Verschwörungstheorien in Krisenzeiten

Populäre Meinungsführer während der COVID-19-Pandemie

Anne-Kathrin Draga, Antonia Dürr, Christine Ermer, Daniel Hajok, Johanna Herlan, Niklas Menge, Lea Rottenbach, Daria Todorova, Josephine Wegner

Dr. Daniel Hajok ist als Kommunikations- und Medienwissenschaftler Honorarprofessor an der Universität Erfurt. Er war Erstgutachter der hier vorgestellten Bachelorarbeit.

Die Suche nach Erklärungsansätzen für die COVID-19-Pandemie stellte sich im gesellschaftlichen Ausnahmezustand als ein Nährboden für Verschwörungstheorien dar. Prominente Gegner:innen der drastischen Maßnahmen griffen die Verunsicherung der Zeit auf und lieferten immer mehr Menschen abseits klassischer Informationsmedien Erklärungen für die Krise.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 4/2021 (Ausgabe 98), S. 79-81

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Verschwörungstheorien sind bekanntlich kein neues Phänomen und folgen stets ähnlichen Mustern. Da sich die Menschen besonders dann zu Verschwörungstheorien hingezogen fühlen, wenn die Kontrolle über das eigene Leben in Gefahr ist (Prooijen/Acker 2015), hat der Glaube an ihre einfachen Erklärungsansätze während der COVID-19-Pandemie zugenommen. Verschwörungstheoretiker:innen sind der festen Überzeugung, dass die Welt von den Mächtigen gelenkt wird, und repräsentieren sich im Netz erfolgreich als die Guten, als jene, die die Vorgänge in der Welt durchschauen und die Wahrheit kennen. Für ihre Anhänger: innen brechen sie die Vorgänge auf ein simples Gut-Böse-Schema herunter (Butter 2018).

Die sogenannten „Hygiene-Demos“ erlangten bereits früh eine große mediale Aufmerksamkeit, prominenten Akteuren wie Attila Hildmann und Ken Jebsen wurde eine große Verantwortung für die zunehmende Verbreitung gezielter Falschmeldungen zugeschrieben. Der seit April 2020 von Hildmann betriebene Telegram-Kanal hatte zwischenzeitlich fast 120.000 Follower:innen und ist seit Mitte Juni 2021 nicht mehr über den Dienst erreichbar. Jebsen, ein ehemaliger RBB-Journalist, stellte schon vorher seine eigens produzierten Videos auf der „alternativen“ Medienplattform KenTube öffentlich zur Verfügung. Seit Juli 2021 sind Ken Jebsens Plattform KenFM sowie KenTube nicht mehr erreichbar, sondern mit denselben Inhalten unter dem neuen Namen apolut zu finden. Mit den unzähligen Verweisen und geteilten Inhalten haben beide Akteure maßgeblichen Anteil daran, dass in den pandemischen Zeiten nicht nur viele Erwachsene, sondern auch die meisten Jugendlichen schon mit coronaspezifischen Fake News in Kontakt gekommen sind (Hajok 2021).
 

Meinungsführerschaft und populistische Kommunikationstechniken

Die besondere Bedeutung von Hildmann und Jebsen lässt sich sehr gut mit dem Konzept von Meinungsführer:innen untermauern. Diese setzen sich im Rahmen des öffentlichen Diskurses intensiv mit bestimmten gesellschaftlich und politisch relevanten Inhalten auseinander, stellen ihre Meinung offensiv dar und können dadurch weniger informierte Personen beeinflussen (Geise 2017). Eine ihrer Hauptaufgaben ist die Einordnung und Interpretation der geteilten Informationen und das Bieten einer Orientierungshilfe (Dressler/Telle 2009). Hildmann etwa teilt Artikel aus Leitmedien und versieht sie mit eigenen Kommentaren. Die Schlagzeilen werden in einen verfälschten Kontext gesetzt und außerdem kaum Hintergrundinformationen gegeben. Jebsen liefert mit alternativen Statements ebenfalls vor allem eine Meinung in Bezug auf „Mainstreammedien“.

Die eingesetzte Rhetorik spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Meinungsführer:innen nutzen ihre Plattformen, um politische Themen zu diskutieren. Ähnlich wie populistische Argumentationen teilen Verschwörungstheorien demnach gewisse Frames und Wordings wie z.B. die starke Kontrastierung von Volk und korrupter Elite (Moffitt 2016; Mudde/Kaltwasser 2017). Zudem weist die Rhetorik von Verschwörungstheoretiker: innen häufig Entlarvungsvokabular auf, auch werden neue Ausdrücke mithilfe von Zusammensetzungen von Wörtern gebildet. Als weiteres sprachliches Mittel werden Redewendungen benutzt, da sie Verschwörungsnarrative unterstreichen und gleichzeitig einprägsam sind (Stumpf/Römer 2020).
 

