Von Stadionhelden und Sofaathleten

Was uns der Fernsehsport bedeutet und erzählt

Torsten Körner

Dr. Torsten Körner arbeitet als freier Autor in Berlin und ist Vorsitzender in den Prüfausschüssen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

In: tv diskurs. Verantwortung in audiovisuellen Medien
22. Jg., 4/2018 (Ausgabe 86), S. 18–25

„Ob wir mitspielen oder nicht, es wird mit uns gespielt. Was auch immer wir tun oder unterlassen, unser Widerstand ändert nichts.“

Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen

Vollständiger Beitrag als:

Es war unmöglich. Es war wie eine Szene aus dem Film Matrix, in der die Grenzen der Schwerkraft nicht mehr gelten. Ich weiß nicht, welche Geräusche ich gemacht habe, aber meine Frau sagt, überall auf der Couch habe Popcorn gelegen, und ich hätte mit weit aufgerissenen Augen vor dem Bildschirm gekniet. Das jedenfalls war so ein Federer-Moment, obwohl ich ihn nur im Fernsehen erlebt habe und obwohl natürlich Tennis im Fernsehen sich zu real erlebtem Tennis verhält wie ein Pornofilm zu real erlebter Liebe.“1

So beschreibt der Schriftsteller David Foster Wallace einen magischen Fernsehsport-Moment, den er zusammen mit dem Tennisspieler Roger Federer erlebte. Wallace beschreibt den Federer-Moment, die Wahrnehmung des Spiels als „religiöse Erfahrung“, bei der der Ausnahmespieler die Gesetze der Physik hinter sich lässt und so dem Zuschauer eine gleichsam metaphysische Lektüre erlaubt. Der Essay von David Foster Wallace ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich und wirft, wenn wir über den Fernsehsport, seine Popularität und seine Bilder nachdenken, eine ganze Reihe von Fragen auf, die man vielleicht nicht schlüssig beantworten kann, die uns aber mitten hinein in die „flüchtige Moderne“ (Zygmunt Bauman) werfen. Diese Fragen führen uns vor Augen, was es mit dem „Unbehagen an der Moderne“ (Charles Taylor) auf sich haben könnte; von hier aus – der Betrachtung der gehetzten und unübersichtlichen Gegenwartswelt – können wir zurückfragen, wieso uns der Fernsehsport Inseln des Behagens schenkt.
 

Momentifizierung des Lebens

Warum – könnte man tastend fragen – kniete David Foster Wallace vor einem Fernseher? Hatte er keine anderen Kirchenbänke? Keine anderen Himmel und Asyle? Was sagt die Interaktion über den Sofaathleten und was über den Tennisspieler aus? Und ist Fernsehtennis dasselbe wie Stadiontennis? Was ist der Reiz des Fernsehsports? Eine flüchtige, naheliegende Antwort auf all diese Fragen könnte man geben, indem man ein Schlüsselwort aus dem Essay präpariert und betrachtet: „Moment“. Das Fernsehen, der Athlet und auch der Zuschauer (denn seine rezeptive Sensibilität ist gefragt) formen den Federer-Moment, den Moment, der es wert ist, erkannt, erlebt und erinnert zu werden, den Moment, der den Alltag und die Dinge übersteigt und eine quasi religiöse Erfahrung erlaubt. Wir leben in einer Gesellschaft, die den Moment anbetet: „Sammle Momente, keine Dinge“ schallt es einem überall entgegen. Diese postmaterielle Momentifizierung des Lebens verweist auf die Fragmentierung und Atomisierung unserer Lebenserfahrungen und Biografien, sie spricht vom „Ende der großen Erzählungen“ und vom Regime der Authentizität, nach der wir uns sehnen und sehnen sollen, denn auch sie ist längst zum identitätsbildenden Verkaufsschlager geworden. Die Momentifizierung richtet sich auch an jene, die an metaphysischer Obdachlosigkeit leiden, sich aber religiöse oder spirituelle Momente leisten, als Augenblicke höchster Sinn- und Sinnlichkeitsverdichtung. Ihren schlagenden Ausdruck erfuhr die Momentifizierung durch Andreas Bouranis Hit Auf uns, der 2014 von der ARD zum WM-Song erkoren wurde und damit unzählige Male in Ohren und Gemüter der Fernsehzuschauer gespült wurde. Im Refrain heißt es:

