Über Medien spricht man nicht

Ergebnisse der aktuellen FIM-Studie

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

Medienthemen spielen zwischen Eltern und Kindern kaum eine Rolle – und wenn doch, dann geht es in erster Linie um die Dauer der Mediennutzung. Zu diesem Ergebnis kommt die neue Studie Familie, Interaktion, Medien (FIM) des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest (mpfs). Die Forscher haben über 280 Familien mit Kindern zwischen 3 und 19 Jahren befragt. Die große Mehrheit der Eltern ist der Meinung, sie seien selbst für den Schutz der Kinder vor negativen Medieneinflüssen verantwortlich. Ein Abgleich mit anderen Studien zeigt allerdings, dass es bei der praktischen Umsetzung des Jugendmedienschutzes hapert.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 2/2018 (Ausgabe 84), S. 87-89

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Früher war nicht alles besser, aber vieles einfacher; z.B. Medienerziehung. Wer heute im Alter des typischen ARD- und ZDF-Publikums ist, also um die 60, ist in einer Zeit groß geworden, als es im Grunde nur diese beiden Programme gab. Um Mitternacht war Sendeschluss, Sendungen für Kinder hießen „Kinderstunde“, und es war eine echte Herausforderung, in den Kinos einen Film zu sehen, für den man noch zu jung war; Medienerziehung war quasi ein Selbstläufer. Das änderte sich in den 1980er-Jahren: Mit SAT.1 und RTLplus wurden die ersten Privatsender gegründet. Weil außerdem mittlerweile viele Haushalte einen Videorekorder besaßen, wurde Jugendmedienschutz ein öffentlich diskutiertes Thema. Viele der heutigen Eltern mit jungen Kindern sind also zwar bereits mit einem größeren audiovisuellen Medienangebot groß geworden, aber ihre Medienkindheit lässt sich nicht annähernd mit den aktuellen Verhältnissen vergleichen; reine Kindersender gibt es hierzulande z.B. erst seit 1995, als SUPER RTL gegründet wurde. Diese Eltern gehören auch noch nicht zu den Digital Natives, die in das Zeitalter des Internets hineingeboren worden sind. Medienerziehung stellt für sie daher eine ganz andere Herausforderung dar als für ihre eigenen Eltern. Wie gehen sie also damit um? Die erschütternde Antwort: offenbar gar nicht. So lässt sich zumindest ein Teil einer Untersuchung interpretieren, die zwar bereits 2016 durchgeführt, aber erst jetzt veröffentlicht worden ist. Medienthemen spielen in den Gesprächen zwischen Eltern und Kindern laut der vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest herausgegebenen FIM-Studie (Familie, Interaktion, Medien) anscheinend kaum eine Rolle – und wenn doch, dann geht es in erster Linie um die Dauer der Mediennutzung.
 

„Gewisse Lücken“

Der mpfs veröffentlicht seit Jahren auch regelmäßige Studien zum Medienverhalten von Kindern (Kindheit, Internet, Medien, kurz: KIM) und Jugendlichen (Jugend, Information, [Multi-]Media, kurz: JIM). Da sich die verschiedenen Untersuchungen ergänzen, konnten die Forscher leicht überprüfen, ob die Antworten der für FIM befragten Eltern ins allgemeine Bild passen. Auf die Frage, wer für den Schutz der Kinder vor negativen Medieneinflüssen verantwortlich sei, geben 78 % der Eltern an, diese Verantwortung liege bei ihnen. 13 % nennen die Medienunternehmen, 8 % erwarten, dass Staat und Behörden Schutz bieten. Bei der praktischen Umsetzung des Jugendmedienschutzes zeigten sich dann allerdings „gewisse Lücken“, wie die FIM-Autoren feststellen. Sie beziehen sich mit dieser Aussage auf die jüngste KIM-Studie, die besagt: Auf 73 % der von den Kindern genutzten Geräte sind keinerlei Jugendschutzprogramme installiert. Auch „deutlich niederschwelligere Möglichkeiten“ werden nur sporadisch genutzt; so sind z.B. nur bei einem Fünftel der Geräte die vorinstallierten Jugendschutz- oder Kindereinstellungen aktiviert. Ansonsten verlassen sich Eltern offenbar darauf, dass die Einrichtungen der Selbstkontrolle, also etwa die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), die für Kinofilmfreigaben zuständige Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) oder die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle ([USK] Videospiele), ihre Arbeit ordentlich machen. Über die Hälfte der Eltern ist der Ansicht, die aktuelle Form der Alterskennzeichnung von Medieninhalten sei ausreichend; nur 7 % geben an, die Altersangaben nicht zu beachten. Fast ein Drittel wünscht sich allerdings eine inhaltliche Begründung der Altersklassifikation.

