Von Popkultur und lnfluencern im „Islamischen Staat“

Sebastian Pertsch im Gespräch mit Christoph Günther

Extremistische Islamistinnen und Islamisten haben sich über die vergangenen zehn Jahre medial und kommunikativ stark professionalisiert. Während in den 1990er-Jahren und zu Beginn der 2000er-Jahre vornehmlich noch aus einer braun melierten Hütte mit angelehnter Kalaschnikow im Hintergrund lange und monotone Predigten in die Filmkamera gesprochen wurden, um die Bänder in die Welt zu tragen, ist die Medienproduktion der „IS“-Propaganda heute deutlich moderner, schneller und kürzer. Zu diesen Kommunikationsformen des digitalen Dschihadismus wird seit vier Jahren und noch bis zum kommenden Jahr an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz geforscht. Projektleiter Dr. Christoph Günther berichtet über den aktuellen Stand der Medienforschung und darüber, was sein Team aus Ethnologinnen und Ethnologen, Medien- und Filmwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern sowie Islamwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern bisher herausfinden konnte.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 2/2021 (Ausgabe 96), S. 12-15

Vollständiger Beitrag als:

 

Welche inhaltlichen Unterschiede gibt es zwischen den verschiedenen Regionen der „IS“-Propaganda? Oder ist es die gleiche Agitation, nur man ändert vielleicht ein paar Ortsmarken in den Botschaften?

Ja, so könnte man es ausdrücken. Der Inhalt, die Botschaft ist letztlich die gleiche. Es unterscheidet sich weniger in den Orten als vielmehr in der Klientel: An wen richten sich die Audio- und Videobotschaften? Ist es ein lokales Publikum, ein nationales oder sogar ein internationales? Es wird dann eher ein anderer Schwerpunkt gesetzt, wie Botschaften vermittelt werden.
Uns interessieren grundsätzlich zwei Fragestellungen: Was kommunizieren dschihadistische Gruppierungen wie mit audiovisuellen Mitteln? Und die zweite Frage ist: Was machen Menschen mit diesen kommunikativen Angeboten? Dabei interessiert uns eine große Bandbreite von Sympathisantinnen und Sympathisanten bis Antagonistinnen und Antagonisten, einschließlich Künstlerinnen und Künstlern sowie Aktivistinnen und Aktivisten.

Welche medialen Formen und Formate beobachten Sie mit Ihrem Forschungsprojekt?

Wir haben uns vor allem audiovisuelle Materialien angeschaut: Das reicht von Bildern, die digital produziert worden sind oder auf Basis von Videostills entstehen, über Videos aus den 1980ern bis heute, die qualitativ eine hohe Bandbreite haben, über Texte mit kürzeren Pamphleten, die möglicherweise auch als Flyer verbreitet worden sind und nun als PDFs im Internet geteilt werden, über längere Texte, die vermutlich von vorgebildeten Menschen erstellt wurden, weil sie theologisch teils sehr fundiert geschrieben sind, bis hin zu Audioansprachen. Die Verteilung erfolgt zumeist in eine Richtung: One to many. Letztlich ist es eine zielgerichtete Kommunikationsform, die kaum Diskurs vorsieht. Aber man darf sich das eben nicht als eine klassische Sender-Empfänger-Form vorstellen. Es heißt nicht, dass die Kommunikation nur in eine Richtung geht.
Nehmen wir ein klassisches Propagandavideo: Es nimmt selbst häufig Anleihen auf Dinge, die bereits bekannt sind. Es sind Antworten, auf die andere wiederum auch mit medialen Formen reagieren. Das sind eher indirekte Kommunikationsformen, sodass es schon gerechtfertigt ist, zu sagen, dass es sich um einen kommunikativen Kreislauf handelt. Zudem diskutieren Sympathisantinnen und Sympathisanten genauso wie Antagonistinnen und Antagonisten über diese Werke und bringen ihre Vorstellungen in Diskurse ein, die auch eine breitere gesellschaftliche Relevanz haben. Gesellschaftliche Debatten über Radikalisierung und die Rolle des Internets dabei, der Umgang mit Gewalt in der medialen Berichterstattung, aber auch Debatten über die Aufforderung an Musliminnen und Muslime, sich von Gruppen wie dem „IS“ zu distanzieren, haben zumindest mittelbar mit diesen Medien zu tun.
 