„Ein Hoch auf uns (uns), auf dieses Leben,
auf den Moment, der immer bleibt.
Ein Hoch auf uns (uns), auf jetzt und ewig,
auf einen Tag Unendlichkeit.“
 

Der Song verband sich wieder und wieder mit Jubelszenen, Bierflüssen, dem Bild eines feiernden Freundeskreises, mit Chips und Popcorn, mit dem Sofa-Sommer-Sieg-Sauwohlgefühl. Der Text kann als affirmativer Existenzapplaus gelesen werden, der Fußballfan wird zum Fan des eigenen Lebens, der Sofaathlet wird zum Mittelpunkt der Welt und wenn er sich dieser enthusiastischen Selbstfeier hingibt, dann hat er alles richtig gemacht. Der Fußballfan oder Fernsehsportfan verbrüdert und verschwestert sich im glanzvollen Augenblick mit allen da draußen, mit allen, die feiern wie er oder sie. Wir sind doch alle Fans, Freunde, Familie, Fernsehfamilie!2 Eine erste, vorsichtige Antwort auf die Frage, warum uns Fernsehsport derart fesselt, ist demnach die Intensivierung unseres Gefühls, seine universelle Reichweite, das rauschhafte Bekenntnis zum Moment und die Kraft, uns – im Augenblick der Momentlektüre – mit dem Stadionhelden gleichsam zu verkuppeln. Wir, die Sofaathleten, beten den Stadionhelden an und indem wir das tun, schaffen wir gemeinsam die Kapelle aus Epiphanie und Entertainment.

Diesen interaktiven dynamischen Trialog (Stadionheld, Sofaathlet und Medium) oder sagen wir diese audiovisuelle Dreifaltigkeit gilt es, im Auge zu behalten, wenn wir den globalen Siegeszug des Fernsehsports verstehen und uns selbst als Sofaathleten durchschauen wollen. Dass wir es mit einer triumphalen Erfolgsgeschichte zu tun haben, dass das Fernsehen den Sport medialisiert oder – wie viele Medienwissenschaftler schreiben – mediatisiert, steht außer Frage.
 

Mediatisierung des Sports

Zum wachsenden Hunger nach Sportfernsehen passt auch das Aufkommen von reinen Sportsendern. Während es 1990 europaweit keinen einzigen Sportsender gab, zählte man 2003 bereits 92, wobei vor allem der Sender EUROSPORT hervorsticht, der in 59 Ländern empfangen werden kann. Es ist völlig klar, dass ein derartiger Erfolg den Sport selbst verändert, mediatisiert und das Sportereignis den Vermarktungslogiken und Inszenierungserfordernissen des Fernsehens unterwirft.3

Auch deshalb kann man davon sprechen, dass Sofaathlet und Stadionheld untrennbar miteinander verbunden sind, selbst wenn sie sich nie begegnen. Die Mediatisierung des Sports, also die mediengerechte Formung der Sportarten, soll hier nur kurz angerissen werden, denn zum einen sind die Beispiele zahllos und zum anderen soll es hier eher um die Mediatisierung der Zuschauer gehen, um den trialogischen Bildfluss zwischen Stadion, Sofa und Medium, um die Bildsprachen und Sprachbilder, mit denen der Fernsehsport in verschiedene soziale Systeme hineinregiert und wiederum von diesen regiert wird.

Ein berühmtes Beispiel für Mediatisierung des Spiels ist die Abschaffung des traditionell braunen Lederballs zur Fußballweltmeisterschaft 1970 und seine Ersetzung durch den schwarz-weißen Fußball Telstar, der schon im Namen darauf verweist, dass er am Bildschirm besser gesehen werden soll. Auch die Veränderung der Satzlängen im Tischtennis – früher mindestens zwei Sätze bis 21, heute drei Sätze bis 11 – geht auf Medienbedürfnisse zurück. Bei fast allen Regeländerungen geht es um eine Dynamisierung und Dramatisierung des Sports, um bessere Sichtbarkeit, um explosivere Spielszenen und die lukrativere Fernsehvermarktung.

