Spiegel der Gesellschaft

Die „Sendung mit der Maus“ wird 50

Tilmann P. Gangloff im Gespräch mit Armin Maiwald

In diesem Jahr feiert Die Sendung mit der Maus ein seltenes Jubiläum: Der Kinderfernsehklassiker wird 50 Jahre alt; die erste Ausgabe ist am 7. März 1971 ausgestrahlt worden. Armin Maiwald (81) war mit seiner Kölner Produktionsfirma Flashfilm von Anfang an für die „Sachgeschichten“ zuständig. Im Interview erläutert der unter anderem mit dem Grimme-Preis mit Gold (1988) und dem Bundesverdienstkreuz (1995) geehrte Autor und Regisseur, warum das Kinderfernsehen vom öffentlichen Radar verschwunden ist, wie er seine Filme konzipiert und welche Geschichten ihn am meisten beeindruckt haben.

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Herr Maiwald, Ihr früherer Auftraggeber als Leiter des Kinderfernsehens beim WDR, Gert K. Müntefering, hat vor einigen Jahren bemängelt, dass das Kinderfernsehen heutzutage in der Öffentlichkeit keine Rolle mehr spiele. Tatsächlich galt die letzte größere Berichterstattung dem Unterschlagungsskandal beim Kinderkanal. Ist das deutsche Kinderfernsehen nicht mehr der Rede wert?

Diese Feststellung trifft ja nicht nur fürs Fernsehen zu. Kinder haben in unserem Land keine Lobby und sind nur dann Thema, wenn ein Missbrauchsfall für Schlagzeilen sorgt. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie ging’s zwar auch um die Öffnung von Kindergärten und Schulen, aber vor allem aus Sicht der Eltern, die sich im Homeoffice auch noch um den Nachwuchs kümmern mussten. Die Probleme der Kinder kommen viel zu selten zur Sprache. Vergleichen Sie das mal mit der erfolgreichen Lobbyarbeit der Autoindustrie, dann wissen Sie, was ich meine. Da ist es doch keine Überraschung, dass sich niemand für Kinderfernsehen interessiert.

Vermutlich haben Sie auch keine großen Hoffnungen, dass sich das in absehbarer Zeit ändern könnte.

Nein, das ist ja ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Im täglichen Leben der meisten Menschen spielen Kinder nur dann eine Rolle, wenn sie negativ auffallen, weil sie zu viel Krach machen; dann gibt’s umgehend Ärger mit den Nachbarn. Dass Bewegungslust und Lärm Teil der kindlichen Entwicklung sind, wird ausgeblendet. Die meisten Erwachsenen haben vergessen, dass sie selbst auch mal Kinder waren und Blödsinn gemacht haben.

Täuscht der Eindruck, oder entspricht auch das hiesige Kinderfernsehen dieser Einschätzung? Eine gewisse Freude an der Anarchie ist doch ebenfalls ein Kindheitsmerkmal, aber in den Sendungen ist davon wenig zu sehen.

Grenzen austesten ist genauso wichtig! Ich gebe Ihnen Recht, aber wie sollte es auch anders sein; das Fernsehen, auch das Kinderfernsehen, ist schließlich ein Spiegel der Gesellschaft.

Und die sah in den Siebzigern anders aus?

Damals war das Fernsehen noch ein relativ junges Medium, man hatte Zeit, Geduld und Muße, um Dinge auszuprobieren. Wir durften auch sehr viel mutiger sein. Ich erinnere mich an einen Film über die Frage, wie ein geschlachtetes Rind verarbeitet wird. Der Beitrag begann mit dem Bolzenschuss im Schlachthof und endete mit dem Steak auf dem Teller. Natürlich gab es eine Diskussion mit der Redaktion, außerdem empörten sich viele Zuschauer darüber, dass wir so etwas zeigen. Wir wollten die Kinder keineswegs zu Vegetariern machen, sondern darstellen, wo das Fleisch herkommt, das wir essen. Das würde heute keine Redaktion mehr abnehmen. In den Sendern war allerdings auch die Bereitschaft größer, Zuschauerproteste auszuhalten und dazu zu stehen, dass unsere Filme die Wirklichkeit abbilden. Der aufbegehrende, um nicht zu sagen revolutionäre Charakter dieser Anfangszeit des Kinderfernsehens ist verloren gegangen. Dabei werden die Kinder heutzutage im Internet mit ganz anderen Dingen konfrontiert.