Weitere Zahlen zeigen, dass die Medien als familiäres Gesprächsthema nur eine untergeordnete Rolle spielen. Dass sich Eltern mit ihren Kindern in erster Linie über Schule oder Kindergarten unterhalten, ist nicht weiter überraschend (60 %); es folgen der Freundeskreis der Kinder (41 %) sowie Alltagserlebnisse und Freizeitplanung (jeweils rund 20 %). Medienthemen (5 %) liegen abgeschlagen auf dem letzten Platz und beschränken sich in erster Linie auf das Fernsehen, gefolgt von Tageszeitungsinhalten sowie dem Internet. Einen potenziellen Konfliktstoff stellen Medien nur bei einem Fünftel der Familien dar. Meist geht es dabei um die Nutzungsdauer; das wird die Mehrheit der Eltern noch gut aus der eigenen Kindheit kennen. Weitere Streitthemen sind die Inhalte und insbesondere die Altersbeschränkung von Medien – und auch das haben die meisten Menschen unter 60 schon einmal erlebt, weil sie einst pünktlich zum Tatort das Wohnzimmer verlassen mussten. Heute geht es vermutlich eher um die Gewalthaltigkeit bestimmter Video- und Computerspiele; für pazifistische Eltern ist es nicht leicht, zu akzeptieren, wenn sich die Kinder ihre Zeit mit „Killerspielen“ vertreiben. In rund der Hälfte der Familien gibt es immerhin Vereinbarungen mit den Kindern hinsichtlich der Mediennutzung. Zwei Drittel der Eltern gaben an, dass diese Absprachen immer oder fast immer eingehalten werden. Die Verabredung, wann und wie lange Medien genutzt werden dürfen, wird in erster Linie zwischen den Kindern und ihren Müttern getroffen (40 %). Interessant ist auch, dass die Regeln zum digitalen Spielen in allen Altersphasen der Kinder präsent bleiben, die Smartphone-Nutzung hingegen von Anfang an vergleichsweise gering reglementiert wird. In dieser Hinsicht weist die Studie eine irritierende Leerstelle auf: Die Autoren stufen Medienpädagogik als relevant ein, reduzieren sie aber offenbar auf quantitative Aspekte, denn es wird ausdrücklich betont, dass Gespräche über die Nutzungsdauer oder -zeiten von Medien in jeder dritten Familie täglich oder mehrmals pro Woche auf der Tagesordnung stehen.
 

Medienthemen sind Elternthemen

Dass Medienerziehung im qualitativen Sinn anscheinend keine große Rolle spielt, zeigt ein weiteres Ergebnis: Wichtigster Gesprächspartner für die meisten Medienthemen, insbesondere Tageszeitungs-, Zeitschriften-, Internet- und Radioinhalte, ist aus Sicht der Eltern der jeweilige Partner. Für die Kinder ist die Mutter grundsätzlich die wichtigste Ansprechpartnerin, auch bei Medienthemen; es sei denn, es geht um technische Aspekte wie die Ausstattung oder die Funktion der Geräte. Dabei schreiben sich die befragten Väter eine deutlich höhere Medienerziehungskompetenz zu als die Mütter (40 % zu 23 %). Gut die Hälfte der Eltern bewertet sich als „etwas kompetent“, nur jeder Zehnte gab an, in dieser Hinsicht „weniger gerüstet“ zu sein; 4 % trauen sich Medienerziehung überhaupt nicht zu. Diese Zahlen korrelieren mit den Antworten auf die Frage, wie die Eltern die Medienentwicklung der letzten Jahre bewerten: Mütter und Väter, die glauben, über eine hohe Medienerziehungskompetenz zu verfügen, nehmen die Medienentwicklung positiv wahr; Eltern, die sich weniger Kompetenz zuschreiben, sehen eher negative Auswirkungen auf das Familienleben.