Ein anderer Aspekt neben Änderungen des Regelwerkes und der Spielzeitenauffächerung ist die Erotisierung der Sportlerkörper. Ein besonders prominentes Beispiel ist Beachvolleyball, wo insbesondere den Spielerinnen lange Zeit äußerst knappe Shorts und Bikinioberteile vorgeschrieben wurden und gleichzeitig eine besondere Fokussierung der Kameras auf Brust und Gesäß festzustellen war.4

Ein letztes Beispiel für die Mediatisierung des Sports soll uns wieder zur Interaktion zwischen dem Stadionhelden und dem Sofaathleten zurückführen. Der Architekt Volkwin Marg, der viele Arenen für die Fußballweltmeisterschaften 2006 und 2010 entworfen hat, beschrieb in einem Essay, wie die Architektur des Stadions den Sport, den Stadionbesucher, aber vor allem das Fernseherlebnis und den Sofaathleten formt:

Die modernen Fußballstadien werden also weniger für die Fans bei den Spielen gebaut, sondern vielmehr für die Fernsehwerbung. Ohne ein kochendes Stadion bekommt man zu Hause auf der Couch kein authentisches Spielgefühl. Das Stadionpublikum wird zum Claqueur fürs Fernsehen, dessen Hintergrund die Bandenwerbung ist und dessen Gliederung die Einblendungen der Werbespots. […] Alle modernen Fußballarenen kann man als Hysterieschüsseln verstehen. Sie sind ähnlich konzipiert, um den synchronen Ur-Schrei zum kollektiven Ur-Erlebnis zu potenzieren. Sie sind eng, steil und haben ein Dach als Schalldeckel. […] Früher ging der Schall komplett nach oben weg, heute bleibt er im Resonanzkörper des Stadions.“5

Der Stadionbesucher, könnte man zugespitzt sagen, ist für den Sofaathleten der Authentizitäts- und Atmosphärengarant und für die Werbeindustrie ist er der Kaufanreiz-Anwalt und konsumistische Appetitanreger. Ein Produkt, das über die Banden-, Fernseh- oder Trikotwerbung angepriesen wird, wird durch emotionale Hysterie oder positiver durch die kollektive Euphorie angeschoben, glaubwürdig gemacht, mit dem Echtheitsstempel versehen. Halten wir hier vorerst noch ein Wort des Essays von Volkwin Marg fest, das wir später noch gebrauchen werden können: „Resonanzkörper“. Der Architekt beschreibt damit die Architektur des emotionsverstärkenden Stadions, aber wir werden den Begriff später auch auf den Sofaathleten und seine Beziehung zum Stadionhelden und den besonderen Moment anwenden.
 

Sporthelden und Sofaathleten

Kommen wir noch einmal auf den Essay von David Foster Wallace zurück, der von einem auffälligen Widerspruch gekennzeichnet ist. Einerseits schreibt er, der Anblick von Federers Spiel erlaube ihm gleichsam „religiöse Erfahrungen“, andererseits stellt er fest, Fernsehtennis verhalte sich zu echtem Tennis wie ein Pornofilm zu echter Liebe. Wie ist das möglich? Wie kann das Fernsehsporterleben auf eine geradezu spirituelle Ebene gehoben und zugleich als totale Manipulation und Entfremdung begriffen werden? Vielleicht ist dieser Widerspruch unauflöslich, vielleicht verweist er aber auch darauf, dass erst und nur der Sofaathlet zum sinnstiftenden Akteur und „Resonanzkörper“ wird, der einen individuellen Lebensfilm produziert, der eine geglückte Weltbeziehung und harmonische Identitätsfindung garantiert.

Der Fernsehsport wird also vom Zuschauer nicht als inszenierter Abklatsch oder übersteigerter „Porno“ empfunden, sondern – durch seine Co-Autorschaft – als echtes, einzigartiges und unverwechselbares Fernseherleben, in dem alles Unbehagen und alle existenzielle Unsicherheit verschwindet. Das wäre eine mögliche Antwort auf die Frage, was der ungeheure Reiz am Fernsehsport ist, warum mancher vor dem Fernseher kniet und warum sich mit ihm so viel Geld verdienen lässt: Der Fernsehsport erlaubt es dem Sofaathleten einerseits, den Alltag zu überwinden und ins Abenteuer, den Ausnahmemoment einzutauchen, zugleich aber auch sagt er laut und deutlich „Ja!“ zu seiner Existenz als Ego-Unternehmer im Sei-allzeit-bereit-Kapitalismus.