Das Fernsehen im Allgemeinen und das Kinderfernsehen im Besonderen sind an Innovation nicht interessiert. Heikle Themen werden gemieden, gefragt sind in erster Linie Formate ohne Ecken und Kanten. Sehen Sie das ähnlich?

Ja, es geht vor allem darum, das Bewährte zu bewahren. Bloß keine Experimente, denn sie könnten ja schiefgehen. Aber ohne Experimente würde es keine Wissenschaft geben; bei jeder Versuchsreihe ist das Scheitern Teil des Versuchs. Ich sehe keine große Bereitschaft, mal was völlig Neues auszuprobieren. Mein Kollege Christoph Biemann hat mal einen Film über eine syrische Flüchtlingsfamilie gedreht, das gab Riesenproteste von vielen Zuschauern und Zuschriften voller fremdenfeindlicher Klischees. Die letzte größere Innovation im Kinderfernsehen war meines Erachtens die Sendung mit dem Elefanten, eine gewissermaßen jüngere Version der Sendung mit der Maus.

Die Zuschauer der Maus sind im Schnitt 40 Jahre alt. Damit ist die Sendung seit dem Ende von Wetten, dass..? das letzte echte Familienfernsehen.

Ja, wir sind die letzten Mohikaner, wobei ich sagen muss: Ich hätte nie gedacht, dass wir irgendwann dieses Jubiläum feiern würden, das ist für mich wie ein Wunder, genauso wie die vielen positiven Zuschriften, die wir immer noch bekommen. Menschen jedes Alters fühlen sich nach wie vor gut bei uns aufgehoben, das ist ein sehr schönes Gefühl.

Weil die Maus auch heute noch nach dem klassischen Rezept funktioniert? Oder erzählen Sie Ihre Geschichten anders als in den Anfangsjahren?

Zu Beginn sind unsere Filme komplett ohne Kommentar ausgekommen. Dann haben wir angefangen, gelegentlich Stichwörter oder Halbsätze einzustreuen, weil Kinder bestimmte Dinge sonst nicht verstanden hätten. Bei einem Film über die Herstellung von Streichhölzern war das kein Problem, aber versuchen Sie mal ohne Worte zu erklären, wie ein Smartphone funktioniert. Mittlerweile sind die Filme von vorn bis hinten durcherzählt, weil sich auch die Themen geändert haben. Stil und Darstellungsweise sehen heute ebenfalls ganz anders aus. Wir stehen immer wieder vor der Herausforderung, Dinge darzustellen, die nicht sichtbar sind.
 

Wie werden Streichhölzer gemacht? - Sachgeschichten mit Armin Maiwald



Hat sich die Gestaltung der Erklärfilme durch das heutige Medienverhalten der Kinder geändert? Die Mitglieder der Zielgruppe haben ja nicht nur einen viel höheren Medienkonsum, sie sind zum Beispiel in Form von TikTok-Videos von einer passiven in eine aktive Rolle geschlüpft.

Nein, im Prinzip hat sich die Darstellung der Filme nicht grundsätzlich verändert. Allerdings sind durch die jüngeren Moderatorinnen und Moderatoren die Sichtweisen etwas anders. Mitunter wird auch auf die „Verpackung“ mehr Wert gelegt.

Hat sich Ihre eigene Herangehensweise gewandelt?

