Von Schweizer Taschenmessern und Enten mit drei Beinen

Jugendschutzprogramme und aktuelle technische Herausforderungen

Stephan Dreyer

Dr. Stephan Dreyer ist Senior Researcher für Medienrecht und Media Governance am Hans-Bredow-Institut (HBI) für Medienforschung.

Bei der Schaffung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags (JMStV), gefeiert als Speerspitze technischen Jugendmedienschutzes, haben es Jugendschutzprogramme bis heute nicht flächendeckend in die Köpfe und Herzen von Eltern, pädagogischen Fachkräften und Medienanbietern geschafft. 2018 könnte das Jahr der Zeitenwende gewesen sein. Die ersten beiden positiv beurteilten Systeme in Einzelangeboten – Netflix und Nintendo – sind auch aufgrund ihrer Marktmacht vielen Erwachsenen aus dem Medienalltag bekannt. Doch was macht diese Verschiebung zu proprietären, angebotsspezifischen Funktionalitäten technischen Jugendmedienschutzes mit dem „großen Wurf“ eines umfassenden Kinderschutzprogramms? Welchen Herausforderungen sehen sich die Vorgaben im JMStV und die Anbieter von Filtersystemen für das offene Netz gegenüber – allen voran JusProg? Die Bestandsaufnahme eines fragilen Systems, das in Bewegung kommt.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 1/2019 (Ausgabe 87), S. 72-77

Vollständiger Beitrag als:

Der Steuerungsansatz „Jugendschutzprogramm“ im JMStV

Es war Anfang der 2000er-Jahre, als die Medienpolitik im Angesicht vieler neuartiger Onlineangebote zu der Einsicht kam, dass die klassischen Altersfreigaben und visuellen Alterskennzeichen in grenzüberschreitenden und dynamischen IP-Netzen an ihre regulatorischen Grenzen stoßen. Durch das Schaffen eines Schutzansatzes – in der frühen Phase noch verständlicher bezeichnet als Jugendschutzsoftware –, der die Umsetzung durch Anbieter verlagert auf neue zwischengeschaltete Akteure wie Access-Provider und Anbieter von Filterlösungen, fand das Instrument des „Jugendschutzprogramms“ 2003 seinen Weg in den JMStV. Mit dem § 11 JMStV a.F. gab das neue Gesetz Anbietern von entwicklungsbeeinträchtigenden Telemedien eine im Vergleich zu den anderen Schutzpflichten verhältnismäßig liberale Compliance-Möglichkeit an die Hand: Das Hinterlegen einer elektronisch auslesbaren Alterskennzeichnung als alternative Schutzpflichterfüllung ist technisch und aus Nutzersicht viel komfortabler als das Einhalten von Sendezeiten im Internet oder die Abfrage von Personalausweisdaten. Voraussetzung für die Pflichterfüllung durch eine elektronische Kennzeichnung aber war die Existenz eines von der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) anerkannten Jugendschutzprogramms: Erst durch diesen formalen Anerkennungsakt kam der elektronischen Kennzeichnung die rechtliche Wirkung für alle Anbieter zu.
 

Die mit dem Schutzinstrument „Jugendschutzprogramm“ eingeführte Grundstruktur ist bis heute geblieben. Der Schutzansatz basiert auf einem fragilen „Ökosystem“ mit mehreren Beteiligten, die vom JMStV unterschiedlich eingebunden werden: Der Anbieter eines Jugendschutzprogramms ist direkter Adressat der gesetzlichen Anerkennungsvoraussetzungen. Der Anbieter jugendschutzrechtlich relevanter Telemedieninhalte ist gesetzlich Verpflichteter zur Einziehung von Schutzmaßnahmen, in diesem Fall zur elektronischen Kennzeichnung des Angebots. Die KJM bzw. seit der Novelle 2016 die Selbstkontrolleinrichtungen als neue Anerkennungsstellen sind die Adressaten von gesetzlich vorgesehenen Prüfprozeduren, die durch die vorgezogene Einschätzung der Filtereignung die abgesenkten Schutzanforderungen an die Inhalteanbieter kompensieren sollen. Die vom Gesetz selbst nicht ausdrücklich adressierten Eltern schließlich sind diejenigen Akteure, die das Jugendschutzprogramm auf den entsprechenden Geräten im eigenen Einflussbereich installieren bzw. aktivieren müssen, ansonsten bleiben die Aktivitäten der anderen Akteure vollständig ohne Schutzwirkung.
 

