Wahrheit und Vertrauen in der Mediendemokratie

Ein Überblick

Joachim von Gottberg

Prof. Joachim von Gottberg ist Chefredakteur von tv diskurs.

Werte, die daraus resultierende Moral, Gesetze, Konventionen, Normen und Anstandsregeln – sie alle bilden das Fundament von kleinen und großen Gemeinschaften. Wir müssen darauf vertrauen, dass alle Mitglieder die Regeln einhalten, andernfalls würde das Leben in der Gemeinschaft nicht funktionieren. Wie entsteht Vertrauen und wem vertrauen wir aus welchen Gründen? Für den Informationsaustausch in der Gemeinschaft brauchen wir Medien. Welchen Medien vertrauen wir und wie vertrauenswürdig sind sie wirklich?

Online seit 27.01.2021: https://mediendiskurs.online/beitrag/wahrheit-und-vertrauen-in-der-mediendemokratie/

 

 

Unser Weltwissen basiert nur zu einem kleinen Teil auf eigener Anschauung. Und selbst das wird in unserem Gedächtnis gespeichert und in der Erinnerung verfälscht: Das Gedächtnis ist kein Videorekorder, sondern selektiert, interpretiert – und verfälscht dabei bisweilen (vgl. Dokumentalion 2012). Unser Wissen erwerben wir gewöhnlich in der Schule oder der Universität, inzwischen wahrscheinlich überwiegend aus den Massenmedien. Von Niklas Luhmann stammt der Satz:

Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ (Luhmann 1995, S. 5).

Und weiter: „Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, daß wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt“ (ebd.).

Als Mediennutzerinnen und ‑nutzer können wir den Wahrheitsgehalt der Informationen nur sehr bedingt überprüfen; wir müssen entscheiden, was wir glauben und wem wir vertrauen. Daraus wird das Bild von Realität konstruiert (vgl. Dokumentalion 2012).

Welcher Wahrheitsgehalt wird von medialen Informationen erwartet? „Wir müssen es schaffen, das Vertrauen unserer Leserinnen, Zuschauerinnen, Hörerinnen zu gewinnen. […] Medien waren immer Katalysatoren für Veränderungen: Mehr als Fehler vergrätzt die Leser unsere Hybris, keine Fehler zu machen“ (Hans 2021, S. 31 ff.). Die Annahme, dass Journalismus auf Fakten basiert, keine Interpretation betreibt und keine Fehler gemacht werden, ist eine Illusion. Deshalb ist der offene Umgang mit Fehlern von großer Bedeutung, um das Vertrauen in den Journalismus zu stärken.
 

Vertrauen: Reduzierung von Komplexität

Die Wirklichkeit ist extrem komplex, und wir können nur einen geringen Teil davon begreifen. Deshalb brauchen wir zum Beispiel Fachleute mit Spezialwissen, denen wir vertrauen (vgl. Luhmann 2000). „Vertrauen“ bedeutet eine Prognose in die Zukunft aufgrund von Erfahrungen, die wir schon in der Kindheit gemacht und die wir als Muster abgespeichert haben. Wenn alle Familienmitglieder Versprechungen meistens gehalten haben und wenn sich ihre Aussagen größtenteils als zutreffend erwiesen haben, erhöht das unsere Bereitschaft, zu vertrauen. Wahrscheinlich entwickeln wir im Laufe der Zeit auch Muster für Gesichter und Stimmen, mit denen wir positive Erfahrungen gemacht haben, die in uns ein Gefühl von Vertrauen auslösen und deren Grundzüge wir auf andere übertragen. Werden wir oft enttäuscht, entwickeln wir Misstrauen.

Titel oder Berufsbezeichnungen können zu größerem Vertrauen beitragen. In Zeiten von Corona vertrauen viele den Virologen, andere hassen sie, weil sie deren Forderungen nach Einschränkungen des öffentlichen Lebens für unangenehm oder falsch halten. Möglichweise gibt es auch unterschiedliche Persönlichkeiten: die einen sind leichtgläubig, andere eher misstrauisch (vgl. Weiß/Simon o.J.).

