Vom Wahren zur Ware

Vor 25 Jahren hat das deutsche Fernsehen seine Unschuld verloren

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

Vor 25 Jahren hat Marc Conrad als neuer RTL-Programmdirektor dafür gesorgt, dass sich das deutsche Fernsehen grundlegend wandelte. Er betrachtete das Medium nach US-Vorbild radikal als Ware und krempelte RTLplus zur Schaffung eines „Audience Flow“  völlig um. Dank der von ihm eingeführten formatierten Programmstruktur sollten die Zuschauer an jedem Tag genau wissen, was sie wann zu erwarten hatten. Prompt eroberte RTL (jetzt ohne „plus“) die Marktführerschaft bei Zuschauern zwischen 14 und 49 Jahren und hat sie nahezu durchgängig bis heute nicht mehr hergegeben.

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In der deutschen TV-Historie kommt dem Jahr 1992 eine besondere Bedeutung zu. Etwas pathetisch könnte man feststellen: Dies war das Jahr, in dem das Fernsehen hierzulande seine Unschuld verloren hat. Vier Jahrzehnte, nachdem die Gründerväter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks das Erste Deutsche Fernsehen zum Hort des Wahren, Schönen und Guten erklärt hatten, reduzierte RTLplus das Medium auf seinen Warencharakter. Natürlich wollten die Privatsender auch vorher schon Geld verdienen, aber erst Marc Conrad sorgte dafür, dass das Programm diesem Ziel rigoros untergeordnet wurde.

Der Preis ist heiß am Vormittag

Der Luxemburger hatte sich vom Praktikanten zur rechten Hand von Helmut Thoma hochgearbeitet. Er verordnete RTLplus 1992 als neuer Programmdirektor eine Radikalkur „und richtete den Sender konsequent nach dem Vorbild kommerzieller amerikanischer Vorbilder aus“, erinnert sich Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger. Conrads Konzept sah vor allem die Durchformatierung der Programm­struktur vor; außerdem strich er das „plus“ und ließ ein modernes Logo entwerfen. Der Sender warb in jener Zeit mit dem Bonmot „RTL hat etwas für das Fernsehen völlig Neues entdeckt. Den Zuschauer.“ Kunde und somit auch König war jedoch nicht das Publikum, sondern die werbetreibende Wirtschaft, weshalb Conrad beispielsweise die beliebte Gameshow Der Preis ist heiß aus dem Vorabend in den Vormittag verbannte. Der Programmdirektor, erläutert Hallenberger, „wollte den Werbekunden Zielgruppen garantieren, die jünger waren und mehr frei verfügbares Geld hatten als die Fans des Klassikers mit Harry Wijnvoord.“ Entscheidender für den Erfolg sei jedoch die Berechenbarkeit gewesen: „Dank Conrads Vereinheitlichung des Programms wussten die Zuschauer fortan genau, was sie wann zu erwarten hatten; und das an jedem Tag.“

RTL legte vor …

Die Maßnahmen des Luxemburgers betrafen nicht nur die Struktur. Kaum ein deutscher Programmdirektor hat in seinem Sender auch inhaltlich derartige Spuren hinterlassen wie Conrad. 1992 startete mit Notruf eins der ersten „Reality“-Formate, mit Gottschalk Late Night die erste Nachtshow nach US-Vorbild, mit Gute Zeiten, schlechte Zeiten die erste industriell produzierte und täglich ausgestrahlte Serie sowie mit Hans Meiser die erste tägliche Talkshow. „Partizipativ“ nannte die Medienforschung diese neue Form von Gesprächsfernsehen. Zum ersten Mal, so Hallenberger, waren die Talkshowgäste keine Prominente oder Experten, sondern Menschen aus der Nachbarschaft: „Die Sendungen hatten nichts mehr mit höflichem Austausch zu tun; es ging vor allem um Randale. Die gewünschte Zuschauerreaktion war nicht ‚So hab’ ich das noch nie gesehen’, sondern ‚Schlagt euch!’“

