Social Scoring in China

Tabea Dunemann, Elisa Hoth

Das großflächige Datensammeln in China und dessen momentaner Entwicklungsstand in einem knappen Überblick. 

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 1/2019 (Ausgabe 87), S. 4-5

Vollständiger Beitrag als:

Die Idee

Wenn es um China und Digitalisierung geht, dann spricht man von Big Data, Great Firewall und WeChat. China will als Global Player in Sachen Internet wirtschaftlich aufholen und zur IT-Supermacht werden. Dafür sind seit 2014 interne Entscheidungs- und Kontrollprozesse der Regierung im Bereich „Digitalisierung“ unter der Zentralen Führungsgruppe für Internetsicherheit und Informatisierung sowie der Cyberspace Administration of China zentralisiert. Zudem setzt das seit 2016 in Kraft getretene Gesetz zur Internetsicherheit die Interessen der Regierung durch. Darin geht es um die Verteidigung nationaler und ziviler Interessen, der Kritischen Infrastruktur1 und des gesellschaftlichen Friedens. Und es geht um den persönlichen Schutz vor Internetkriminalität und Datendiebstahl. Vor allem jedoch hebt es die Anonymität im Internet auf. Alle Internetbetreiber müssen Zugang zur Identität ihrer Nutzerinnen und Nutzer haben – ansonsten drohen Strafzahlungen und Geschäftsschließungen.
 

Zensur in China ist kein neues Phänomen. Eine derart engmaschige, landesweite Kontrolle (wie mit den neuen Gesetzen angestrebt), die durch strenge Führung und soziale Diskreditierung die Menschen „auf Linie“ halten soll, ist allerdings ein Novum und vor allem für ein europäisches Rechtsverständnis weit über das Ziel hinausgeschossen. Aber was bedeutet es für ein Land mit einer Fläche von 9.596.960 km² und seine 1,4 Mrd. Bürgerinnen und Bürger?

Die Umsetzung

Die Internetverbreitung im Land lag schon 2014 bei mehr als 50 % und steigt stetig. In Küstenregionen und Metropolen ist die Vernetzung bereits auf dem Niveau westlicher Industrieländer. 92,5 % der chinesischen Netizens (Netzbürger) nutzen das mobile Internet. Über WeChat ist das mobile Internet zu einem wesentlichen Bestandteil des Alltags geworden; Kommunikation, Einkäufe oder Bezahlungen – alles wird online über das Smartphone abgewickelt.

Diese rasante Digitalisierung dient als wirtschaftliches Standbein und gesellschaftlicher Machtfaktor. Viele Menschen in China versprechen sich von dem technischen Fortschritt eine bessere Zukunft mit weniger Armut, Ungerechtigkeit und Konflikten.

Angestoßen wurden die Gesetze durch Präsident Xi Jinping persönlich. Das aus der Überwachung resultierende Sozialkreditsystem wird stetig ausgebaut – seine Fertigstellung ist für das Jahr 2020 geplant. Zurzeit wird von ca. 40 Pilotprojekten in Lokalregierungen gesprochen. Neben schwarzen und roten Listen, die die Bürger positiv oder negativ platzieren, gibt es den Score, der bis zu 1.300 Punkte erreichen kann mit der Klassifizierung „AAA-Bürger“. Wer so weit oben im Ranking liegt, der profitiert. Fällt der eigene Score jedoch unter 600 Punkte (Kategorie „D“), können Restriktionen sowie der mögliche Ausschluss aus der Gesellschaft (verbunden mit sozialem Abstieg) die Folge sein.

Am bekanntesten sind in Europa wohl die „intelligenten und lernfähigen“ Überwachungssysteme an Straßenkreuzungen, die Bürgerinnen und Bürger öffentlich an den Pranger stellen und Fehlverhalten auf großen Bildschirmen in unmittelbarer Nähe übertragen – oftmals mit vollem Namen und Großaufnahme des Gesichts. Die Analyse zur eigenen Person wird gespeichert und an Rechenzentren weitergeleitet.

Weniger bekannt ist, dass diese Kameras ihren Weg auch in das Klassenzimmer gefunden haben. Hier bekommen Lehrerinnen und Lehrer in Echtzeit Mitteilungen, sobald Unaufmerksamkeit oder Fehlverhalten von Schülerinnen und Schülern aufgenommen wird. Offiziell heißt es, dies sei dafür da, die Lehre zu verbessern, inoffiziell klingt es eher danach, als sei George Orwells 1984 zwar aus dem Lehrplan verbannt worden, seine Ideen aber mehr als bloße Inspiration gewesen.2

Bei dieser flächendeckenden Bürgerbespitzelung sind nicht nur Regierungsabteilungen involviert, auch die freie Wirtschaft beteiligt sich am Ausbau. So liefern u.a. große Internetfirmen wie Tencent, Alibaba und WeChat ihre Daten an die Regierung und kooperieren in der Überwachung und Aufklärung von „staatsfeindlichem Verhalten“ seitens der Bürger.
 