Wir vertrauen realen, aber oft auch medialen Personen. Reale Personen beobachten wir direkt, wir nehmen sie sehr komplex wahr. Mediale Personen – zum Beispiel Journalisten – vermitteln meistens etwas über Dritte, etwa die Bundeskanzlerin, Bundestagsdebatten oder Menschen in Krisen, in Täter- oder Opfersituationen, die sie beobachten oder interviewen. Wir beobachten also die Beobachter. Medial präsentierte Personen erleben wir nur reduziert: Wir hören ihre Stimme und wir sehen sie, aber dazwischen steht ein Medium. Ihr Äußeres kann medial verzerrt dargestellt sein, sie können sich inszenieren und sie können ihre mediale Präsenz mit Trainern eingeübt haben.

Inhaltlich glauben wir lieber denen, die unsere Voreinstellungen bestätigen. Je älter wir werden, desto schwerer fällt es uns, die eigene Meinung zu ändern. Wir konstruieren unser Weltbild so, dass es für uns einen Sinn ergibt, mit dem wir leben können. Weil es schwer ist, sich damit abzufinden, dass wir das meiste über unsere Existenz nicht sicher wissen und die Zukunft nicht prognostizieren können, schaffen wir uns Narrative. Wir nutzen Religionen, die für sich beanspruchen, eine Antwort darauf zu besitzen, woher wir kommen und wohin wir gehen. Lange haben Menschen die Inhalte religiöser Lehren wörtlich verstanden und darauf vertraut, inzwischen werden sie eher symbolisch verstanden. Als Alternative vertrauen manche auf esoterische Lehren und astrologische Prognosen, oder sie orientieren sich am Aberglauben. Der ehemalige Präsident der USA Ronald Reagan soll sich sogar in politischen Entscheidungen den Rat einer Wahrsagerin eingeholt haben (vgl. Der Spiegel 1988).

Dass wir manchmal auch auf Lügen vertrauen, zeigt die „Theorie der kognitiven Dissonanz”, die Leon Festinger bereits in den 1950‑Jahren entwickelte. Er beobachtete eine Endzeitsekte, die überzeugt war, dass ihre Mitglieder an einem bestimmten Tag an einer bestimmten Stelle von Gott abgeholt würden. Ihn interessierte, was passieren würde, wenn Gott nicht erschiene. Seine Vermutung, dass dann das religiöse Grundprinzip der Sekte ins Wanken geraten würde, bestätigte sich nicht. Als die Wolke nicht kam, begann man, Erklärungen dafür zu liefern: Die Gemeinde sei noch zu klein, Gott würde sie auffordern, noch mehr Mitglieder zu sammeln, oder man habe sich irgendwo verrechnet und das Ereignis würde später stattfinden. Festinger schloss daraus, dass unser Gehirn Mechanismen entwickelt, um Erkenntnisse zu ignorieren, wenn sie als dissonant zur eigenen Weltsicht oder Wünschen empfunden werden. Der Mensch will so vermeiden, mit kognitiven Widersprüchen zu leben (vgl. Heuer 2011).
 

Mediendemokratien

Medien schaffen öffentliche Räume, sie bieten Informationen und ermöglichen Diskussionen mit vielen. Öffentliche Räume hat es immer gegeben, sie haben immer schon Einflüsse auf gesellschaftliche Veränderungen entfaltet. Früher trafen sich Menschen zu Herrenabenden oder Nähkränzchen, in Clubs, Vereinen oder zu Frühschoppen. Die Möglichkeit, die Kommunikation mit Massen zu führen, wurde durch die Zeitungen und später den Rundfunk erweitert, heute gibt es das Internet und die sozialen Medien als öffentlichen Raum. Die Partizipation des Einzelnen wächst, gleichzeitig sinken aber auch Ansprüche an die intellektuellen und ethischen Kompetenzen, am Diskurs teilzunehmen.

Moderne Demokratien mit mehreren Millionen Einwohnern wären wohl ohne Massenmedien nicht funktionsfähig. Politiker, Parteien, Wahlergebnisse, relevante Gesetze und deren Änderungen sowie aktuelle Diskurse kennen wir vornehmlich aus den Medien. Deshalb sind sie ein wichtiger technischer sowie selektierender und interpretierender Mittler zwischen öffentlichen und privaten Menschen, den wichtigen gesellschaftlichen Instanzen und den Durchschnittsbürgerinnen und ‑bürgern, die sich damit zurechtfinden müssen. Eine wesentliche Errungenschaft moderner Demokratien ist es, dass die Bevölkerung sich ungehindert mithilfe freier Medien informieren und daraus eine Meinung über gesellschaftliche Prozesse bilden kann.