Wie Marke, Mensch, Existenz und Sportmarketing zusammenhängen, hat u.a. Friedrich von Borries anhand des Sportartikelherstellers Nike beschrieben: „Den Nike-Spirit zu leben heißt, das Land jenseits der eigenen Grenzen zu erreichen. Und Just do it heißt, dass das jeder schaffen kann. […] So zeigte ein Werbespot aus der Mitte der neunziger Jahre Andre Agassi und Pete Sampras bei einem wilden Tennismatch auf der 5th Avenue. Die normale Funktionsweise der Stadt wird dafür aufgehoben, die Logik des Alltags durchbrochen. Die Straße wird zum Tennisplatz, der Bürgersteig zur Tribüne. Agassi (das geniale Enfant terrible) und Pete Sampras (der perfektionierte Athlet) verkörpern hier unseren Traum, den Alltag hinter uns zu lassen. Sport wird im Kontrast zum alltäglichen Stadtraum als Akt der Befreiung inszeniert.“6

Wir reisen also mit dem Fernsehsport und seinen Helden in ein „Land jenseits der eigenen Grenzen“, was ja sehr verlockend ist, wir landen aber dennoch wieder genau da, wo wir schon immer waren, nämlich in der Hochleistungsarena des neuen Kapitalismus – den etwa Richard Sennett in Der flexible Mensch beschrieben hat –, wo jeder sich selbst als Unternehmer, Selbstvermarkter und letztlich als Ware begreift. Mag sein, dass auch daher der Widerspruch im Essay von David Foster Wallace rührt, der Widerspruch zwischen „Porno“ und „religiöser Erfahrung“ im Angesicht des Federer-Moments. Im Glückserleben des Fernsehsports steigen wir nämlich ein in die Hochleistungsspirale und wir steigen zugleich aus, weil wir in diesem intensiven Moment scheinbar alles abstreifen, was wir sind. Scheinbar, denn umgekehrt könnte man auch sagen, wir streifen alles über, was wir auch sind, sein wollen und sollen. In dieser widerspruchsvollen Bewegung zwischen Selbstsuche, Marktimperativen, Glücksverlangen und Grenzüberschreitung ist auch die Attraktivität des Fernsehsports begründet, dessen universelle Geschichten völlig getrennte soziale Systeme und Welten miteinander verbinden und völlig disparate Lebenserfahrungen synchronisieren.

Es ist bereits angeklungen, dass uns der Fernsehsport stimuliert (Just do it), dass er beinahe unmerklich in Marketingbotschaften einfließt, die unserer Identität aufhelfen oder an ihr teilhaben wollen. Der Schuh, den wir kaufen, ist ein Stück inkorporierter Traum. An diesem Punkt möchte ich auf eigene Träume und biografische Muster zurückgreifen, um die integrale und synchronisierende Kraft des Fernsehsports zu beschreiben.

Meine ersten Fußballschuhe hatten Gummistollen, was mich total unglücklich machte, denn die Schuhe machten, auf Teer oder Stein, so gut wie kein Geräusch. Nur ein kraftloses, seufzendes Schmatzen. Mir fehlte der virile Sound, wenn die Fußballer auf den Platz laufen und ihre Aluminiumstollen diesen harten Gladiatorensound aufs Pflaster schreiben. Tack, tack, tack. Dieses Geräusch kannte ich vom Fußballplatz, von den Spielen der Herrenmannschaft, es war meinem Fernsehfußballerleben vorgelagert. Als später das Privatfernsehen aufkam, viel später, bemühte man sich, auch um die Authentizität zu steigern, eben diesen harten Stollensound aus dem Kabinentrakt ebenfalls zu übertragen.