Interview: Osama Bin Laden declares jihad (CNN, 1997)



Welche Rolle spielen Snapchat und TikTok, die verstärkt auf ein jüngeres Publikum setzen?

Dort werden nach unseren Beobachtungen gewalthaltige Inhalte nicht geteilt. Auf Snapchat und TikTok finden sich eher Akteurinnen und Akteure, die sich im Graubereich bewegen, also Predigerinnen und Prediger, die vielleicht ein sehr konservatives Islamverständnis artikulieren, die aber keinesfalls direkt zum „IS“ zählen. Es gibt allerdings Forscherinnen und Forscher, die das als Einstiegstor sehen, also man irgendwann auch zu „IS“-Medien über­geleitet wird, wenn man sich dem stärker gewidmet hat. Ich halte das für zu kurz gegriffen.

Sie hatten eingangs gesagt, dass Sie sich die islamistische Propaganda seit den 1980ern angeschaut haben. Wie professionell sind die Medienproduktionen mittlerweile geworden?

Die Entwicklung, die wir sehen können, hängt sehr stark mit technologischen Entwicklungen zusammen. Die Instrumente sind wesentlich einfacher zu beschaffen, zu bedienen und viel kostengünstiger und leistungsstärker. Das bedeutet, heutige Bildbearbeitungssoftware – und wir reden hier von der gesamten Adobe-Produktpalette von Photoshop bis hin zu After Effects – ist mittlerweile so stark und einfach zugleich, dass selbst semiprofessionell ausgebildete Menschen sehr gute Medien herstellen können. Und das beobachten wir auch bei der Medienarbeit dschihadistischer Akteure von den 1980ern bis heute. Die Medienproduktion dschihadistischer Akteure ist nicht nur professioneller geworden. Sie ist auch in ihrer Ansprache diversifizierter geworden und kann Menschen lokal, regional und global z.T. mit denselben Bildern, Botschaften und Sounds adressieren.

Sie sagen, dass das Handwerk professioneller geworden ist. Gibt es auch Verbesserungen, beispielsweise in der Dramaturgie?

Ja, und zwar ganz deutlich. Denken Sie nur daran, wie Osama bin Laden und Ayman al-Zawahiri noch in den 1990er-Jahren eine Stunde in die Kamera sprachen und predigten. Diese Präsentationen sind Formaten gewichen, die viel schneller geschnitten sind und mehr den heutigen Sehgewohnheiten entsprechen. Sie setzen viel stärker auf Spezialeffekte und auf das Einspielen von Fremdmaterial.
Hinzu kommt eine Diversifizierung. Die Talking Heads ­haben sie natürlich immer noch. Also Menschen, die vor eine Kamera gesetzt werden und dann eine Ansprache direkt an das Publikum selbst richten. Die sind vermutlich auch unverzichtbar.
Der „IS“ hat es zu hoher Professionalität gebracht, Kampfszenen mit militärischen Auseinandersetzungen aus einer First-Person-Perspektive zu verfilmen, die Anleihen an Ego-Shootern nimmt, um die Zuschauerinnen und Zuschauer direkt in das Kampfgeschehen hineinzuversetzen. Aber auch andere Videos mit statischer Kamera – in denen beispielsweise ein US-militärischer Humvee über eine Mine fährt – kommen vor. Solche Formen finden Sie reichlich im Internet.
Und Videos von Märtyrern sind ein Genre, das sich ganz stark entwickelt hat. Menschen werden zu Selbstmordattentätern und dabei gefilmt, wie sie ihren eigenen Abschied inszenieren: Sie verabschieden sich von ihren Kameradinnen und Kameraden, richten ein Wort an das Publikum, steigen in ein Vehikel – und dann wird der finale Akt mit der Explosion gefilmt, während das Video von A-cappella-Gesängen, den Naschids, unterlegt ist.

Sie haben sich auch mit den sogenannten „IS“-Games beschäftigt. Welche Beeinflussungswerkzeuge haben Sie hier beobachten können?