… die Öffentlich-Rechtlichen zogen nach

Ähnlich rührig wie Conrad war in dieser Zeit allein Günter Struve, der als ARD-Programmdirektor dafür sorgte, dass Das Erste fleißig imitierte, was bei RTL Erfolg hatte; wenn auch mit gewisser Verzögerung. Ab Januar 1994 zeigte die ARD mit Brisant (MDR) das erste öffentlich-rechtliche Boulevardmagazin, ab Februar erforschte Pfarrer Jürgen Fliege jeden Nachmittag die Abgründe des menschlichen Daseins. Die Vorabendserie Marienhof wurde in eine Daily Soap umgewandelt und ab Januar 1995 im täglichen Doppelpack mit Verbotene Liebe ausgestrahlt. Zehn Jahre nach dem Start des deutschen Privatfernsehens hatte ein Annäherungsprozess eingesetzt: ARD und ZDF mussten mit ihren beiden Hauptprogrammen zwangsläufig populärer werden, weil die Zuschauer in Scharen zu Sat.1 und RTL überliefen, als die kommerzielle Konkurrenz endlich eine nennenswerte technische Reichweite erzielte.

Tutti Frutti hier, Das Traumschiff da

Gleichzeitig distanzierte sich das Privatfernsehen in den Neunzigern von seinen krawalligen Anfängen. Zuvor hatte sich der Sender bewusst vom hoheitlichen öffentlich-rechtlichen Fernsehen absetzen wollen und daher Programmfarben bevorzugt, die bei ARD und ZDF keine Chance hatten, darunter die legendäre Tortenshow Alles Nichts Oder?! mit Hella von Sinnen und Hugo Egon Balder (1988 bis 1992) oder die Erotikshow Tutti Frutti (1990 bis 1993); nun setzte RTL auch mit der Satiresendung RTL Samstag Nacht (1993 bis 1998) neue Maßstäbe. Ohne das Privatfernsehen wären einige ARD-Sendungen vermutlich wesentlich braver ausgefallen. Hallenberger erinnert in diesem Zusammenhang vor allem an Harald Schmidts Schmidteinander (1990 bis 1994). Zuvor hatten schon die Grenzübertretungen bei Donnerlippchen – Spiele ohne Gewähr mit Jürgen von der Lippe (1986 bis 1988) und Vier gegen Willi mit Mike Krüger (1986 bis 1989) für großen Unmut bei den selbsternannten Gralshütern der Fernsehmoral und entsprechende Schlagzeilen gesorgt. Das ZDF, ohnehin konservativer als die ARD, setzte dem grassierenden Jugendwahn Heile-Welt-Formate für ein älteres Publikum entgegen, darunter Die Schwarzwaldklinik (1985 bis 1989) und Das Traumschiff (seit 1981). Wechselseitige Anpassungen gab es auch bei den Nachrichten. Tagesschau und heute wurden etwas bunter, RTL aktuell, von Anfang an mit eigenem Sportblock, wurde seriöser, zumal Peter Kloeppel, seit 1992 Chefmoderator der Sendung, nie im Verdacht stand, Effekthascherei zu betreiben.

Und schließlich macht’s der Sport

Als die Privatsender es sich leisten konnten, ließen sie auch die ersten Serien produzieren. RTLplus bescherte Roy Black ein Comeback mit Ein Schloß am Wörthersee (1990 bis 1993), Sat.1 bekam für Wolffs Revier (1992 bis 2006) mit Jürgen Heinrich sogar einen Grimme-Preis. Dank Conrads Wirken ist RTL seit 1992 fast ununterbrochen Marktführer im Segment der für die Privatsender relevanten Zielgruppe (14 bis und 49 Jahre), ein Erfolg, der zumindest in den Neunzigern jedoch weniger den Eigenproduktionen, sondern vor allem dem Sport zu verdanken war: Tennis aus Wimbledon, Boxen, Formel 1 und der Champions League.