Jugendschutzprogramme im Licht der Jugendschutzdebatten

Diese Dreieckskonfiguration führt zu mehreren miteinander verschränkten Herausforderungen bei der effektiven Umsetzung des Schutzinstruments: Besonders altersdifferenzierend können Filterprogramme vor allem dann filtern, wenn eine kritische Masse von Anbietern ihre Angebote auch tatsächlich kennzeichnet. Die elektronische Kennzeichnung aber macht für Anbieter nur Sinn, wenn damit eine Erfüllung ihrer gesetzlichen Schutzpflichten einhergeht; nach der Einführung bestand der einzige Anreiz also darin, mindestens ein anerkanntes Jugendschutzprogramm zu haben. Die als hoch empfundenen KJM-Anforderungen aber führten zu einem selbst gemachten Dornröschenschlaf von Jugendschutzsoftware als JMStV-Schutzmittel, aus dem man erst 2012 mit der Anerkennung von JusProg und der Kinderschutzsoftware der Telekom erwachte (vgl. KJM 2012). Seit August 2016 ist die Telekom Mitglied im JusProg-Trägerverein und die Telekom-Kinderschutzsoftware gleichzeitig in JusProg aufgegangen (vgl. JusProg 2016). In den der Anerkennung vorangegangenen neun Jahren war es vor allem der Trägerverein JusProg e.V., der mit seinen jeweiligen Programmversionen und -funktionalitäten auf eine Reihe von KJM-Anforderungen traf, die von hohen Erwartungen mit Blick auf Filterprogramme für das offene Netz geprägt waren. Vor allem die Anforderungen an die Effektivität und Zuverlässigkeit in Form von konkreten Over- und Underblocking-Quoten waren für die Filter regelmäßig nicht zu erreichen – wobei auch die Zusammensetzung der jeweiligen URL-Testpools unklar blieb. In der Zwischenzeit behalf man sich mit der Zulassung zeitlich befristeter Modellversuche.Seit der JMStV-Novelle im Herbst 2016 hat der Gesetzgeber die Zuständigkeiten im Beurteilungsverfahren auf neue Beine gestellt: Die KJM kann nach § 11 Abs. 3 JMStV die Kriterien der Eignungsanforderung in Richtlinien festlegen. Die Eignungsprüfung selbst erfolgt durch eine anerkannte Einrichtung der freiwilligen Selbstkontrolle. So hat die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) im Frühling 2017 die Eignung des Windows-Programms von JusProg bestätigt. Erweitert wurden die gesetzlichen Anerkennungsmöglichkeiten von Jugendschutzprogrammen auch für einzelne Altersstufen oder für proprietäre Lösungen innerhalb geschlossener Systeme, z.B. innerhalb von Video-on-Demand-Angeboten oder auf Endgeräten wie Spielekonsolen (§ 11 Abs. 2 JMStV). Der dadurch erhoffte Zuwachs geeigneter Jugendschutzprogramme blieb nicht lange aus: Nachdem die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) online im Mai 2018 die verschränkten Jugendschutzprogramme der Nintendo-Switch- und der Nintendo-Account-Altersbeschränkungen positiv beurteilt hatte (vgl. USK 2018), gab die FSM die Eignung der Netflix-Jugendschutzfeatures als Jugendschutzprogramm im Oktober 2018 bekannt (vgl. FSM 2018).
 