Wahlen stellen Mehrheiten fest und sind die Voraussetzung für die Bildung einer Regierung. Dabei müssen sowohl die Wählenden als auch die zur Wahl Stehenden darauf vertrauen, dass Wahlverfahren korrekt durchgeführt werden und die Ergebnisse das tatsächliche Votum des Volkes widerspiegeln. Alle müssen darauf vertrauen, dass der Verlierer das Wahlergebnis akzeptiert und das Amt dem Gewinner überlässt. In funktionierenden und stabilen Demokratien geschah das bisher reibungslos, auch in den USA war es gute Tradition, dass der Verlierer sein Scheitern eingesteht und dem Gewinner gratuliert.
 

Trump und die sozialen Medien

Die Erstürmung des Kapitols durch Anhänger des abgewählten Präsidenten Donald Trump am 6. Januar 2021 zeigt, dass selbst in einer gefestigten Demokratie das Vertrauen sowohl in die offiziell verkündeten Wahlergebnisse als auch in die Akzeptanz des Wahlergebnisses durch den Präsidentschaftskandidaten nicht immer vorhanden ist. Dass ein noch amtierender Präsident seine Anhänger dazu aufruft, ein Wahlergebnis ohne konkrete Anhaltspunkte als gefälscht zu betrachten und die Bestätigung des neu gewählten Präsidenten im Senat durch Demonstrationen zu verhindern, und dass ein großer Teil der Anhänger dies tatsächlich mit dem Einsatz von Waffengewalt versucht, ist in Demokratien ein bisher einzigartiger Vorfall. Fünf Menschen sind dabei ums Leben gekommen, hier wurde also jede Grenze akzeptabler Proteste überschritten – und das Ganze aufgrund der Anstiftung durch den noch amtierenden Präsidenten. Sollte das Ereignis Schule machen, könnte damit das Ende funktionierender Demokratien eingeläutet werden.

Das Vertrauen in die Zuverlässigkeit amerikanischer Politik hat schwer gelitten. Aber so sehr auch alle Welt am Verstand dieses Ex-Präsidenten zweifelt, desto mehr steigt die Bewunderung bei seinen Anhängern, die ihm offenbar vertrauen. Immerhin haben ihn 2020 etwa 74 Mio. gewählt, ca. 11 Mio. mehr als 2016 (CNN 2016 u. 2020). Beide Lager stehen sich nun hasserfüllt und unversöhnlich gegenüber, viele befürchten eine Spaltung der republikanischen Partei. Einige Parteimitglieder wenden sich mit Schrecken von Trump ab, während andere weiterhin ohne Wenn und Aber hinter ihm stehen.

Viele Wählerinnen und Wähler glauben nur noch dem eigenen Lager, die Gruppenzugehörigkeit wiegt schwerer als die Frage, ob es sich bei den politischen Aussagen um erfundene Agitation oder um Fakten handelt. Eine ehemalige Sprecherin Trumps hat dafür den Begriff der „alternativen Fakten“ geprägt. Verschiedene Umfragen zeigen, dass 52 % der republikanischen Wählerschaft an Trumps Behauptung der Wahlfälschung glauben. Dass ihm auch in den republikanisch regierten Bundesstaaten weder ein Gouverneur noch ein Wahlkampfleiter und selbst keine/‑r der von ihm benannten Richterinnen oder Richter Recht gegeben haben, wird dabei ignoriert (vgl. red/reuters 2020).
 

Tagesschau: Washington I Nach Sturm auf Kapitol



Twitter und die Öffentlichkeitsarbeit

Die Ursache für diese Entwicklung sehen viele in den sozialen Medien, allen voran in Twitter, über die der amerikanische Präsident kommunizierte. Dort musste er sich nicht mit kritischen Fragen fachkundiger Interviewpartnerinnen und ‑partner auseinandersetzen, er konnte seine Glaubenssätze ohne jede Kontrolle oder Widerspruch in die Welt setzen. Als selbst Twitter die Sache zu bunt wurde, markierte die Plattform immer öfter die Tweets von Trump als unglaubwürdig, bis sie seinen Account schließlich völlig sperrten – vielleicht etwas spät und wohl auch deshalb, weil Trump nun ohnehin bald bedeutungslos werden wird.

