl auswirken. Moseley u.a. (2008) haben in Laborstudien gezeigt, dass es Einflüsse auf die Körpertemperatur sowie immunologische Parameter geben kann. Nichts deutet hingegen darauf hin, dass sich die Grenze zwischen Realität und Fantasie verschieben wird.

Wir verfügen grundsätzlich über die Fähigkeit, unsere Wahrnehmung zu hinterfragen.

Das ist vor allem dann angezeigt, wenn wir unsicher sind. Bei sozialen Signalen besteht Interpretationsspielraum. Mag mich diese Person? Und wenn ja, wie sehr mag sie mich? Könnte ich es wagen, sie auf einen Kaffee einzuladen? Ist mir die neue Arbeitskollegin freundlich gesinnt? Oder ist ihr Lächeln nur aufgesetzt? Muss ich vorsichtig sein, was ich ihr sage? In solchen Situationen gilt es abzuwägen und nicht vorschnell eine bestimmte Meinung festzulegen, die man später nicht mehr infrage stellen will. Ein neuer Arbeitskollege könnte nämlich auch zum idealen Partner für eine neue Allianz werden. Aber dazu kommt es nur, wenn der allfällig negative Ersteindruck infrage gestellt werden kann. Soziale Signale sind subtil und wir entwickeln dafür ein Gespür.

Das Hinterfragen sinnlicher Wahrnehmungserfahrungen kommt – von Beispielen wie mit dem oben erwähnten Kochlöffel abgesehen – weniger häufig vor. Das sind wir nicht gewohnt. In Zukunft müssen wir vermehrt unsere unmittelbare Wahrnehmung hinterfragen. Sonst tragen wir unliebsame Kosten, wenn wir „Fakes“ zu oft für real halten. In Zukunft müssen wir die Evaluation unserer Wahrnehmung gezielt einsetzen und sie weiter differenzieren. Es wird oft gefordert, in Schulen ein Fach wie Medientraining einzuführen. Dies entspringt sicher einer guten Intention, aber neue Medien entwickeln sich rasant und die Schulung müsste damit Schritt halten können. Das ist keine leichte Aufgabe. Vergleichsweise konstant ist die psychische Konstitution von Menschen. Es ist erstaunlich, wie wenig das vorhandene Wissen darüber, wie Menschen Informationen verarbeiten, Entscheidungen fällen und ihre Umgebung wahrnehmen, einer breiteren Allgemeinheit zugänglich gemacht wird.

In der Zeit des digitalen Wandels ist ein besseres Verständnis unserer Wahrnehmung der Schlüssel zu einem effizienten und verantwortungsvollen Gebrauch neuer Medien.


Literatur:

de Gelder, B./Kätsyri, J./de Borst, A. W.: Virtual reality and the new psychophysics. In: British Journal of Psychology, 3/2018/109, S. 421 – 426. Abrufbar unter: https://doi.org/10.1111/bjop.12308

Moseley, G. L./Olthof, N./Venema, A./Don, S./Wijers, M./Gallace, A./Spence, C.: Psychologically induced cooling of a specific body part caused by the illusory ownership of an artificial counterpart. In: Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), 35/2008/105, S. 13.168 – 13.172. Abrufbar unter: www.pnas.org

Slater, M.: Immersion and the illusion of presence in virtual reality. In: British Journal of Psychology, 3/2018/109, S. 431 – 433. Abrufbar unter: http://publicationslist.org