Die orientiert sich wie schon vor 50 Jahren an drei Punkten. Am Anfang steht eine saubere Recherche. Wo andere mal eben bei Wikipedia reinschauen, recherchieren wir, bis es wehtut; und die gefundenen Fakten hängen wir nicht einfach aneinander, denn das ergibt ja keine Geschichte. Damit bin ich bei Punkt zwei, und das ist die eigentliche Herausforderung: Wie kriegen wir eine Dramaturgie hin, damit tatsächlich eine Geschichte draus wird, die zudem nicht langweilt? Und natürlich muss der Einstieg sofort die Neugier wecken. Danach gehen wir, drittens, in logischen Schritten vor, wobei diese Schritte kleiner sind als für Erwachsene. Dazu gehört auch der Verzicht auf Fremdwörter, und wenn wir Analogien verwenden, dann stammen sie grundsätzlich aus der alltäglichen Erlebniswelt der Kinder. Wir versuchen immer vom Bekannten ins Unbekannte vorzustoßen, oft auch über Umwege, die eine Geschichte aber meist erst richtig spannend und interessant machen. Am Anfang steht jedoch grundsätzlich die Einladung, uns auf dieser Entdeckungsreise zu begleiten: Ich ziehe jetzt los und habe keine Ahnung, wo ich landen werde, und wenn ihr Lust habt, könnt ihr mich begleiten.

Sind Sie tatsächlich mal woanders gelandet als geplant?

Na klar, es gab natürlich auch Sackgassen, aber Fehlversuche ergeben oft ebenfalls gute Geschichten. Außerdem kennen die Kinder das aus ihrem eigenen Leben, da klappt ja auch nicht immer alles beim ersten Mal. Wenn wir zugeben, dass uns ebenfalls nicht immer alles auf Anhieb gelingt, kann das für unsere Glaubwürdigkeit nur gut sein.

Hätten Sie ein Beispiel?

Es gab einen Versuch, der überhaupt nicht funktioniert hat. Ein schwedischer Botaniker hat vor 200 Jahren rausgefunden, dass eine spezielle Blumensorte ihre Blüten zu ganz bestimmten Uhrzeiten öffnet und wieder schließt. Also haben wir uns eine riesige Uhr besorgt und eine Gärtnerei gefunden, die diese Blumen für uns pflanzt. Zelt aufgebaut, Zeitrafferkamera installiert, Schichtbetrieb organisiert – aber außer Spesen nix gewesen. Daraufhin haben uns einige Zuschauer geschrieben, wir seien ja blöd, die Blumen bräuchten mindestens ein Jahr, um sich an die Umgebung zu gewöhnen. Gesagt, getan, aber das Ergebnis war das gleiche; nach drei Jahren haben wir aufgegeben. Aber aus solchen Misserfolgen lernen auch die Kinder: Es gibt immer die Möglichkeit des Scheiterns; das muss man sportlich sehen.

Welche Sachgeschichten sind Ihnen in besonders guter Erinnerung geblieben?

Vor allem zwei: die „Nachkriegs-Maus“ und Die Geschichte von Katharina. Als meine Tochter sechs wurde und in die Schule kam, sollte ich erzählen, wie die Welt ausgesehen hat, als ich 1946 mein erstes Schuljahr erlebt habe. Die Aufgabe erwies sich als ungeheuer schwierig, sodass ich zwischendurch kurz davor war aufzugeben, weil ich das Gefühl hatte, nur an der Oberfläche kratzen zu können. Ich sah keine Möglichkeit, die ganze Tragweite – den Hunger und das Elend in einem zerbombten Land – darstellen zu können. Ich habe dann trotzdem weitergemacht, war aber mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Nach der Fernsehausstrahlung hat eine Kölner Initiative eine Vorführung in einem Kino organisiert. Anschließend konnten mir die Kinder Fragen stellen. Das ist nach zehn Minuten vorbei, dachte ich mir – es dauerte eineinhalb Stunden.
 