Den Familien steht laut Studie ein breites Repertoire an Geräten zur Mediennutzung zur Verfügung. Praktisch alle Haushalte mit Kindern zwischen 3 und 19 Jahren verfügen über mindestens ein Mobiltelefon sowie über einen Internetzugang, einen Fernseher und ein Radiogerät. 93 % der Familien besitzen einen Computer oder einen Laptop. Video- bzw. Festplattenrekorder oder DVD-Player sind bei 85 % vorhanden, in sieben von zehn Familien gibt es eine (stationäre oder mobile) Spielkonsole. Gut jede zweite Familie hat ein oder mehrere Tablets. Auch die Kinder sind medial gut ausgestattet. Die meisten besitzen ein eigenes Mobiltelefon, jeweils knapp drei Fünftel der Kinder können vom eigenen Zimmer aus das Internet nutzen; das ist ein Plus von 23 % gegenüber der letzten FIM-Studie (2011). Knapp 50 % der Kinder zwischen 6 und 19 Jahren haben ein eigenes Radio oder einen eigenen Fernseher im Zimmer, rund ein Drittel hat einen MP3-Player oder iPod sowie einen eigenen Computer oder Laptop; ein Viertel der Kinder besitzt ein eigenes Tablet (ein Plus von 21 %).

Gerade angesichts der Entwicklung im digitalen Bereich ist es kein Wunder, dass die Kommunikation über Social-Media-Angebote wie Facebook, WhatsApp, Instagram oder Snapchat bzw. deren Inhalte eine bedeutende Rolle im familiären Alltag spielt. Nach Angaben der Eltern sind insbesondere Nachrichten, Posts oder Kommentare von Freunden relevante Themen, über die in der Familie gesprochen wird. Gleiches gilt für den Austausch einzelner Familienmitglieder mit Freunden oder Verwandten via Facebook, Telegram oder anderen Diensten. Insgesamt, resümieren die Autoren der Studie, bieten die sozialen Netzwerke innerhalb der Familie aber dennoch relativ wenig Gesprächsanlass. Genutzt werden sie dagegen stark: Bei der Detailbetrachtung nach Altersgruppen des Nachwuchses wird deutlich, dass Telefonate sowie das Versenden von Text-, Bild- und Sprachnachrichten mit zunehmendem Alter der Kinder und Jugendlichen deutlich an Relevanz gewinnen. Insbesondere für die Altersgruppe der 12- bis 19-Jährigen lässt sich auch eine deutliche Entwicklung im Vergleich zur letzten FIM-Studie festmachen: Kommunizierte damals nur etwa ein Drittel der Eltern häufig oder gelegentlich über SMS mit ihren heranwachsenden oder erwachsenen Kindern (34 %), so hat sich diese Zahl mittlerweile fast verdoppelt. Bei der Kommunikation mit dieser „Generation Smartphone“ haben auch Bild- und Videonachrichten sowie Sprachnachrichten für etwa jeden vierten Elternteil Relevanz.
 

Das Fernsehen steht im Zentrum

Was Medienthemen betrifft, so ist für die 3- bis 19-Jährigen das Fernsehen der wichtigste Gesprächsgegenstand: 57 % sprechen regelmäßig mit anderen Familienmitgliedern über TV-Sendungen. Wenn Eltern und Kinder ein Medium gemeinsam nutzen, ist dies in der Regel ebenfalls das Fernsehen; 58 % der Eltern sehen mindestens mehrmals pro Woche zusammen mit ihren Kindern fern. Knapp die Hälfte hört gemeinsam Radio, 40 % hören zusammen Musik (über unterschiedliche Verbreitungswege). Jeweils ein Viertel der Eltern liest mit den Kindern Bücher oder Comics oder nutzt Social-Media-Angebote. Allerdings geht die Studie an dieser Stelle nicht in die Tiefe: Der Vorgang des Vorlesens ist ja von ganz anderer Qualität als „gemeinsames Radiohören“. Da die gemeinsame Fernsehzeit vorwiegend abends stattfindet, wird die Nutzung vor allem dem Familienprogramm gelten.
 

Der 1998 gegründete Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest wird von der Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg (LFK) und der Landeszentrale für Medien und Kommunikation Rheinland-Pfalz (LMK) getragen; die Studien zum Medienverhalten von Kindern und Jugendlichen werden gemeinsam mit dem SWR seit 1998 durchgeführt. FIM gibt es allerdings nach 2011 erst zum zweiten Mal. Für die Untersuchung haben sich 284 Familien zur Verfügung gestellt. Alle Familienmitglieder ab 3 Jahren sind befragt worden. Außerdem wurden Tagebücher miteinbezogen, in denen die Familien allgemeine Tätigkeiten, Freizeitbeschäftigungen sowie die Mediennutzung und Kommunikation im Tagesverlauf notiert haben.

Die Studie ist abrufbar unter: www.mpfs.de/studien/fim-studie/2016/. Sie kann auch kostenlos auf der Website bestellt werden.