Das Fernsehen hatte erkannt, dass viele Zuschauer als ehemalige Spieler so bedient werden wollen, als ob sie selbst noch aktiv wären, das aktuelle Fernseherleben wurde mit Kindheitserlebnissen akustisch kurzgeschlossen, Fernsehen als Reanimationsmaschine. Später trug ich Fußballschuhe, die Franz Beckenbauer hießen. Die Fußball-WM 1974 im eigenen Land hatte ich nicht gesehen, wohl aber Franz Beckenbauers letzte Spiele für den HSV in den Spielzeiten 1980 bis 1982. Ich erinnere mich daran, dass der „Kaiser“, ähnlich wie Federer, in der Lage war, geradezu metaphysische Pässe zu spielen, Pässe, die mir heute noch vor Augen stehen. Ich erinnere auch das Gefühl, dass ich annahm, ich sei der Einzige, der das so sah, der Einzige, der die Schönheit des Augenblicks erkannte und sie gegen die Borniertheit seiner Gegenspieler oder gegen die ästhetische Blindheit meiner Familie verteidigte.

Als ich etwas älter war, wünschte ich mir ein grünschwarzes Torwarttrikot von Wolfgang Kleff und eine Adidas-Trainingsjacke. Ich wurde dann kein Torwart, und in der Trainingsjacke sah ich aus wie der Bundestrainer Jupp Derwall (also als 16-Jähriger wie ein 60‑jähriger Opa), aber die Fußballdinge, die Schuhe, Jacken, Stutzen und Hosen wurden gekauft, um den Fernsehbildern und Vorbildern zu gleichen; und wenn ich im Garten Fußball spielte, dann kommentierte ich mein eigenes Spiel mit der Stimme eines Sportkommentators, und ich war nicht nur ein Spieler, ich war in der Imagination eine ganze Mannschaft.

Diese Rückschau erlaubt mir, die Prägekraft und die soziale Reichweite des Fernsehsports heutzutage besser einzuordnen. Viele Sofaathleten suchen im Fernsehsport ihre Kindheit, sie suchen Heimat, sie suchen biografische Ordnungsfiguren. Der Held oder die Heldin, Beckenbauer, Federer, Michael Schumacher, Jan Ullrich oder Steffi Graf, stehen – wenn wir sie erleben, wenn wir sie erkennen und ihr Spiel lesen – für die reine, geglückte Gegenwart. Wir sind Privilegierte, weil wir das Außerordentliche erkannt und erworben haben. Die Zuschauer beginnen bereits vor dem Fernseher mit dem Kauf, wir konsumieren Momente, die wir von aller instrumentellen Zurichtung befreit wähnen, die aber doch instrumentalisiert werden können. Und natürlich spricht der Fernsehsport unsere früheren sozialen Texturen an. Die Sportsprachen, ihre Bilder, ihre Helden, deren Bewegungsmuster und Spielfeldpräsenz senken sich schreibend in unsere eigenen Körperbilder und Verhaltensweisen ein.

Diese alten Texturen werden durch den Fernsehsport mit Sauerstoff betankt. Wenn wir auf dem Sofa liegen, gehen wir ins Stadion, wenn wir mitfiebern, fiebert in uns eine Epoche, wenn wir einen Moment feiern, öffnet sich eine Galerie gelebter Augenblicke, wenn wir aufspringen und schreien, schreit das Kind in uns, das wir waren. Der Sportsoziologe Thomas Alkemeyer hat auf den „somatischen Prozess“ hingewiesen, durch den wir ein Spiel im Stadion und auf dem Sofa erleben. Selbst der räumlich entfernte Fernsehzuschauer kann vom „muscular bonding“ ergriffen werden:

Wenn das Spielgeschehen einen Resonanzboden in ihren motorischen und affektiven ‚Tiefenschichten‘ findet, nehmen sie trotz räumlicher Trennung nicht nur über den distanzierenden Seh-Sinn am Spiel teil, sondern auch in einem Modus ‚kinästhetischer Sympathie‘.“7

Das meint, wir zappeln unruhig hin und her, stoßen den Freistoß selbst, wir fahren auf dem Sofa Ellenbogen aus, wir spüren dem Teamgeist ebenso nach wie dem Gefühl der eigenen oder der gegnerischen Fans. Wer also Fernsehsport sieht, sieht nicht nur Sport, sondern er findet sich selbst spielend und verliert sich spielend an andere.