Akzeptanz in der Bevölkerung

Einerseits ist dieses Gebaren für Europäer beängstigend und stößt bei vielen auf vehementen Widerstand. Andererseits haben Befragungen unter der chinesischen Bevölkerung eine hohe Akzeptanz, ja sogar Zustimmung zu diesem Sozialkreditsystem offengelegt. Dies zeigt eine Studie der Freien Universität Berlin, die zwischen Februar und April 2018 durchgeführt wurde. Unter Leitung der Politologin Prof. Dr. Genia Kostka wurden 2.200 Internetnutzerinnen und ‑nutzer befragt. Dabei stellte sich heraus, dass 80 % der Befragten freiwillig an dem kommerziellen Sozialkreditsystem teilnehmen. Je älter und gebildeter die Befragten und je höher ihr Einkommen, desto größer war deren Zustimmung zu dem neuen Überwachungssystem. Außerdem ist die Zustimmung in der Stadt größer als auf dem Land.
 

Für viele ergibt sich ein Vorteil bei der Nutzung von Sharingdiensten. Aufgrund guter Bewertungen müssen beim Auto- oder Fahrradverleih keine Kautionen mehr gezahlt werden. Bessere Bankkonditionen oder die Bevorzugung beim Checkin sind weitere Komponenten, die einigen vielversprechend erscheinen. Die Studie verdeutlicht darüber hinaus, dass sich das Verhalten der Befragten je nach Sozialkredit-Bewertung z.T. beginnt zu verändern. Interessanterweise wird dennoch das Kreditsystem weniger als Überwachung, sondern eher als Verbesserung der Lebensqualität und des Staates wahrgenommen. Da das Rechtssystem sowie der Bankensektor in China unterentwickelt sind, fehlt ein einheitliches Kreditauskunftssystem und die Umsetzung vieler Gesetze ist problematisch. Das Problem der Datensammlung rückt damit für viele Chinesen in den Hintergrund. An erster Stelle steht der Wunsch nach Sicherheit und Ordnung.3

Anmerkungen:

1) Kritische Infrastrukturen (KRITIS) sind Organisationen oder Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden.

2) Vgl.: Radunski, M.: Du hast gerade das Gesetz gebrochen. In: fluter – Magazin der bpb, Ausgabe 68, Thema: Daten, Herbst 2018, S. 16 – 18

3) Fakten zur Methodik der Studie: Mit der Methode des River Sampling erreichte die Umfrage mehr als 350.000 Menschen, an der sich 2.209 chinesische Bürgerinnen und Bürger beteiligten. Die Onlinebefragung wurde zwischen Februar und April 2018 über Apps, mobile Websites und Desktops durchgeführt. Damit ist sie repräsentativ für die chinesischen Internetnutzerinnen und -nutzer zwischen 14 und 65 Jahren (basierend auf den Variablen Alter, Geschlecht und Region). Natürlich muss beachtet werden, dass bei der Onlinestudie auch Druck von außen einwirkt und die Sorge über mögliche Konsequenzen bei der Formulierung von etwas Regierungsfeindlichem unter den Befragten bestehen kann.
 

Quellen:

Lu, FrankaIm Gehen, beim Essen, mitten im Gespräch, nach dem Sex. In: Zeit Online, 14.12.2018 (letzter Zugriff: 28.01.2019)

China: Die Welt des Xi Jinping. In: Youtube-Kanal Arte.de, 13.12.2018 (letzter Zugriff: 28.01.2019)

Sozialkredit-System. In: Wikipedia.org (letzter Zugriff: 28.01.2019)

Lee, Felix: Die AAA Bürger. In: Zeit Online, 30.11.2017 (letzter Zugriff: 28.01.2019)

Lee, Felix: Im Reich der überwachten SchritteIn: taz online, 10.02.2018 (letzter Zugriff: 28.01.2019)

Studie: Mehr als zwei Drittel der Chinesen bewerten Sozialkreditsysteme in ihrem Land positiv. In: Freie Universität Berlin, 23.07.2018 (letzter Zugriff: 28.01.2019)

Tabea Dunemann ist Redaktionsmitglied der tv diskurs. Sie studierte Theaterwissenschaften und Ethnologie in Leipzig.

Elisa Hoth studiert Medien- und Kommunikationswissenschaften sowie Erziehungswissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.