Von Freundschaft, Nähe zu den Eltern und der ersten großen Liebe

Barbara Felsmann

Barbara Felsmann ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt „Kinder- und Jugendfilm“ sowie Autorin von dokumentarischer Literatur und Rundfunk-Features.

„Ich glaube, das ist mit das Wichtigste, was man in einer Beziehung kapieren muss. Du gehörst zu mir, aber du gehörst mir nicht“ – heißt es in Hans Weingartners Film 303, mit dem der diesjährige „14plus“-Wettbewerb der Berlinale-Sektion „Generation“ eröffnet wurde. Zweieinhalb Stunden lang diskutieren in diesem Roadmovie eine Studentin und ein Student über die Macht des Kapitalismus, die Wesenszüge des Menschen an sich und über die Liebe. Bis sie sich – was der Zuschauer schon lange ahnt – ineinander verlieben und es sich endlich gestehen. Die erste große Liebe und deren Verzwicktheiten waren im diesjährigen Programm von „Generation“ – neben komplizierten Eltern-Kind-Beziehungen und dem Wert von Freundschaft – zwei der wichtigsten Themen.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 2/2018 (Ausgabe 84), S. 5-9

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Insgesamt wurden bei der 41. Ausgabe von „Generation“ 65 Lang- und Kurzfilme aus 39 Produktions- und Koproduktionsländern präsentiert, die aus mehr als 2.000 Einreichungen ausgewählt worden waren. Darunter waren insgesamt acht Produktionen aus Deutschland bzw. mit deutscher Beteiligung. Wie in den letzten Jahren üblich, werden hier auch immer wieder aktuelle Arbeiten von Filmemachern präsentiert, die bereits Gast bei der Berlinale waren.
 

Schwierige Mütter, Väter als Außenseiter, Konflikte mit den Eltern

So stellte beispielsweise die in Island geborene und in Deutschland lebende Regisseurin Maria Solrun 2004 ihren Debütfilm Jargo  in dieser Sektion vor. In diesem Jahr nun wurde ihr Spielfilm Adam  für „14plus“ ausgewählt. Es ist ein berührendes Porträt eines gehörlosen Jungen, dessen Mutter, eine Technomusikerin, durch den jahrelangen Alkoholmissbrauch eine massive Hirnschädigung erlitten hat und nun in einem Pflegeheim lebt. Adam ist plötzlich ganz auf sich allein gestellt und muss einen Weg für sich finden, ohne Gehör in der Welt zurechtzukommen, während er sich zudem mit dem Wunsch seiner Mutter auseinandersetzen muss, lieber zu sterben, als ein Pflegefall zu werden.

Auch dem Jungen Cobain  in der gleichnamigen Koproduktion aus den Niederlanden, Belgien und Deutschland werden die Probleme seiner Mutter „übergeholfen“. Schwer drogenabhängig und hochschwanger irrt sie durch die Straßen, während Cobain in einer Pflegefamilie untergebracht werden soll. Doch er kann seine Mutter nicht allein lassen und unternimmt einen letzten, verzweifelten Versuch, sie von den Drogen wegzubekommen und das Leben des (noch) ungeborenen Kindes zu retten. Regisseurin Nanouk Leopold, die schon mehrmals ihre Arbeiten bei den Berlinale-Sektionen „Forum“ bzw. „Panorama“ vorstellen konnte, erzählt von einer komplizierten, teilweise nur schwer auszuhaltenden Mutter-Sohn-Beziehung, in der ein Jugendlicher ein unmenschlich hohes Maß an Verantwortung übernehmen muss und übernimmt. Das drastische Ende bleibt lange im Gedächtnis und fordert zu kontroversen Diskussionen heraus.