Nachkriegszeit – Wie sah es damals bei uns aus? – Sachgeschichten mit Armin Maiwald



Für viele erwachsene Zuschauer war die „Nachkriegs-Maus“ eines der besten Maus-Specials, 1995 haben Sie für den Film den Bayerischen Fernsehpreis bekommen. Die Geschichte von Katharina ist zwei Jahre später entstanden. Wie kam es dazu?

Diese Geschichte war noch schwieriger zu erzählen, denn die Hauptfigur lebte nicht mehr: Katharina war in der Nacht zum 25. Geburtstag der Maus gestorben. Wir standen also vor der Herausforderung, einen Film über einen Menschen zu drehen, den wir nie kennengelernt haben und von dem es nur Fotos gibt. Und wie geht man mit einer Familie um, die so einen Verlust erlitten hat? Die Geschichte von Katharina war einer der ganz wenigen Filme, bei denen ich nur mit Gesprächen gearbeitet habe. Interviews sind bei uns eigentlich tabu, auch wenn in Ausnahmefällen mal der eine oder andere Experte auftritt. Außerdem war das der einzige Film, den ich nach der ersten Version komplett umgeschnitten habe, weil er zu sehr auf die Tränendrüse gedrückt hat. Katharinas Familie hat uns erzählt, dass sie trotz ihrer unheilbaren Krankheit ein fröhliches Mädchen war, das dauernd Blödsinn gemacht hat, und das sollte der Film natürlich transportieren. Die zweite Fassung ist ihrem Wesen dann deutlich nähergekommen.
 

Trailer Die Geschichte von Katharina (FILMSORTIMENT.de)



Sie wirken sehr mit sich im Reinen. Haben Sie nie bereut, in Ihrem Berufsleben nichts anderes als die Sachgeschichten gemacht zu haben?

Nein, die Frage habe ich mir nie gestellt. Gerade in den ersten 20 Jahren hat uns die Redaktion regelmäßig mit neuen Herausforderungen konfrontiert, was Form und Inhalt unserer Filme anging, deshalb war auch immer Abwechslung garantiert. Außerdem bin ich mein größter Kritiker und habe meine Arbeit stets hinterfragt. Natürlich ist mir nicht immer alles gleich gut gelungen, aber diese Erfahrung kennt jeder aus seinem Beruf. Wenn ich jemals festgestellt hätte, dass meine Neugier und meine Motivation nachlassen, hätte ich mit den Sachgeschichten aufgehört.

Würden Sie zustimmen, dass vor allem Ihre Sachgeschichten die Einzigartigkeit der Sendung mit der Maus ausmachen?

Da ist sicher was dran. Zeichentrickfilme und Lieder gab es und gibt es ja auch anderswo, heute noch viel mehr als damals. Außerdem sagen sogar Nobelpreisträger, dass sie von uns eine Menge gelernt haben, und der deutsche Astronaut Alexander Gerst hat mal erzählt, dass sein Interesse am Weltraum durch die Maus geweckt worden ist. Von jungen Frauen höre ich immer wieder, ich sei daran „schuld“, dass sie in einem technischen Beruf gelandet sind.

Sie sind jetzt 81 und somit in einem Alter, in dem andere längst den Lebensabend genießen. Keine Lust auf Ruhestand?

Ich trete schon seit einiger Zeit etwas kürzer. Aber bevor ich zu Hause sitze, die Blümchen auf der Tapete zähle und meiner Frau auf die Nerven gehe, drehe ich doch lieber noch zehn oder zwölf Filme pro Jahr, solange Körper und Geist mitmachen.
 

Beitrag in der Tagesschau: „Die ‚Sendung mit der Maus’ feiert 50. Geburtstag“



Armin Maiwald ist Autor, Regisseur und Fernsehproduzent, u.a. von der SENDUNG MIT DER MAUS

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.