Viele, unter anderem Kanzlerin Angela Merkel, fragen nun, ob das mit der Presse- und Meinungsfreiheit vereinbar sei: Können es Demokratien privaten Unternehmen überlassen, zu entscheiden, welche politischen Äußerungen erlaubt sind und welche nicht? (vgl. Bleiker 2021). Wenn ein Unternehmen begründet die Meinung vertritt, dass über seine Plattform Unwahrheiten oder gar staatsgefährdende Inhalte verbreitet werden, und eine Veröffentlichung ablehnt, ist das keine staatliche Zensur, die in Deutschland nach Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verboten wäre. Weder bei einem Zeitungsverlag noch bei Fernsehsendern gibt es einen Anspruch darauf, seine Meinung zu veröffentlichen. Verbreitungsbeschränkungen durch Unternehmen sind also nicht ungewöhnlich. Allerdings stellen viele die Frage: Wenn ohne Rücksicht auf den Wahrheitsgehalt irgendwelche Nachrichten in die Welt gesetzt werden können – bleibt dann die Wahrheit im sogenannten „postfaktischen“ Zeitalter auf der Strecke?
 

Postfaktisches Zeitalter – Medien und Wirklichkeit

Der Begriff „postfaktisches Zeitalter“ erweckt den Eindruck, als habe es jemals ein faktisches Zeitalter gegeben. Aber auch der Rundfunk und die Printmedien haben es mit der Wahrheit nicht immer genau genommen. Die Gleichschaltung der Medien während der Nazidiktatur oder zahlreiche aktuelle Zensurmaßnahmen in vielen Ländern der Welt zeigen, dass es nicht die Medien als technische Mittler sind, die Unwahrheiten verbreiten, sondern die Menschen, die sie betreiben, verantworten oder kontrollieren. Verantwortlich sind aber auch die Nutzerinnen und Nutzer mit ihren Erwartungen. In manchen autoritär regierten Ländern kann man privaten Posts bei Facebook oder Twitter – wenn sie dort überhaupt erlaubt sind – mehr trauen als den offiziellen Medien. Soziale Medien sind also nicht per se das Problem.
 

Klassische Medien und deren Umgang mit Falschmeldungen

Auch in den klassischen Medien hat es viele fatale Fehler und Falschmeldungen gegeben, die vertrauensschädigend waren. Der „Stern” veröffentlichte 1983 angebliche Tagebücher von Adolf Hitler, für deren Erwerb er immerhin 9,34 Mio. DM bezahlt hatte. Die Tagebücher stellten sich bald als Fälschung heraus. Als Folge dessen musste die Chefredaktion zurücktreten, der öffentliche Skandal um den Einkauf der gefälschten Tagebücher führte zu einem Vertrauensverlust und zu einem vorübergehenden Rückgang der verkauften Auflage (vgl. Herwig 2019).

Im Februar 2003 verbreiteten die Medien die Darstellung des damaligen US-Außenministers Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat, der irakische Machthaber Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungsmittel. Powell gab später zu, in dieser Sache gelogen zu haben und entschuldigte sich dafür (vgl. Burgmer 2013). In Deutschland wurde eher kritisch darüber berichtet, in den USA war die mediale Unterstützung dagegen groß. Selbst Hillary Clinton, damals als Mitglied der demokratischen Partei in der Opposition, schlug sich in den Medien auf die Seite des republikanischen Präsidenten George Bush (vgl. als/dpa 2014). Dies war sicherlich eine der folgenschwersten Falschdarstellungen: Der Irakkrieg hat nach Schätzungen etwa 5.000 Soldaten und 100.000 Zivilisten das Leben gekostet, abgesehen von den Spätfolgen wie beispielsweise der Entstehung des Islamischen Staats, der unzählige zusätzliche Opfer auf dem Gewissen hat (SZ.de 2013).
 

Tagesschau: Historische Fakes: Massenvernichtungswaffen im Irak



Da in Demokratien Kriege normalerweise von der Bevölkerung abgelehnt werden, ist die Unterstützung der Medien, vor allem, wenn sie ernsthafte Bedrohung auch für das eigene Volk ankündigen, wichtig, um einen militärischen Einsatz politisch durchsetzen zu können.