Hildmanns Telegram-Kanal und KenTube im Fokus

Im Rahmen der Projektstudienphase ging die Forscher:innengruppe über ein Jahr lang den Fragen nach, welcher rhetorischen Mittel und Kommunikationstechniken sich die beiden populären Meinungsführer im letzten Jahr bedienten und wie sich die Follower:innen die Inhalte aneigneten (Draga u.a. 2021). Dabei wurden von insgesamt 36.972 bis Ende 2020 in Hildmanns Telegram-Kanal geposteten Nachrichten 743 zufällig ausgewählt (im Schnitt drei pro Tag) und einer näheren Analyse unterzogen. Von KenTube gingen insgesamt 20 Videos, die einen klaren Corona-Bezug hatten und zwischen 5 Minuten und etwa 49 Minuten lang waren, in die Analyse ein. Um mehr über die Aneignung der spezifischen Inhalte und Kommunikationstechniken herauszubekommen, wurden im Anschluss an die Inhaltsanalysen halbstrukturierte episodische Leitfadeninterviews mit aus dem Telegram-Kanal rekrutierten Follower:innen geführt.

Die Tag für Tag keineswegs nur zu den üblichen Zeiten im Telegram-Kanal geposteten Nachrichten nehmen Größenordnungen an, bei denen es schwerfällt, zu glauben, dass Hildmann hier alleiniger Akteur ist. Über 500 Nachrichten waren es jede Woche; das Hoch markierte die 29. Kalenderwoche Mitte Juli 2020 mit knapp 1.500 Nachrichten, wobei die Tages-Peaks in aller Regel mit spezifischen Entwicklungen der Pandemie, politischen Entscheidungen und besonderen Ereignissen (Demos, öffentliche Ansprachen etc.) zusammenfielen. Formal fällt die häufige Verwendung (multi-)medialer Elemente auf (bei acht von zehn Nachrichten). Insgesamt wurden im Kanal 14.367 Bilder, 12.372 Links, 3.260 Videos, 1.629 Umfragen und 646 Sprachnachrichten gepostet.

Bilder und Videos dienen nicht zuletzt der Untermauerung von Hildmanns Behauptungen. Über die Hälfte der Nachrichten weisen zudem eine:n weitere:n Urheber:in auf, bei mehr als einem Drittel fremder Quellen bleiben die eigentlichen Urheber:innen unklar, etwa wenn Screenshots oder Ausschnitte von Videos kommentarlos wiedergegeben oder in einen eigens konstruierten Zusammenhang gestellt werden und bei den Follower: innen den Eindruck entstehen lassen, dass die Aussagen mit Quellen unterstützt werden. Die coronaspezifischen KenTube-Videos zeichnen sich demgegenüber etwa dadurch aus, dass nur männliche Sprecher zu Wort kommen.
 

Thematische Ausrichtung und Kommunikationstechniken

Thematisch stand im Telegram-Kanal während der COVID-19-Pandemie die „‚Entlarvung‘ von Akteur:innen“ auffällig oft im Mittelpunkt (siehe Tabelle). Nicht zuletzt Politiker:innen werden hier von Hildmann zur Elite gezählt und für die Verschwörung verantwortlich gemacht. Häufig stellten die Nachrichten inhaltlich auch auf das „Infektionsschutzgesetz“, die „COVID-19-Impfung“ bzw. das „Einsetzen von Computerchips“ ab. Hervorzuheben ist der hohe Anteil an Eigenwerbung zu Produkten von Attila Hildmann: In jeder zehnten Nachricht geht es um seinen Matcha-Tee oder seine Energydrinks.

Die Mitteilungen werden mit verschiedenen Rhetoriken unterstützt (siehe Tabelle). Ganz oben rangieren hier Metaphern, gefolgt von Ironie, Ellipsen und rhetorischen Fragen. Auch wenn die meisten Nachrichten eher einen ernsten/nüchternen Grundtenor haben, sind sie meist auch mit negativen Emotionen konnotiert, im Einzelnen häufig anprangernd, aggressiv/wütend und kämpferisch adressiert. Bei den Videos auf KenTube sieht das etwas anders aus: Hier steht ein nüchterner Tenor im Vordergrund, mit dem der Anschein einer journalistischen Berichterstattung gewahrt bleibt.
 

