Unterhaltung

Gerd Hallenberger

Dr. habil. Gerd Hallenberger ist freiberuflicher Medienwissenschaftler.

Gerd Hallenberger definiert fürs Medienlexikon, was Unterhaltung ausmacht: „Ob etwas als Unterhaltung, gar als gute Unterhaltung, empfunden wird, das erweist sich live in der Rezeptionssituation – während der Film, die Fernsehsendung oder das Video gesehen, das Musikstück gehört oder das Buch gelesen wird.“

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 3/2021 (Ausgabe 97), S. 58-59

Vollständiger Beitrag als:

 

Eine alte Fußballweisheit besagt: „Entscheidend ist auf’m Platz“. Vergleichbares gilt für die Unterhaltung, beim Fernsehen etwa: Entscheidend ist auf dem Sofa. Ob etwas als Unterhaltung, gar als gute Unterhaltung, empfunden wird, das erweist sich live in der Rezeptionssituation – während der Film, die Fernsehsendung oder das Video gesehen, das Musikstück gehört oder das Buch gelesen wird.

Damit wird „Unterhaltung“ zu einem schwierigen Thema und anfällig für Missverständnisse. Das vielleicht älteste und komplexeste besagt, dass Unterhaltung das Gegenteil von Information sei. Aufgrund des geringen Eigenwerts, der Unterhaltung in Deutschland traditionell zugebilligt worden ist, hat es lange gedauert, bis endlich weitgehend akzeptiert wurde, dass Unterhaltung nicht einfach einen Typ von Medieninhalten bezeichnet, sondern vor allem eine Umgangsweise mit potenziell allen Medieninhalten.
 


Das vielleicht älteste und komplexeste [Missverständnis] besagt, dass Unterhaltung das Gegenteil von Information sei.



Die Chancen auf gelungene Unterhaltungserlebnisse sind bei speziell dafür hergestellten Angeboten natürlich besonders hoch, aber einerseits können sich Menschen auch bei anders etikettierten Produktionen gut unterhalten fühlen, andererseits kann das Erlangen neuer Informationen ein wichtiger Bestandteil von Unterhaltungserwartungen sein. Auf der einen Seite kann auch etwa die Tagesschau zu Zwecken genutzt werden, die üblicherweise mit Unterhaltung assoziiert werden – sie ermöglicht die parasoziale Interaktion mit lieb gewonnenem Medienpersonal, bietet Spannung (was ist da bloß wieder passiert?) und Entspannung (zum Glück geht’s uns ja gut), selbst klassische Unterhaltungsthemen – nicht zuletzt Sport – haben ihren zwar kleinen, aber festen Platz. Auf der anderen Seite kann beispielsweise ein Dokumentarfilm gerade wegen seines Informationswertes ein herausragendes Unterhaltungserlebnis zur Folge haben, wenn er sich genau mit der Region beschäftigt, in der ich vorletztes Jahr Urlaub gemacht habe oder nächstes Jahr Urlaub machen will.

So individuell Unterhaltungserlebnisse sind, so individuell sind auch die Strategien, mit denen sie angestrebt werden. Und – was das Analyseproblem nochmals schwieriger macht – jede(r) von uns verfügt über ein umfangreiches Portfolio solcher Strategien. Je nach Situation, Lust und Laune können es ganz andere Ziele sein, die ich mit ganz anderen Mitteln anstrebe. Manchmal möchte ich unter Einsatz all meiner Medienkompetenz und mit voller Konzentration ein ganz besonderes Erlebnis haben, da mir erzählt worden ist, diese spezielle Produktion eines Streamingdienstes lohne die Mühe. Manchmal, wenn ich müde und abgespannt bin, reicht mir lineares Fernsehen und irgendwas halbwegs Interessantes, das ich eher nebenbei rezipiere. In beiden Fällen kann das Resultat ein gelungener Abend sein, weil Aufwand und Ergebnis zusammenpassen. Unbefriedigend wird es erst, wenn rezeptives Engagement nicht belohnt wird oder eine Sendung mehr Aufmerksamkeit erfordert, als ich zu investieren bereit bin.
 