Falschmeldungen der Medien konnten also auch schon vor den sozialen Netzwerken erheblichen Schaden anrichten. Das gilt vor allem für das Mediensystem in den USA. Der Rundfunk ist dort marktwirtschaftlich organisiert, er bedient nur das jeweils eigene Klientel und lässt die Gegenseite kaum zu Wort kommen: Deshalb ist er entweder stark rechts- (Fox News) oder stark linksorientiert (CNN). Die erkennbare Spaltung der amerikanischen Bevölkerung in sehr konservativ und sehr progressiv spiegelt diese mediale Spaltung wider. Trump hat es zusätzlich geholfen, dass er bei allen Sendern als Interviewpartner sehr beliebt war, weil er durch seine Polarisierung und eine gewisse Unterhaltsamkeit hohe Zuschauerquoten versprach. Die Filterblase, die wir in Deutschland vornehmlich den sozialen Medien zuordnen, trifft in den USA auch auf den klassischen Rundfunk zu.
 

Hans Leyendecker und „Der Spiegel“

Im Dezember 2018 wurde aufgedeckt, dass der für den „Spiegel” tätige und mehrfach ausgezeichnete Journalist Claas-Hendrik Relotius Gespräche und Interviews einfach erfunden hatte. Immerhin machte der Spiegel dies öffentlich und gibt sich nun große Mühe, den Eindruck zu vermitteln, mangelhafte Recherche und Falschinformationen in der eigenen Geschichte aufzudecken. Verlorenes Vertrauen soll so zurückgewonnen werden.

Dabei traf es auch einen Journalisten, dem allgemein großes Vertrauen geschenkt wurde. 1993 wurde der RAF-Terroristen Wolfgang Grams am Bahnhof von Bad Kleinen währende des Einsatzes der GSG 9 durch einen Kopfschuss getötet. Der Journalist Hans Leyendecker beschuldigte im „Spiegel” einen der beteiligten Polizisten, Grams getötet zu haben. Diese Anschuldigung hatte Folgen: Der damalige Innenminister Rudolf Seiters trat zurück, und der Generalbundesanwalt Alexander von Stahl wurde in den Ruhestand versetzt.

Leyendecker stützte seine Aussage auf zwei angebliche Gespräche mit einem Zeugen, ein Gespräch fand demnach persönlich statt, eins am Telefon. Den Namen des Zeugen wollte Leyendecker mit Hinweis auf den Informantenschutz nicht nennen, insofern war seine Aussage nicht überprüfbar. „Nach dem späteren Ergebnis der Ermittlungen, das mehrfach von Gerichten überprüft wurde, erschoss sich der schwer verwundete Grams mit der eigenen Waffe. Leyendecker entschuldigte sich mehrfach und bezeichnete es als seinen ,verheerendsten Fehler‘, dass er einem unzuverlässigen Informanten vertraut habe“ (SZ.de 2020). „Der Spiegel“ bezweifelte, dass Leyendecker mit dem Zeugen tatsächlich persönlich gesprochen hatte.

Daran, dass Leyendeckers Version, Grams sei von einem Polizisten erschossen worden, falsch ist, gibt es wohl keinen Zweifel. Nach einem Schreiben von Stahls an den „Spiegel“ 2018 stellte das Nachrichtenmagazin eine Kommission zusammen, die den Fall noch einmal aufrollte und darüber einen Bericht veröffentlichte. Darin wird bezweifelt, dass es den Zeugen Leyendeckers tatsächlich gegeben bzw. dass Leyendecker mit diesem tatsächlich persönlich gesprochen hat. Die Redaktion würde jedoch eine Mitschuld treffen, man habe Leyendecker damals wegen seines hervorragenden Rufes vertraut und die Quellen nicht nachrecherchiert, so „Der Spiegel“ (Fehrle/Weigel 2020). Leyendecker war über den Bericht der Kommission empört, hielt ihn für schlecht recherchiert und erwog, gegen die Veröffentlichung wegen Rufmordes zu klagen (epd 2020). Inzwischen hat der „Spiegel“ einen Teil der Stellungnahme Leyendeckers übernommen, bleibt aber im Wesentlichen bei der Darstellung des Berichts (SZ.de 2020).
 