Tsivia Barkai Yacov aus Israel, auch sie war vor Jahren bereits mit einem Kurzfilm bei „Generation“ vertreten, stellt in ihrem Langfilmdebüt Para Aduma  (Red Cow) die 17-jährige Benny in den Mittelpunkt, die in große Konflikte mit ihrem strenggläubigen, patriarchalischen Vater gerät, als sie sich das erste Mal verliebt. Und zwar in eine junge Frau. Während der Vater indessen alles unternimmt, um seine Tochter auf den „richtigen“ Weg zurückzuführen, nabelt sich Benny selbstbewusst und voller Kraft von dem alleinerziehenden Familienoberhaupt ab und stellt dessen enge moralischen und weltanschaulichen Grundsätze infrage. Ein aufwühlender und Jugendlichen Mut machender Film, von dem man sich nur wünschen kann, dass er einen Platz in unseren Kinos findet.

Das bereits mehrfach ausgezeichnete Spielfilmdebüt von Álvaro Delgado-Aparicio L. Retablo  dagegen erzählt von einer innigen Vater-Sohn-Beziehung, die massiv gestört wird, als der 14-jährige Segundo hinter das Geheimnis seines Vaters Noé kommt. Als dies dann in die Öffentlichkeit gelangt, wird der einst hochangesehene Volkskünstler in seinem peruanischen Bergdorf von den Bewohnern wie ein Aussätziger behandelt und verfolgt. Und während die Mutter das Dorf verlässt, bezieht Segundo Stellung und tritt für seinen Vater ein. Diese bewegende, mit stimmungsvollen, farbstarken Bildern ausgestattete Koproduktion aus Peru, Deutschland und Norwegen erhielt von der Jugendjury eine lobende Erwähnung.

Leicht hatte es die siebenköpfige Jury in diesem Jahr bei diesem äußerst qualitativen und vielseitigen „14plus“-Programm wahrlich nicht. Sie vergab den Gläsernen Bären – genau wie die Internationale Fachjury ihren Großen Preis – an das in Schwarz-Weiß fotografierte Drama Fortuna  von Germinal Roaux. Angesiedelt in einem Kloster, hoch oben in den Schweizer Bergen, geht es hier um ein 14-jähriges, traumatisiertes Flüchtlingsmädchen aus Äthiopien, das bei katholischen Ordensbrüdern untergekommen ist. Schwanger von einem erwachsenen Geflüchteten aus dem Kloster, kämpft Fortuna um ihre Liebe und vor allem um ihr Kind. Denn alle rationalen Gründe sprechen für eine Abtreibung, während das Kind in ihrem Leib das Einzige ist, was dem Mädchen Hoffnung und Halt gibt. „Mit der bestechenden Klarheit der fotografischen Aufnahmen gibt uns der Film einen detailreichen Einblick in viele Themen des Menschseins in einer ausgrenzenden Welt, ohne dabei den Blick auf das Große und Ganze zu verlieren“, heißt es in der Begründung der Jugendjury. „Durch die feinfühlige Darstellung der Hauptcharaktere [Kidist Siyum Beza als Fortuna und Bruno Ganz als Ordensbruder, Anm. der Red.] werden wir mit Abhängigkeit, Nächstenliebe und gesellschaftlichen Strukturen konfrontiert.“
 

Die verschiedensten Facetten der Liebe

Das Thema „Liebe“ in all seinen Facetten spielte in diesem Jahr nicht nur am Rande der „14plus“-Beiträge eine Rolle, sondern nahm bei vielen Produktionen, besonders bei den Kurzfilmen, einen zentralen Platz ein. Ob bei dem oben erwähnten Film 303  oder in dem mit kunstvollen, mythisch-rätselhaften Bildern ausgestatteten Film aus Brasilien, Unicórnio (Unicorn), in dem sich eine Mutter und ihre pubertierende Tochter in denselben jungen Mann verlieben, oder aber in der kanadischen Produktion Les faux tatouages  (Fake Tattoos), in der Regisseur Pascal Plante voller Emotionalität von einer „Beziehung mit Ablaufdatum“ erzählt. Liebe spielt dagegen zwischen der 13-jährigen Hendi und dem 16-jährigen Hormoz zunächst keine Rolle, als sie in der iranisch-tschechischen Koproduktion Hendi va Hormoz  (Hendi & Hormoz) zwangsverheiratet werden. Als Hendi dann schwanger ist, übernimmt Hormoz die volle Verantwortung für seine kleine Familie und unternimmt alles dafür, um Arbeit zu finden und Geld zu verdienen. Doch vergeblich. Der gemeinsame Existenzkampf schmiedet die beiden „Fast-noch-Kinder“ zusammen und lässt eine tiefe Zuneigung zueinander entstehen, bis Hormoz sich in seiner Not bei einem Schmuggler verdingt. Regie führt bei diesem bewegenden, gesellschaftskritischen Film Abbas Amini, der bereits 2016 mit seinem ebenso ergreifenden Debüt Valderama zu Gast bei „Generation“ war.