Es gab verschiedene Mods, die z.B. auf Basis des populären Grand Theft Auto liefen und in denen „IS“-Figuren vorkamen. Vermutlich sind solche Mods immer noch aktiv. Neben solchen Ego-Shootern konnten wir auch sogenannte Lern-Apps für Smartphones beobachten, die der „Islamische Staat“ für Kinder im Vorschulalter und der ersten, zweiten, dritten Klasse disseminiert hat.

Diese Kinder-Apps müssen vermutlich sehr niedrigschwellig und harmlos angesetzt sein?

Richtig, zumindest niedrigschwellig. Aber Buchstaben werden dann nicht mit Blumen oder harmlosen Alltagsgegenständen assoziiert, wie wir es kennen. Das S im Arabischen steht dann eben nicht für Salam bzw. Frieden, sondern für Silah bzw. Waffe.
Manche Lern-Apps enthalten auch kleine und einfache Spiele, in denen z.B. mit einem Panzer auf Luftballons geschossen wird. Wer das Spiel in der richtigen Reihenfolge schafft, erhält ein weiteres Wort aus dem Propaganda-Handbuch, wodurch der Belohnungsaspekt weiter angesprochen wird.

Konnten Sie beobachten, dass Jugendliche die spezielle Inszenierung der „IS“-Videos inzwischen gut oder zumindest besser als noch früher decodieren können? Oder ist die Inszenierung letztlich doch „egal“ – und es kommt immer auf den soziokulturellen Kontext an, ob die Propaganda bewusst oder unbewusst angenommen wird?

Gute Frage! Die Medienwirkungsforschung steht bei diesem Thema insgesamt noch sehr am Anfang. Es gibt unterschiedliche Projekte, die versucht haben, die Wirkung von „IS“-Propaganda auf junge Leute nachzuvollziehen. An der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) gab es z.B. ein Projekt aus dem Bereich der Medienwissenschaft und Medienpsychologie, das sich allgemeiner mit Extremismus beschäftigt und die Frage in den Raum gestellt hat: Wie leicht erkennen Jugendliche Extremismus? Ein Ergebnis: Die Jugendlichen, die sich aktiv politisch bilden, decodieren propagandistische Botschaften am leichtesten. Viele andere sind da eher indifferent und erkennen Extremismus seltener. Der Tenor dieser Studie war also, dass die letzte Gruppe auch die vulnerabelste für das manipulative Potenzial extremistischer Medienarbeit ist. Gleichzeitig sagen aber die Verantwortlichen der Studie aus dem Jahr 2019, dass dies ungefähr 60 % aller Jugendlichen betrifft!
Dann gibt es andere Medienwirkungsforschungsstudien, die versucht haben, sich eher auf dschihadistisches Material und junge Menschen ab 18 Jahren zu kaprizieren. Diese wurden vor einen Bildschirm mit einem Experimentalsetting gesetzt, das kurze Videos ausgab. Daraufhin mussten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer systematisch einen Fragebogen ausfüllen: Was hast du gesehen? Wie wirkt es auf dich? Etc. Wenn Sie dieselben Menschen in ihrer Peergroup vor ein Handy setzen oder sie zu Hause alleine sind und auf einen Bildschirm schauen, auf dem dasselbe Video wie zur Studie läuft, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Antworten anders ausfallen werden. Damit möchte ich nur zum Ausdruck bringen: Experimentalsettings – und was am Ende dabei herauskommt – sind mit großen Unsicherheiten verbunden.
 

Mein Weg: Jamal al-Khatib (2017)



Halten Sie Gegenmaßnahmen für Erfolg versprechend?