Die New York Times und der erfundene Podcast

Im Dezember 2020 hat es auch die für ihre gründliche Recherche bekannte „New York Times“ erwischt. Sie hatte ab 2018 mit einem Kanadier, der angeblich in Syrien für den Islamischen Staat (IS) als Kämpfer tätig war, einen Podcast herausgegeben. Anderthalb Jahre später wurde dieser in seiner Heimat wegen Vortäuschung einer terroristischen Straftat verhaftet, die Berichte über seine angeblichen Terrorakte waren frei erfunden. Die „New York Times“ kam nach der Überprüfung des Vorfalls zu dem Schluss, dass die eigenen hohen journalistischen Standards nicht erfüllt worden waren, und gab auch den prestigeträchtigen „Peabody Award“ zurück, den sie für den Podcast Caliphate erhalten hatte (Der Spiegel 2020).
 

Pluralismus, Toleranz und der Absolutheitsanspruch von Religionen

Die Verfassungen westlicher Demokratien garantieren ihrer Bevölkerung neben der Meinungsfreiheit auch die freie Ausübung von Religionen (Art. 4 GG). Es ist eine wichtige Errungenschaft, zu akzeptieren, dass Menschen unterschiedliche Meinungen vertreten und ihr Leben danach ausrichten können. Dazu gehören beispielsweise religiös bedingte Tätigkeiten wie Gottesdienste und Gebete, solange die Rechte anderer nicht verletzt werden. Unser Staat ist weltanschauungsneutral. Wenn man sich bewusst ist, dass Werte und gesellschaftliche Moral soziale Konstruktionen und keine absoluten Wahrheiten sind, ist das gleichberechtigte Nebeneinander unterschiedlicher Werteanschauungen akzeptabel, weil einem bewusst ist, dass eben auch die eigene Überzeugung falsch sein kann.

Nun ist es aber gerade das Wesen von Religionen oder auch von Ideologien, dass sie einen Alleinvertretungsanspruch geltend machen: Wenn der Gott, an den man glaubt, die Welt geschaffen hat, sowohl allwissend als auch allmächtig ist und die Einhaltung der von ihm gegebenen Regeln erwartet, ist eine andere Religion, die dasselbe für sich in Anspruch nimmt, nicht möglich, denn wenn auch der andere Gott der Schöpfer sein könnte, kann es der eigene nicht sein. Wenn der eigene Gott gegenüber den Un- oder Andersgläubigen bis aufs Blut verteidigt wird, fühlen sich extrem Gläubige selbst dann moralisch im Recht, wenn sie Menschen töten, die Gott oder den Propheten beleidigen. Das ist kein spezielles Phänomen des Islam, sondern das hat es auch in früheren christlichen Kulturen gegeben, denken wir an die Kreuzzüge oder den Umgang der Kirche mit angeblichen Hexen oder Ketzern.

Das Gleiche gilt für die Anhänger extremer Ideologien, denken wir an den Mord von Walter Lübcke am 1. Juni 2019 in Kassel oder den Attentäter, der am 9. Oktober 2019 die Teilnehmer eines Gottesdienstes am Jom-Kippur-Feiertag in Halle töten wollte.

Die Spaltung der Gesellschaft in „richtig“ und „falsch“ ist in vielen Bereichen tief verwurzelt. Es ist wichtig, dass alle ihre Meinung vertreten und mit anderen auch kontrovers und in der Sache hart diskutieren können. Aber bei vielen Texten im Internet, auch im Bereich Politik oder Wissenschaft, lassen der Tonfall und die Wortwahl jeden Selbstzweifel und jeden Respekt vor den anderen vermissen. Es kommt zu Beleidigungen und Herabwürdigungen. Die sozialen Netzwerke und ein Teil ihre Nutzerinnen und Nutzer müssen hier noch eine zivilisatorische Entwicklung durchmachen und – wie in den klassischen Medien überwiegend üblich – eine Kultur des Umgangs einüben.
 