In den Kurzfilmen, wie z.B. Playa  (Beach) aus Mexiko, Pop Rox  aus den USA, Voltage aus Österreich oder aber in dem prämierten „Kplus“-Kurzfilm A Field Guide to Being a 12-Year-Old Girl  (Handbuch einer 12-Jährigen), wird kurz und pointiert und mitunter sehr witzig das Erwachen sexueller Begierden, die Unsicherheit, wie gestehe ich meine Gefühle, und die gleichgeschlechtliche Liebe thematisiert.
 

Altbekannte Handschriften und neue Sichtweisen bei „Kplus“

Während „14plus“ mit dem herrlich erfrischenden comicartigen Animationsfilm in Schwarz-Weiß, Virus Tropical, aus Kolumbien aufwartete, gab es bei „Kplus“ gleich drei Animationsfilme, allesamt skandinavische Produktionen. So war das liebevoll gestaltete, vierte Leinwandabenteuer der Mini-Fee Cirkeline, Cirkeline, Coco og det vilde næsehorn (Cirkeline, Coco und das wilde Nashorn), von dem dänischen Altmeister Jannik Hastrup im Programm, dessen Arbeiten seit den 1980er-Jahren regelmäßig bei der Berlinale präsentiert werden. Ebenso aus Dänemark kam der diesjährige Eröffnungsfilm Den utrolige historie om den kæmpestore pære  (Die unglaubliche Geschichte von der Riesenbirne), ein witziges wie rasant inszeniertes Animationsfilmabenteuer, und aus Schweden die humorvolle Detektivgeschichte Gordon och Paddy  (Gordon und Buffy). Diese Filme für die jüngeren Kinder sowie die niederländisch-belgisch-deutsche Koproduktion Dikkertje Dap  (Mein Freund, die Giraffe) von Regisseurin Barbara Bredero, eine anrührende Freundschaftsgeschichte zwischen einem Schulanfänger und einem genauso alten Giraffenkind, knüpften an die Sehgewohnheiten hiesiger Kinder an.

Herausgefordert, was die Sehgewohnheiten betrifft, waren dagegen die älteren Kinder, für die der still, mit wenigen Dialogen und in beeindruckenden Bildern erzählte Film aus Japan Blue Wind Blows  (Küstennebel) und die Koproduktion aus Indonesien, den Niederlanden, Australien und Katar, Sekala Niskala  (Sichtbar und unsichtbar), ins Programm genommen wurde. Sichtbar und unsichtbar, ein Film, der auf eine ganz besondere Weise eine gegenwärtige Geschichte mit archaischen Traditionen verbindet, wurde von der Internationalen Jury ausgezeichnet: „Der Große Preis […] geht an eine Regisseurin mit einer besonderen filmischen Vision. Ein poetisches Märchen über Leben im und aus dem Gleichgewicht. […] Es ist ein Film, der dem Risiko, dem Authentischen sowie dem Mystischen in einem fein inszenierten, filmischen Tanz begegnet.“

Die Kinderjury dagegen vergab ihren Hauptpreis, den Gläsernen Bären, an die kanadische Produktion Les rois mongols  (Hand auf’s Herz) von Luc Picard. Angesiedelt in Montreal von 1970 wird hier auf geschickte, spannende Weise ein großes historisches Ereignis mit einer privaten Geschichte verbunden, nämlich mit dem Kampf zweier Geschwister, nach dem Tod ihres Vaters nicht in ein Kinderheim zu müssen.
 