Aus Publikumssicht ist das Gegenteil von Unterhaltung:
Langeweile. 



Voraussetzung für individuelle Nutzungsstrategien ist natürlich, dass Medienproduktionen dafür offen sind, also unterschiedliche Zugänge für unterschiedliche Interessen bieten. Und das tun sie prinzipiell immer, auch wenn die Resultate in der Regel überzeugender sind, wenn dieser Umstand bei der Produktion bewusst berücksichtigt wird. In fiktionalen Produktionen beispielsweise agieren Schauspieler in Rollen an bestimmten Orten, um so eine Geschichte mit einer spezifischen Dramaturgie zu erzählen. Das heißt, Setting, Akteure, Figuren, Plot, Thema, Genre stellen jeweils für sich eigenständige Einstiegspunkte in Nutzungsprozesse dar, diese Punkte können zudem auch auf vielfältige Weise miteinander verbunden werden, um Einzigartiges hervorzubringen und einzigartige Seherlebnisse zu ermöglichen. Ich kann einen Krimi sehen, weil ich die Ermittelnden oder diejenigen mag, die sie darstellen, mir der Handlungsort gefällt oder ich den Fall interessant finde oder mich eine beliebige Kombination von Faktoren anspricht: Hauptsache ist, ich finde irgendeinen Zugang.

Da Unterhaltungserlebnisse so vielfältig sein können, fallen Verallgemeinerungen naturgemäß schwer. Publikumsbefragungen, was denn von Unterhaltung erwartet wird, erbringen daher verlässlich relativ unkonkrete Ergebnisse, nur ein Punkt ist völlig klar und unstrittig. Aus Publikumssicht ist das Gegenteil von Unterhaltung: Langeweile. Abgesehen davon soll Unterhaltung vor allem Spaß machen, entspannen, Abwechslung bieten, nicht anstrengen und eine Flucht aus dem Alltag ermöglichen – alles individuelle Empfindungen, die sich nicht universell und eindeutig mit bestimmten Medienangeboten in Beziehung setzen lassen. Fühlt sich der eine von einem einzelnen Schlager wunderbar entspannt und aus seinem Alltag enthoben, kann der gleiche Schlager für die andere akustischer Inbegriff der Hölle sein. Es könnte sich lohnen, hier nachzuhaken: Was ist denn genau mit „Spaß“ gemeint? Was macht ihn aus und wo endet er? Wie hat man sich diese „Flucht“ konkret vorzustellen? Jede Flucht hat einen Ausgangs- und einen Zielort, also wer versucht, aus welcher Situation mittels Unterhaltung wohin zu fliehen?
 


Insofern handelt es sich bei Unterhaltung keineswegs um folgenlosen Zeitvertreib, […] sondern um eine wichtige gesellschaftliche Dienstleistung.



Erkennbar ist immerhin, dass es in der Unterhaltung um Genuss und Selbstgenuss geht, um schöne Erlebnisse, die im realen Alltag (zu) selten sind. Es sind zwar nur Medienangebote, die ich benutze, aber die Gefühle, die ich dabei erlebe, sind real, auch etwa die Bestätigung meines Selbstbildes als kluger Mensch, die mir das Sehen von Quizsendungen ermöglicht. Insofern handelt es sich bei Unterhaltung keineswegs um folgenlosen Zeitvertreib, um ein weitverbreitetes Vorurteil zu zitieren, sondern um eine wichtige gesellschaftliche Dienstleistung.

Das weite Feld der Unterhaltung ist erstens Erlebnisraum, zweitens repräsentiert es einen Ort des Aushandelns und virtuellen Realisierens von Träumen und Wünschen – wie möchten wir leben? Wie stellen wir uns unser Leben vor? Das ist ein wichtiger Aspekt von Unterhaltung und sorgt dafür, dass ihr nicht nur tatsächlich große Bedeutung zukommt, ihr sollte auch im medienpolitischen Diskurs Public Value zuerkannt werden.