Die in allen drei Fällen angelegten rechtlichen Anforderungen an die Eignungsprüfung basierten dabei auf den rechtlich nicht verbindlichen „Kriterien für die Eignungsanforderungen nach § 11 Abs. 3 JMStV für Jugendschutzprogramme“ der KJM. Kern bei der Konkretisierung der Maßstäbe für eine positive Eignungsbeurteilung ist bei allen Akteuren die Frage des zu erreichenden Schutzniveaus und dabei aufscheinender Interpretationsspielräume. Hier delegiert der JMStV Entscheidungsspielräume an die KJM und die Selbstkontrollen, die je nach Lesart und Herleitung von Schutzniveaus (vgl. Liesching 2011) und der Ermittlung des Standes der Technik (vgl. Liesching 2017, Rn. 10 ff.) zu unterschiedlichen Anforderungen im Einzelfall führen können. In Nuancen können diese Diskrepanzen helfen, Jugendschutz und Jugendschutzdiskurse zu optimieren. Bei starren Vorgaben, die die Dynamik von Technologien und Angeboten nicht ausreichend berücksichtigen, kann es aber zu einem Zusammenbruch des oben beschriebenen Ökosystems kommen.
 

Aktuelle Herausforderungen für JusProg

Mehr oder weniger implizit ging mit der Entscheidung für den technischen Schutzansatz der Glaube einher, dass Filterlösungen für Inhalte im offenen Internet nicht altersangemessene oder unzulässige Telemedien zuverlässig blockieren – und zwar auch dann, wenn ein Angebot nicht elektronisch gekennzeichnet ist, wie es bei Angeboten aus dem Ausland die Regel ist. Die damaligen technischen Ansätze, die bekannte Angebote auf Schwarze oder Weiße Listen verteilten oder über einfach gestrickte Stichwortklassifizierungen automatische und halb automatische Themen- oder Alterseinordnungen vornahmen, sind längst um modernere Formen der automatisierten Inhaltebewertung ergänzt worden: Verfahren statistischer künstlicher Intelligenz können zunehmend sicher jugendschutzrelevante Darstellungen erkennen, insbesondere im Bereich „Erotik“. Gesetzesimmanente Grenzen bleiben für „intelligente“ Systeme aber unbestimmte Rechtsbegriffe und die Komplexität kontextbezogener Beurteilungen im JMStV.

JusProg hat im Laufe der Zeit auf die Erwartungen und neuen Möglichkeiten reagiert und mit Blick auf verbesserte Erkennungstechniken von relevanten Angeboten seine Technik modernisiert: Das zentral vorgehaltene System bekannter Angebote in Black- und Whitelisten wird gespeist aus dem Modul der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) sowie der fragFINN-Liste guter Kinderseiten und wird ergänzt um manuell und automatisiert erstellte Listen jugendgefährdender und entwicklungsbeeinträchtigender Angebote. Die Listen funktionieren altersdifferenziert und nutzen die Altersstufen 0, 6, 12, 16 und 18. Gefiltert wird auf Domain- und Subdomain-Ebene. Außerdem werden absolut unzulässige Angebote intern mit einem besonderen Vermerk gekennzeichnet. Daneben ist die Software in der Lage, elektronische Anbieterkennzeichen (age-de.xml, age.xml, MIRACLE) auszulesen und umzusetzen. Wird ein Angebot vom Endnutzer aufgerufen, zu dem die JusProg-Listen noch keine Altersinformation vorhalten, wird das Angebot beim erstmaligen Aufruf on-the-fly von einer Software ausgelesen und automatisiert altersvorbewertet. Spider oder Redaktionsmitarbeiter analysieren dann nachträglich vorbewertete Angebote und listen das Angebot in die entsprechende Altersgruppe ein. Derzeit bietet JusProg die Software für Windows-Betriebssysteme (Windows 10, 8 und 7) und iPhones (iOS) an. Eine Android-Version ist in Planung.