„Filme mit, nicht über junge Menschen“

Auch in diesem Jahr betonte die Sektionsleiterin Maryanne Redpath wieder, dass „Generation“ sich zur Aufgabe gestellt hat, Filme zu präsentieren, in denen Kinder und Jugendliche tragende Rollen einnehmen, also „mitspielen“. Damit wird die hierzulande beliebte Diskussion um die Frage: „Was ist ein Kinderfilm, was soll ihn ausmachen?“ um neue, nämlich internationale Gesichtspunkte bereichert. Und manchmal sind die Ansätze gar nicht so neu, wie die französische Produktion Allons enfants  (Cléo & Paul) zeigt. Sie erzählt, wie die dreieinhalbjährige Cléo und ihr noch jüngerer Bruder in einem Pariser Park der Tagesmutter verloren gehen und nun – jedes Kind für sich – allein und ohne Angst die Stadt erkunden. Gedreht mit den eigenen Kindern, hat hier Regisseur Stéphane Demoustier einen wunderbaren Film geschaffen, der das junge wie erwachsene Publikum an einer ganz besonderen Reise, nämlich durch die Augen der beiden Geschwister gesehen, teilhaben lässt. Ähnliches hat 1982 DEFA-Regisseur Helmut Dziuba in seinem Film Sabine Kleist, 7 Jahre, der mittlerweile zu den Kinderfilmklassikern gehört, versucht.

Ohne Eltern oder Verwandte müssen auch die 8-jährige Fan und ihre beiden jüngeren Geschwister in der argentinisch-französischen Produktion El día que resistía  (Der endlose Tag) zurechtkommen. Hier konzentriert sich Regisseurin Alessia Chiesa auf die Interaktion der Kinder untereinander, beschreibt psychologisch genau, mit welchen Mitteln Fan die Jüngeren im Zaum zu halten versucht und wie sich diese allmählich von dem Druck der Ältesten befreien und mutig allein die Welt erkunden. Mit Sicherheit ist auch dieser Film nicht für Kinder gedreht worden. Aber indem ihre Sicht, ihre Probleme, ihr Empfinden sehr genau festgehalten wurden, hat das junge Publikum die Möglichkeit, sich in dem Gesehenen wiederzufinden und sich damit auf Augenhöhe auseinanderzusetzen.

Eine beeindruckende und wunderbar fotografierte Produktion „mit Kindern“ stellt auch der belgisch-niederländische Dokumentarfilm Ceres  dar. Hier schildert Regisseurin Janet van den Brand, die 2013 bereits ihren Kurzspielfilm Rosa, Annas Schwester  bei „Kplus“ präsentieren konnte, den Alltag von vier Bauernkindern, zeigt die Schönheit des Landlebens auf, aber auch die Härten in der Arbeit und im Umgang mit den Tieren, das Schlachten inbegriffen. Ceres gehörte zu meinen Highlights beim diesjährigen „Kplus“-Programm und wurde auch vom Publikum mit einem riesigen Applaus geehrt.

Genau wie das berührende Drama Supa Modo​​​​​​​  des kenianischen Regisseurs Likarion Wainaina, das zudem eine lobende Erwähnung von der Kinderjury erhielt. Erzählt wird hier die Geschichte der 9-jährigen, todkranken Jo, die Actionfilme liebt und sich nichts sehnlicher wünscht, als in einem solchen einmal eine Superheldin spielen zu dürfen. Um ihr diesen Wunsch zu erfüllen, findet sich eine gesamte Dorfgemeinschaft zusammen und dreht mit allem Drum und Dran einen Film, der Jo zugleich magische Kräfte verleiht. Supa Modo faszinierte nicht nur durch die humanistische, bewegende Botschaft, sondern vor allem auch durch das lebendige Spiel der jungen Hauptdarstellerin Stycie Waweru. Produziert mit deutscher Beteiligung, ist zu hoffen, dass dieser Film auch den Weg in unsere Kinos findet.