 

Aneignung durch die Follower:innen

Fragt man Follower:innen nach ihren persönlichen Zugängen zum Telegram-Kanal, dann sind ein generelles Informationsbedürfnis und die Empfehlungen aus dem privaten Umfeld die wesentlichen Gründe dafür, den coronaspezifischen Verschwörungstheorien (zumindest partiell) zu folgen. Viele Follower: innen scheinen aber eben nicht in ihrer Blase gefangen zu sein, sondern informieren sich sowohl über klassische Medienangebote als auch über alternative Medien bzw. soziale Medien.

Die etablierten Medien kamen trotzdem nicht allzu gut weg. Einige Interviewte machten das mit negativ konnotierten Begriffen wie „Mainstreammedien“ deutlich, andere formulierten den Vorwurf, dass die etablierten Medien vorsätzlich Informationen vorenthielten oder manipulierten und deswegen auf Alternativmedien zurückgegriffen werden müsse. Hier sind die Bezüge zu den geposteten Inhalten unübersehbar (Hildmann 2020).

Von anderen Inhalten des Kanals grenzen sich einige Follower:innen indes bewusst ab, was auch im Kontext gesellschaftlicher Normen und einer daran orientierten sozialen Erwünschtheit zu sehen ist. Sie verweisen etwa auf die Eigenwerbung von Hildmann und seine teilweise volksverhetzenden Inhalte und lehnen diese ab.

Offensichtlich stellen die analysierten Plattformen keine Sonderfälle bei der Verbreitung von Verschwörungstheorien dar – eine Gefährdung der Demokratie ist ihnen immanent. Damit sie zukünftig wieder an Relevanz verlieren, sind die Plattformen selbst und eine angemessene Medienregulierung mitsamt einer schnellen Durchsetzung der gesetzlichen Bestimmungen in der Pflicht.
 

Die Arbeit entstand im Rahmen der „Projektstudienphase“ an der Universität Erfurt. Über den Zeitraum von einem Jahr wenden hierbei Studierende ihr Wissen zur Lösung von realen Problemstellungen an und forschen dazu. Die Projektgruppe Verschwörung(s)trennt verfolgte mit ihrer Studie das Ziel, die Kommunikationstechniken von Attila Hildmann und Ken Jebsen zu untersuchen.
Zudem erforschten die BA-Studierenden wie die Nutzer:innen deren konspirative Inhalte auf alternativen Plattformen wie beispielsweise Telegram und KenTube wahrnehmen und sich diese aneignen.

 
Literatur:

Butter, M.: „Nichts ist, wie es scheint“: Über Verschwörungstheorien. Berlin 2018

Draga, A.-K./Dürr, A./Ermer, C./Herlan, J./ Menge, N./Rottenbach, L./Todorova, D./ Wegner, J.: VERSCHWÖRUNG(S)TRENNT. Die Kommunikationstechniken populärer Meinungsführer auf Telegram & KenTube im Kontext von Verschwörungstheorien während der COVID-19-Pandemie und ihre Wahrnehmung durch Rezipient:innen. Bachelorarbeit. Universität Erfurt 2021

Dressler, M./Telle, G.: Meinungsführer in der interdisziplinären Forschung. Bestandsaufnahme und kritische Würdigung. Wiesbaden 2009

Geise, S.: Meinungsführer und der Flow of Communication. Baden-Baden 2017

Hajok, D.: Fake News – ein Problem mit zunehmender Relevanz. In: JMS-Report, 4/2021/44, S. 7 – 8

Hildmann, A. [@ATTILAHILDMANN]: GUT, DA DIE LÜGENPRESSE JA FLEISSIG MITLIEST und lieber unkommentiert die Lügen Gates verbreitet, er habe ja niieeee mit Mikrochips[Telegram Post]. In: Telegram 2020. Abrufbar unter: https://t.me/ ATTILAHILDMANN/5418

Moffitt, B.: The Global Rise of Populism. Performance, Political Style, and Representation. Stanford 2016

Mudde, C./Kaltwasser, C. R.: Populism. A Very Short Introduction. Oxford 2017

Prooijen, J.-W. van/Acker, M.: The Influence of Control on Belief in Conspiracy Theories: Conceptual and Applied Extensions. In: Applied Cognitive Psychology, 29/2015/5, S. 753 – 761

Stumpf, S./Römer, D. (Hrsg.): Verschwörungstheorien im Diskurs. Weinheim/Basel 2020