Ich habe den Begriff „Sofaathlet“ mit Absicht gewählt, denn er soll dem Begriff „Couch-Potato“ entgegenstehen, der ja impliziert, dass jemand leblos wie eine Kartoffel vor dem Fernseher liegt und Kartoffelchips in sich hineinschüttet (oder Popcorn wie David Foster Wallace), während der Stadionheld asketisch lebt, um Höchstleistungen zu bringen. Der Philosoph Robert Pfaller erklärt die Attraktivität des Sportfernsehens mit seinem Entlastungspotenzial, denn als Fernsehzuschauer verfalle man in Selbstvergessenheit, was es einem erlaube, das Selbst am nächsten Tag wieder in den Arbeitsprozess zu investieren.

Wenn der Zuschauer, so wie es Pfaller unterstellt, im Angesicht des Fernsehsports nur vor sich selbst wegliefe, wenn er nur wie ein „Schlafwandler“ lustvoll die totale „Selbstvergessenheit“ auskostete, um schließlich am nächsten Tag wieder am Arbeitsplatz zu erscheinen, dann würde das kaum den immensen Erfolg des Fernsehsports erklären und zudem den symbolisch-sozialen Zusammenhang zwischen Stadion, Sofa und Arbeitswelt leugnen.
 

Vom Spieltrieb

Der Fernsehsport und vor allem seine Livevarianten scheinen mir jedoch gerade deshalb so erfolgreich, weil der Fernsehsport eben nicht im Dienst einer disziplinierenden Zentralgewalt und Allmacht steht, sondern vielmehr selbst als grundlegende Macht anzusehen ist. Die Popularität des Fernsehsports beruht mindestens auf zwei Faktoren: Er spricht erstens grundlegende menschliche Bedürfnisse an und zweitens generiert er Bilder und Sprachbilder, die in allen Diskursen als symbolische Schlüssel angesehen werden können. Wie ist das gemeint und wie hängen Punkt eins und zwei zusammen?

Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga hat in seiner bahnbrechenden Studie Homo ludens (Der spielende Mensch) darauf verwiesen, dass der Spieltrieb dem Menschen eigen ist und jede Kultur aus den Momenten des Spiels hervorgeht. Der Mensch muss geradezu spielen, um zu sich selbst zu kommen, er spielt, weil er sich nirgendwo sonst mit so heiligem Ernst selbst begegnet. Die Intensität des Spiels weckt im Spieler Leidenschaften, Affekte, die in keinem anderen gesellschaftlichen Bereich erlebt werden. Andererseits aber – so Huizinga – verliere die Kultur im Laufe ihrer Entwicklung und Ausdifferenzierung in allen Bereichen (Wirtschaft, Technik, Arbeitswelt) den Spieltrieb, das Spielerische, stattdessen bleibe der Ernst, die Schwere. Vor diesem Panorama könnte man den Fernsehsport als seriellen Appell an den Zuschauer deuten, sich wieder als „Spieler“ zu verstehen, sich rituell und symbolisch als Mitspieler zu fühlen. Stadionheld und Sofaathlet finden im imaginären Spielbündnis zusammen, denn der Stadionheld ist nichts ohne das Millionenauge auf der Couch und der Sofaathlet existierte nicht ohne den Wettkampf in der „Hysterieschüssel“.

Das ist natürlich auch ein wirtschaftlicher, ein symbolischer, bisweilen ein nationaler oder lokaler und immer ein identifikatorischer Pakt. Weil also der Fernsehsport den Menschen als Spielkind und zugleich als Kind seiner Zeit (flüchtige Moderne, Hypermoderne, Hyper- oder Digitalkapitalismus) anspricht, artikuliert er basale Appelle und Metaphern mit großer „Sinnoffenheit und Kohäsionskraft“, wie es der Soziologe Ulrich Bröckling formuliert.8 Die Metaphern des Fernsehsports seien auch deshalb so ubiquitär, weil sie sich perfekt an zeitgenössische Erfolgskulturen anschmiegen. Man ist im Berufsleben gut aufgestellt, man nimmt sich einen Coach, man besetzt die Poleposition, man spielt in der Champions League, man bekommt die Gelbe Karte gezeigt, man muss nur noch einlochen oder man erzielt einen Wirkungstreffer. Nach Bröckling dienen all diese Metaphern auch dazu, im Wirtschafts- und Berufsleben eine Art „Motivationstheater“ darzustellen, das auf der Täuschung beruht, dass die Wettbewerbsgesellschaft eine Leistungsgesellschaft und sozial gerecht sei. Danach dienten die Wettkampfmetaphern auch dazu, das Unerträgliche zu entschärfen, nämlich die Einsicht, dass Tüchtigkeit nicht vor Unglück schützt und dass Plackerei und Training sich nicht immer auszahlen.