Zwei zentrale Herausforderungen für Filterprogramme, die den gesamten Verkehr eines Computers in das offene Internet filtern, sind dabei zum einen verschlüsselte Verbindungen und zum anderen Angebote, die von wechselnden Servern in der Cloud ausgespielt werden. Viele größere Telemedienangebote sind ausschließlich über das SSL-verschlüsselte https-Protokoll zu nutzen. Diese aus Sicht des Datenschutzes willkommene Absicherung der Kommunikation gegen eine Beobachtung durch Dritte betrifft auch den Einblick eines Filterprogramms in den Datenverkehr. JusProg hat hier einen Mechanismus entwickelt, der über einen Umweg jedenfalls die aufgerufene IP-Adresse auslesen und einem bestimmten Onlineangebot zuordnen kann – eine Filterung auf Ebene einer einzelnen URL ist damit allerdings nicht möglich. Andere Filteranbieter nutzen hier Ansätze, die Man-in-the-Middle-Attacken nicht unähnlich sind; die Schutzsoftware entschlüsselt zunächst die verschlüsselte Kommunikation, analysiert den Datenstrom und verschlüsselt die Daten dann wieder mit einem eigenen Schlüssel. Diese Technik ist aus Sicht des Datenschutzes aber nicht unproblematisch. Mit Blick auf geplante Verfahren, die auch die DNS-Auflösung verschlüsseln (Mozilla- und Google-Initiative Encrypted SNI), sind solche Workarounds aber hinfällig: Eine außerhalb des Browsers ansetzende Filtersoftware wird zunehmend blind für verschlüsselt übertragene Onlineinhalte. JusProg hat hier bereits angekündigt, diese Problematik mithilfe eines Browser-Plugins zu lösen, sodass der Filter die im Browser wieder entschlüsselten Inhalte auswerten kann.

Außerdem nutzen insbesondere große Anbieter von Medieninhalten verteilte Distributionssysteme, sogenannte Content Delivery Networks (CDN). Ein CDN-Anbieter speichert die zum Abruf – in der Praxis meist zum Streaming – bereitgehaltenen Inhalte seiner Kunden parallel auf einer Vielzahl vernetzter Rechner. Der Inhalt wird jeweils von demjenigen Rechner ausgespielt, der eine möglichst hohe Bandbreite und/oder eine möglichst geringe Latenz zu dem nachfragenden Endkunden aufweist. Auch hier entpuppt sich der Vorteil für den Nutzer – schnellerer Start des Streams und unterbrechungsfreiere Nutzung – aus Filtersoftware-Sicht als Nachteil. Durch die vielen genutzten CDN-Server, die zudem von einer Vielzahl von CDN-Kunden parallel genutzt werden, ist die Zuordnung einer IP-Adresse zu einer bestimmten Domain und damit zu einem bestimmten Angebot kaum noch möglich. JusProg hat hier im Sommer 2018 mit dem Vorhalten eines eigenen Nameserver-Cache reagiert, sodass auch bei CDN-Angeboten das dahinterliegende Angebot für die Software zuordenbar ist.

Eine kaum zu lösende Problematik ist vor diesem Hintergrund die filigrane Filterung von Onlineinhalten mit hoher Varianz auf Social-Media-Plattformen, die ihre Inhalte verschlüsseln und mithilfe von CDN anbieten. Innerhalb eines Angebots kann bei Video-Sharing-Diensten die gesamte Bandbreite audiovisueller Kommunikation vorgehalten werden – von kindgerechten Angeboten über entwicklungsbeeinträchtigende Videos bis hin zu absolut unzulässigen und strafrechtlich relevanten Darstellungen. Solange die Plattformanbieter keine detaillierteren Informationen über die bekannte oder jedenfalls mögliche Jugendschutzrelevanz dieser Einzelinhalte vorhalten oder altersdifferenzierte Zugänge anbieten (wie z.B. SafeSearch bei YouTube), müssten Filterprogramme diese Inhalte selbst und lokal auf dem Rechner des Endnutzers ohne zeitliche Verzögerung analysieren und bewerten. Angesichts der für eine einigermaßen befriedigende Einstufung nötigen Rechenleistung und Trainingsdaten erscheint dieser Ansatz derzeit mit Blick auf die Benutzbarkeit von Filtern nicht praktikabel.