Vertrauen und gesellschaftliches Handeln

Werte, die daraus resultierende Moral, die Gesetze, Konventionen, Normen und Anstandsregeln – sie alle bilden das Fundament von kleinen und großen Gemeinschaften. Wir müssen darauf vertrauen, dass alle Beteiligten die Regeln einhalten, andernfalls funktioniert das Leben in der Gemeinschaft nicht mehr. Wenn die Ampel Grün zeigt und ich mit beachtlicher Geschwindigkeit eine Kreuzung überquere, vertraue ich darauf, dass andere Verkehrsteilnehmer die rote Ampel beachten, andernfalls käme es ständig zu Unfällen. Genauso verhält es sich mit Bankgeschäften, Mietzahlungen für die Wohnung oder mit dem Vertrauen in die Lebenspartner, die, ebenso wie man selbst, vereinbarte Regeln einhalten sollten. Unser gesamtes Finanzsystem basiert auf Vertrauen. Wenn man etwas verkauft und dafür 1.000 Euro erhält, muss man darauf vertrauen können, dass die Scheine oder die Überweisung auf dem Konto ihren Wert erhalten, denn sonst würden wir lieber zum steinzeitlichen Tauschgeschäft zurückkehren.
 

Misstrauen gegen Politik und Medien

Das Vertrauen in die Politik und darin, dass ihre Vertreterinnen und Vertreter richtige Entscheidungen fällen, ist in der Bevölkerung sehr unterschiedlich ausgeprägt, wie der Zustrom zur „Alternative für Deutschland“ (AfD) zeigt (vgl. Welt 2019). Ähnliche Phänomene von Misstrauen gegenüber der etablierten Politik haben wir in fast allen europäischen Ländern. Auch Donald Trump war sehr erfolgreich damit, sich gegen das politische Establishment zu stellen. Wenn die Medien dieser Bewegung nicht folgen, werden sie als unglaubwürdig und als „Lügenpresse“ klassifiziert. Die etablierten Parteien seien ohnehin nur an der Macht interessiert, alles sei abgesprochen, und die Medien seien ein williger Apparat des politischen Mainstreams.

 

bpb: Ralf Klausnitzer zum Begriff der Lügenpresse



Im Allgemeinen ist allerdings das Vertrauen in die Medien durchaus stabil, wie verschiedene Untersuchungen zeigen (vgl. JG|U/Institut für Publizistik 2020). Der Begriff „Lügenpresse” ist übrigens nicht neu; er stammt ursprünglich von Martin Luther, der ihn vor allem an die Juden richtete, die damals im Besitz der meisten Zeitungen waren und sich weigerten, seine Lehre der Reformation zu übernehmen (vgl. Medienkorrespondenz 2016).
 

Fazit

In sozialen Netzwerken gelten andere Regeln als im Rundfunk oder in den Printmedien, hier können sich Meinungen frei von redaktioneller Bearbeitung oder dem Anspruch eines vorherigen Faktenchecks verbreiten. Wie beim öffentlichen Stammtisch können alle behaupten, was sie wollen – und sei es noch so abwegig und absurd. Es gibt sowohl sehr fundierte, kluge und sachlich zutreffende Informationen und Kommentare, aber eben auch viele andere. Dabei wird die eigene Position meist als die absolut richtige dargestellt und die andere mit zum Teil erheblichem Hass herabgewürdigt. Ob wir das mit rechtlichen Maßnahmen wie dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz nachhaltig und umfassend ändern können, ist angesichts der Menge an Posts zu bezweifeln. Wichtiger ist es, den Mediennutzenden zuzurufen: Begegnet Botschaften, die sich selbst als absolut darstellen und keine andere Position zulassen, mit großem Misstrauen! Diskurs heißt immer, sich selbst nicht über andere zu stellen. Wägt ab, sucht nach Plausibilitäten. Der Philosoph Hans-Georg Gadamer hat das mit seinem berühmten Satz zutreffend formuliert: „Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte“ (Sturm 2000).
 

Quellen:

als/dpa: Entschuldigung. Hillary Clinton bereut Ja zum Irak-Krieg. In: Der Spiegel, 06.06.2014. Abrufbar unter https://www.spiegel.de (letzter Zugriff: 27.01.2021)

Bleiker, C.: Meinungsfreiheit in sozialen Medien. Diskussionen um Trumps Twitter-Sperre. In: Deutsche Welle, 15.01.2021. Abrufbar unter https://p.dw.com/p/3nvIR (letzter Zugriff: 27.01.2021)

Burgmer, C.: Auf Lügen gebaut. Vor zehn Jahren hielt US-Außenminister Powell vor dem UN-Sicherheitsrat seine Anklagerede gegen den Irak. In: Deutschlandfunk, 05.02.2013. Abrufbar unter: www.deutschlandfunk.de (letzter Zugriff: 27.01.2021)