Sicher enthalten die Wettkampfmetaphern, die der Fernsehsport gebärt, dieses Moment, sie sind aber mehr als nur Selbstbetrug. Sie tragen eben auch das Spiel zurück in die Sphären, wo das Spiel verloren gegangen ist, sie reduzieren Komplexität, wo alles undurchdringlich erscheint und sie verpflichten Konkurrenten auf das Fairplay und mahnen Leistungsgerechtigkeit an, wo diese offensichtlich nicht gegeben ist.

Der Fernsehsport ist also nicht nur deshalb so erfolgreich, weil er uns im Liveerleben Momente großer Selbstvergessenheit oder Selbstbegegnung schenkt, weil wir ihm „religiöse Erfahrungen“ verdanken, weil wir durch ihn unserer Existenz und Lebensweise zustimmen, weil wir den Moment genießen und Familiarität in ihm finden, er ist also eben auch erfolgreich, weil er in uns kindliche Bedürfnisse weckt und diese mit dem Erwachsenenleben harmonisiert und weil er in einer Kultur der Authentizität Stadionhelden und Sofaathleten in Tränen badet, die als Emotionsdestillat die kostbarste Währung im Fernsehen darstellen. Wer weint, gewinnt. Dass sich das manchmal wie „Porno“ (David Foster Wallace) anfühlt, hat sicher auch mit der seriellen und hyperkapitalistischen Ausbeutung des Sports zu tun, mit den Hinterzimmern der Korruption bei FIFA, IOC oder UEFA und der machtpolitischen Indienstnahme großer Sportereignisse, aber das ist ein weiteres weites Feld.

Und schließlich sind Sport und Fernsehsport als große apotropäische Handlung, als Abwehrzauber zu verstehen. Als Gerhard Schröder 2005 vorzeitig Neuwahlen ausrief, beschwor ihn sein Außenminister Joschka Fischer, davon Abstand zu nehmen. Bald, so Fischer, würde der Aufschwung spürbar, die Fußball-WM 2006 im eigenen Land würde helfen, die Stimmungen zu drehen. Bis dahin müsse Schröder defensiv an der Grundlinie stehen und den Gegner mit langen Ballwechseln ermüden. Nun ist Gerhard Schröder auch als Politiker immer ein Serve-and-Volley-Spieler gewesen. Aufschlag, Attacke. Geduld gehörte nicht zu seinen Stärken. Ins Stadion ging dann eine andere: Angela Merkel, eine exzellente Grundlinienspielerin.
 

Anmerkungen:

1) Wallace, D. F.: Tennis. Poesie in Bewegung. In: Der Spiegel, 45/2000, S. 164-168

2) Der WM-Song 2018 Zusammen von den „Fantastischen Vier“ beruhte auf der gleichen Botschaftsessenz: Momentifizierung, Freundschaftspathos, Selbstanbetung.

3) Zum Stichwort „Mediatisierung“ siehe auch die Masterarbeit von Schopf, J.: Mediengerechte Regeländerungen. Eine Untersuchung der Mediatisierungstendenzen im Sport mit Blick auf die Änderungen der Regelwerke. Salzburg 2014

4) Das olympische Beachvolleyballspiel der Damen zwischen Brasilien und Deutschland war 2016 auf Platz 74 eines der ganz wenigen Sportereignisse (8,55 Mio. Zuschauer), die es außer den notorischen Fußballspielen in die Top 100 der meistgesehenen Sendungen schafften.

5) Marg, V.: Stadionarchitektur: Kathedralen für das Fernsehen. In: Der Tagesspiegel, 13.06.2008

6) Borries, F. von: Wer hat Angst vor Niketown?. Berlin 2012, hier S. 36

7) Alkemeyer, T.: Rhythmen, Resonanzen und Missklänge. Über die Körperlichkeit der Produktion des Sozialen im Spiel. In: R. Gugutzer (Hrsg.): body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports. Bielefeld 2006, S. 265-296, hier S. 277

8) Bröckling, U.: Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste. Berlin 2017, hier S. 242