Insbesondere auf mobilen Endgeräten wie Smartphones und Tablets tritt der von den Betriebssystemanbietern gewollte und aus IT-Sicherheitssicht wünschenswerte Umstand hinzu, dass die Nutzung von Onlineinhalten im Rahmen einer bestimmten App in der Regel nicht für andere Apps einsehbar ist (sogenannte „Sandbox“). Appübergreifende Filterlösungen aber müssten genau diesen Einblick in diese Kommunikation auf dem Endgerät haben, um eine zuverlässige Filterung anbieten zu können. Schutzsoftwares wie JusProg gehen mit dieser technischen Beschränkung um, indem die App über einen eigenen mit JusProg abgesicherten Browser verfügt. Die App filtert den eigenen Browser; über andere Apps genutzte Inhalte kann sie nicht erkennen und gegebenenfalls blockieren.
 


Von der Praxistauglichkeit jugendschutzrechtlicher Anforderungen und der Jugendschutztauglichkeit praktischer Mediennutzung

Mit Blick auf die bei Kindern und Jugendlichen statistisch häufigste Nutzung von Onlineangeboten – mobil, nutzergenerierte Inhalte, große Anbieter wie YouTube, Instagram, Facebook oder TikTok – wird deutlich, dass es diese Angebote sind, die alle eben beschriebenen technischen Herausforderungen für Filterprogramme auf einmal aufweisen. Es ist nach dem derzeitigen Stand der Technik für die Anbieter von appübergreifenden, das gesamte Internet umfassenden Filterlösungen nicht möglich, diese Inhalte auf URL-Basis zufriedenstellend altersdifferenziert auszufiltern. Den Anbietern bleibt damit – wenn überhaupt – nur die Möglichkeit, die entsprechenden Inhalte komplett auszufiltern oder komplett zuzulassen. Da ein komplettes Blockieren etwa von YouTube aber beim Nachwuchs mindestens Verärgerung, wahrscheinlicher aber ganze innerfamiliäre revolutionäre Bewegungen hervorrufen würde, bleibt den JSP-Anbietern nur die Entscheidung für einen pragmatischen Ansatz, z.B. das komplette Öffnen des Angebots für Kinder und Jugendliche über 12 Jahren, das komplette Blockieren für Jüngere. Dadurch aber verlieren die Filter innerhalb dieser Angebote einen Großteil ihrer Wirkung. Mögliche zukünftige Anforderungen und Kriterien für die Eignungsbeurteilung von Jugendschutzprogrammen müssen hier Offenheit zeigen für technische Realitäten, alltägliche Mediennutzungspraktiken und antizipierte Akzeptanzhürden, solange die Plattformanbieter selbst keine einzelinhaltsbezogenen, auslesbaren Informationen vorhalten oder eigene, von Jugendschutzprogrammen extern aktivierbare Vorfilter anbieten.

Angesichts der dargestellten Herausforderungen für Allround-Filter werden strukturelle Herausforderungen des Schutzinstruments Jugendschutzprogramm sichtbar:

  • Der § 11 Abs. 1 JMStV folgt einer Ganz-oder-gar-nicht-Konzeption. Aus der Eignung bereits eines anerkannten Jugendschutzprogramms resultiert die Freizeichnung aller Telemedienanbieter, die ihr Angebot kompatibel elektronisch kennzeichnen. Eine einfache age-de.xml-Kennzeichnung mit „ab 18“ (z.B. YouTube) ist aus Anbietersicht nachvollziehbar und aus rechtlicher Sicht compliant, der nachhaltigen Entwicklung des Steuerungsinstruments aber abträglich, da diese Kennzeichnung im Widerspruch zu der großen Bandbreite der Inhalte und der faktischen Relevanz des Angebots im Medienalltag von Kindern und Jugendlichen steht. Die Möglichkeit von außen aktivierbarer Vorfilter kann klassischen Jugendschutzprogrammen hier zu einem differenzierteren Schutz verhelfen.
  • Gegenüber anderen Anbietern, insbesondere solchen aus dem Ausland, erzeugt der JMStV schon aufgrund des Geltungsbereichs keinen Vollzugsdruck, und auch für inländische Anbieter jedenfalls von entwicklungsbeeinträchtigenden Inhalten setzt der JMStV nur geringe Anreize zur Teilnahme an einer elektronischen Kennzeichnung bei Anbietern von Inhalten, die für Kinder unter 14 Jahren entwicklungsbeeinträchtigend sind: So reicht als Umsetzung der gesetzlichen Pflichten bei diesen Inhalten eine einfache Trennung von Kinderinhalten. Für kinderspezifische positive Inhalte existiert zudem kein positives Kennzeichen, und eine Kennzeichnung wird hier rechtlich nicht privilegiert. Ein signifikanter Anreiz zur Kennzeichnung besteht insoweit nur für Anbieter von Inhalten ab 16 und ab 18 Jahren – und nur soweit diese Inhalte nicht absolut oder relativ unzulässig sind. Dieser Umstand zeigt, wie relevant angebotsübergreifende Filterprogramme im Medienalltag bleiben: Sie können den Zugang zu jugendschutzrechtlich besonders riskanten, im freien Netz verfügbaren Inhalten blockieren.
  • Für Angebote, bei denen die elektronische Kennzeichnung als das am leichtesten umzusetzende Schutzmittel erscheint, würde ein Entzug der Anerkennung (auch wegen technisch oder ökonomisch kaum implementierbarer Anforderungen) eines einzigen positiv beurteilten Jugendschutzprogramms nach § 11 Abs. 1 JMStV den kompletten Wegfall eines vom Gesetzgeber schlichtweg als unterstellt existierenden Steuerungsinstruments bedeuten. Hier können die Spielräume der Aufsicht dahin gehend beschränkt sein, die Instabilität des Schutzinstruments bei der Ausformulierung von Eignungsanforderungen jedenfalls zwingend mit zu berücksichtigen.
  • Mit Blick auf die hinter den Erwartungen zurückbleibenden Installations- und Nutzungszahlen von Jugendschutzprogrammen im Elternhaus muss konstatiert werden, dass die systemimmanenten und erzieherischen Grenzen und Nachteile technischer Schutzhürden in der Praxis unterschätzt wurden. Jugendschutzprogramme stellen nur eins von fünf Schutzmitteln dar (Sendezeiten, technische Mittel, Altersverifikationssysteme, Trennungsgebot bei U14-Inhalten), und Zeitaufwand sowie Vermittlungskomplexität bei der Überzeugung von Eltern zur Installation von Filtern blieben möglicherweise unterbewertet. Auch die Tatsache, dass eine nutzerautonome Installation eine freie Entscheidung der Eltern ist und diese sich mit Blick auf ihr Erziehungsrecht stets auch bewusst gegen eine Verwendung von Jugendschutzprogrammen entscheiden dürfen, ist teils in den Hintergrund getreten.
  • Die im Prinzip zu begrüßenden Entwicklungen bei der Anerkennung von Jugendschutzprogrammen nach § 11 Abs. 2 JMStV sind verschränkt mit elterlichen Anreizen zur Installation von Programmen nach Abs. 1: Je mehr Anbieter proprietäre, niedrigschwellige angebotsbezogene „Parental Controls“ anbieten, desto mehr stellt sich für die Erziehungsberechtigten die Frage nach der Existenzberechtigung von Eier legenden Wollmilchsäuen. Die Gefahr einer „Jugendschutzprogramm-Fatigue“ bei der jeweils notwendigen Konfiguration anbieterspezifischer Schutzfunktionalitäten ist mittelfristig nicht zu unterschätzen. Gleichzeitig ist für Inhalteanbieter die Wahl für die Implementierung einer eigenen proprietären Jugendschutzfunktionalität deutlich attraktiver als andere Schutzfeatures, weil man so besser Kontrolle über die Schutzhöhe und die Begleitkommunikation behält. Dies stellt eine systemimmanente Schwächung dieses nach wie vor wichtigen Instruments technischen Jugendmedienschutzes dar.
  • Die andauernden Diskussionen über mögliche rechtsverbindliche KJM-Kriterien und deren gegebenenfalls aktualisierte Anforderungshöhe gehen mit einer hohen Rechtsunsicherheit auf der Ebene der Selbstkontrolleinrichtungen, der JSP-Anbieter und der elektronisch kennzeichnenden Anbieter von Ü14-Inhalten einher. Dass die KJM hier in ihren bisherigen (nicht verbindlichen) Eignungsanforderungen den Stand der Technik ohne empirische Evidenz markiert und schlicht fingiert, ist mit dem Gesetzeswortlaut und seiner Begründung – insbesondere dem Verweis auf das immissionsschutzrechtliche Begriffsverständnis – kaum zu vereinbaren (vgl. Liesching 2017, Rn. 12). Freilich verfügt die KJM bei der Konkretisierung über Wertungs- und Entscheidungsspielräume – diese müssen aber insbesondere empirisch und durch eigene Analysen fundiert sein
     