CNN: Presidential Results 2016. In: CNN. Abrufbar unter: https://edition.cnn.com (letzter Zugriff: 27.01.2021)

CNN: Presidential Results 2020. In: CNN. Abrufbar unter https://edition.cnn.com (letzter Zugriff: 27.01.2021)

Der Spiegel: „Die Augen auf die Sterne gerichtet“. In: Der Spiegel, 16.05.1988. Abrufbar unter: www.spiegel.de (letzter Zugriff: 27.01.2021)

Der Spiegel: „New York Times“ büßt auch Pulitzer-Nominierung ein. In: Der Spiegel, 23.12.2020. Abrufbar unter: www.spiegel.de (letzter Zugriff: 27.01.2021)

Dokumentalion: Das Gedächtnis lügt. In YouTube, 05.10.2012. Abrufbar unter: www.youtube.com (letzter Zugriff: 27.01.2021)

epd: Leyendecker prüft rechtliche Schritte gegen den „Spiegel“. In: medien aktuell, 04.11.2020. Abrufbar unter: http://newsletter.helena.de (letzter Zugriff: 27.01.2021)

Fehrle, B./Weigel, S.: Der Todesschuss. Abschlussbericht der Aufklärungskommission zur Titelgeschichte über den Antiterroreinsatz in Bad Kleinen am 27. Juni 1993, Heft 27/1993. In Der Spiegel, 29.10.2020. Abrufbar unter: https://cdn.prod.www.spiegel.de (letzter Zugriff: 27.01.2021)

Hans, B.: Von Mut, Macht und vertrauen. In: Journalist, Nr. 1 + 2, 2021, S. 31 – 36

Herwig, M.: Der Super-Gau. In Stern, 08.02.2019. Abrufbar unter: https://www.stern.de (letzter Zugriff: 27.01.2021)

Heuer, J.C.: Festingers Theorie der Kognitiven Dissonanz. In: Ethologie Psychologie Weblog, 15.11.2011. Abrufbar unter: https://ethologiepsychologie.wordpress.com (letzter Zugriff: 27.01.2021)

JG|U/Institut für Publizistik: Langzeitstudie Medienvertrauen. Forschungsergebnisse der Welle 2019. In: Medienvertrauen, 25.02.2020. Abrufbar unter: https://medienvertrauen.uni-mainz.de (letzter Zugriff: 27.01.2021)

Luhmann, N.: Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden 1995

Luhmann, N.: Vertrauen: ein Mechanismus der Reduzierung sozialer Komplexität. Stuttgart 2000

Medienkorrespondenz: Luther und die Lügenpresse. In: Medienkorrespondenz, 30.09.2016. Abrufbar unter: www.medienkorrespondenz.de (letzter Zugriff: 27.01.2021)

red/reuters 2020: Hälfte der US-Republikaner glaubt an Trumps Wahlsieg. In: Stuttgarter Nachrichten, 18.11.2020. Abrufbar unter: www.stuttgarter-nachrichten.de (letzter Zugriff: 27.01.2021)

Sturm, T.: Rituale sind wichtig“. Hans-Georg Gadamer über Chancen und Grenzen der Philosophie. In: Der Spiegel, 8/2000, S. 305. Abrufbar unter: https://magazin.spiegel.de (letzter Zugriff: 27.01.2021)

SZ.de: US-Studie. 500.000 Tote durch Irak-Krieg. In: Süddeutsche Zeitung, 16.10.2013. Abrufbar unter: www.sueddeutsche.de (letzter Zugriff: 27.01.2021)

SZ.de: Journalist Hans Leyendecker. Teilerfolg gegen den „Spiegel“. In: Süddeutsche Zeitung, 11.12.2020. Abrufbar unter: www.sueddeutsche.de (letzter Zugriff: 27.01.2021)

Weiß, B./Simon, C.P.: Wie wir Vertrauen gewinnen - und verhindern, misstrauisch zu werden. In: GEO, o.J. Abrufbar unter: www.geo.de (letzter Zugriff: 27.01.2021)

Welt: Diese Umfrage zeigt den massiven Vertrauensverlust in die Politik. In: Welt, 19.11.2019. Abrufbar unter www.welt.de (letzter Zugriff: 27.01.2021)