Ich halte wenig von Projekten, die staatlich finanziert sind und mit diesem Label Kontrapropaganda betreiben. Damit zielt man nicht auf die, die man eigentlich erreichen möchte. Ich finde stattdessen Projekte wie „Turn“ in Wien1 besser. Dahinter verbirgt sich ein Zusammenschluss von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, die ein – wie ich finde – tolles Videoprojekt auf Facebook, YouTube und Instagram ins Leben gerufen haben: Jamal al-Khatib – Mein Weg! mit mittlerweile zwei Staffeln.
Das Interessante dabei ist, dass die Projektbeteiligten die Videos nicht nur sehr aufwendig und mit einer Ästhetik, die sich ganz bewusst an den „IS“ lehnt, produzierten, sondern den Launch in den sozialen Netzwerken auch begleitet haben mit einer Moderation der Kommentare unter dem Video. Die haben problematische Userinnen und User nicht einfach gesperrt, sondern im Gegenteil ihre Kommentare bewusst zugelassen. Die Macherinnen und Macher wussten ganz genau, dass eben diese Userinnen und User die Zielgruppe sind, die sie erreichen müssen.

Kommen wir noch einmal kurz zurück zu den Medienstrategien der „IS“-Propaganda. Sie hatten einige Beispiele aufgeführt, die schon einige Jahre zurückliegen. Gibt es aktuelle Entwicklungen der jüngsten Zeit?

Es gibt zwei ganz starke Veränderungen, auch wenn es neues „IS“-Material deutlich weniger gibt. Was an neuen Videos produziert wird, ist sehr kurz und vor allem auf militärische Auseinandersetzungen fokussiert, weil alles andere vor der Kamera gar nicht mehr darstellbar ist. Alltagsszenarien, wie wir sie noch in den Botschaften aus der Mitte der 2010er-Jahre gesehen haben, sind gar nicht oder kaum noch vorhanden, weil beispielsweise die Territorien des „IS“-Kalifats fehlen, um sich so zu inszenieren.
Außerdem wendet man sich besonders an Gefangene in kurdischen Lagern, die nach Offensiven im Nordirak und in Nordsyrien gefangen genommen wurden. Es gibt recht viele Kommunikate, die sich direkt an sie richten oder die respektive Zuschauerinnen und Zuschauer darüber aufklären wollen, dass diese Menschen dort gefangen gehalten werden. Weil sie für ihre Überzeugung am meisten litten, müsse man diese besonders unterstützen. Und es wird auch ausgeführt, wie das gehen könnte.

Sammelbände zu Jihadi Audiovisuality sowie zur Propaganda des „Islamischen Staates“ wurden bereits im Rahmen Ihres Projekts veröffentlicht. Was ist bis zum Abschluss im kommenden Jahr noch geplant?

Aktuell sind wir an drei Videoessays dran, die jeweils circa zehn Minuten lang sind. Wir haben uns drei Themen ausgesucht: Das eine sind Archivpraktiken. Wir sprachen ja bereits darüber, dass bestimmte Materialien disseminiert werden und auch eine bestimmte Ordnung haben. Wir haben als Forscherinnen und Forscher auf unseren Computern eine bestimmte Archivordnung, wie wir diese Dateien abspeichern. Ein Essay soll also eben diese Praktiken des Archivierens reflektieren und fragen, welches Wissen eigentlich entsteht, wenn man es in einer bestimmten Ordnung abspeichert und weiterverbreitet.
Der zweite Essay wird sich mit den A-cappella-Gesängen also den Naschids beschäftigen. Das ist auch der Schwerpunkt einer Dissertation im Rahmen der Nachwuchsforschergruppe. Weil weitgehend unklar ist, wer hinter der „IS“-Medienproduktion steckt, wollen wir uns im Essay auf die Suche begeben.
Der dritte Essay wird die Kulturgut-Zerstörung in den Blick nehmen und künstlerische Versuche aufzeigen, die sich damit auseinandersetzen. Letztlich geht es um die Wirkung von Ikonoklasmus. Diese drei Filme sind gewissermaßen eine alternative Publikationsform.
 

Anmerkung:

1) Abrufbar unter: https://www.turnprevention.com

Dr. Christoph Günther leitet an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz das Forschungsprojekt „Dschihadismus im Internet: Die Gestaltung von Bildern und Videos, ihre Aneignung und Verbreitung“.

Sebastian Pertsch ist Journalist, Nachrichtenredakteur, Sprecher und Sachbuchautor. Er betreibt zusammen mit Udo Stiehl die sprach- und medienkritische „Floskelwolke“.