Sind die derzeit identifizierbaren technischen und strukturellen Herausforderungen das Ende der Jugendschutzprogramme nach § 11 Abs. 1 JMStV? Nein, im Gegenteil: Viele der technischen Hürden sind überwindbar, und insbesondere im Zusammenspiel mit angebotseigenen Vorfiltern und den Lösungen nach § 11 Abs. 2 JMStV ergibt sich hier ein zukunftsfähiger, wenn auch vieldimensionaler Pfad: Die neu anerkannten proprietären Jugendschutzprogramme in geschlossenen Systemen sind ein Lichtblick in der elterlichen Medienerziehung Jüngerer. Die einfache Aktivierung und Konfiguration bieten einen niedrigschwelligen Zugang in eine technisch unterstützte Medienerziehung. Auch bei Heranwachsenden können sie jedenfalls noch als Gesprächsanlass und Basisschutz dienen. Im Zusammenspiel mit den „Schweizer Taschenmessern“ wie JusProg, den angebotsübergreifenden Jugendschutzprogrammen nach Abs. 1, ergibt sich aus einer kritischen Masse anerkannter Abs.2-Programme eine weitreichende Zukunftsvision. Denn böten die proprietären Systeme eine standardisierte Schnittstelle an, über die Kinderschutzfunktionen von angebotsübergreifenden Jugendschutzprogrammen wie JusProg aktiviert und konfiguriert werden könnten oder über die die im JSP einmal gemachte altersbezogene Konfiguration von Einzelanbietern ausgelesen werden könnte, würde dies die elterliche Konfiguration einer Vielzahl von Einzelsystemen obsolet machen und einen ganz neuen Schwung in den Diskussionsgegenstand Jugendschutzprogramme bringen. Notwendig dafür wäre die weitere Belebung des § 11 Abs. 2-„Marktes“ und eine Entwicklung, bei der alle JSP-Anbieter an einem Strang ziehen; hier werden Erinnerungen wach an die seinerzeit vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) initiierten „Runden Tische“. Eine breite Phalanx kennzeichnungs- und interoperabilisierungswilliger Unterstützer eines zeitgemäßen, befähigenden technischen Jugendmedienschutzes ist mit Blick auf die Werberelevanz und Kaufkraft von Eltern mit Kindern keine Utopie.
 

Der Autor dankt Stefan Schellenberg für Auskünfte über aktuelle und geplante JusProg-Funktionalitäten.

 

Literatur:

FSM: Netflix und FSM arbeiten beim Jugendschutz zusammen. Beliebter Dienst erhält als erste Streaming-Plattform die Anerkennung für sein Jugendschutzprogramm. FSM-Pressemitteilung, 18.10.2018. (letzter Zugriff: 30.11.2018)

JusProg: JusProg e. V. und Deutsche Telekom AG bündeln Kräfte bei Jugendschutzprogrammen. JusProg-Pressemitteilung, 29.08.2016. (letzter Zugriff: 30.11.2018)

KJM: KJM erkennt erstmals zwei Jugendschutzprogramme unter Auflagen an. KJM-Pressemitteilung, 09.02.2012. (letzter Zugriff: 30.11.2018)

Liesching, M.: Schutzgrade im Jugendmedienschutz. Begriffsbestimmungen, Auslegungen, Rechtsfolgen. Baden-Baden 2011

Liesching, M.:JMStV § 11, Jugendschutzprogramme. In: Beck’scher Online-Kommentar JMStV. München 201716

USK:USK erkennt Parental Controls auf der Nintendo Switch offiziell als erstes Jugendschutzprogramm an. USK-Pressemitteilung, 15.05.2018. (letzter Zugriff: 30.11.2018)